Buchtipps für Weihnachten 2020 – Die Flugbegleiter schenken Inspiration

Für alle, die Natur lieben

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
13 Minuten
Ein Rotkehlchen sitzt im Schnee

In diesem Jahr war es für viele Menschen vermutlich wichtiger denn je, möglichst oft draußen in der Natur unterwegs zu sein. Und die eine oder der andere wird dabei in der eigenen Umgebung noch bislang unbekannte Waldwege und grüne Inseln entdeckt haben. Aber viele Pläne fielen auch ins Wasser, manche geplante Reise fand nur in Gedanken statt. Wie gut, dass wir Menschen in der Lage sind, in Erinnerungen zu schwelgen.

Hoffentlich bietet das diesjährige Weihnachtsfest trotz aller Vorsichtsmaßnahmen die Chance, das auch gemeinsam zu tun. Dabei können selbst gemachte Geschenke helfen. Wie lange hat man die alten Fotos vergangener Reisen und gemeinsamer Naturabenteuer nicht mehr angeschaut? Dias und Negative digitalisieren (und im Notfall auch farblich restaurieren) zu lassen, kostet nicht mehr die Welt. Wie wäre es mit einem selbst gemachten Nostalgie-Kalender mit alten Fotos? Darüber hinaus haben wir Flugbegleiter aber auch 2020 wieder Anregungen zum Verschenken oder zum sich selbst beschenken.

Frau in Hängematte hält das Buch „Die Flugbegleiter“ in den Händen.
Besonderer Geschenktipp zum Schmökern in diesem Jahr: Unser erstes Buch mit Flugbegleiter-Texten und Reportagen.

Unser ganz persönlicher Tipp: Das „Flugbegleiter“ Buch

Bald werden wir die 400 knacken. Knapp 400 Texte sind bisher in unserem Online-Naturmagazin erschienen – Reportagen, Kommentare und Interviews über Vögel, Natur und über die Menschen, die beides beobachten, erforschen und schützen. Wir haben etwa über die Empathie von Raben berichtet, über das Abenteuer des Wartens auf Mauerläufer, über Rettungsflöße für Trauerseeschwalben, Zugvogelbeobachtung aus dem Weltall und vieles mehr. Eine Auswahl unserer Texte kann man jetzt auf dem guten alten Medium Papier nachlesen, in einem Sammelband, den Christian Schwägerl herausgegeben hat. Wir verfolgen mit diesem Buch, das geben wir offen zu, natürlich einen raffiniert ausgetüftelten Plan: nämlich, noch mehr Leserinnen und Leser für unsere Themen zu begeistern. Wenn Sie diesen Plan unterstützen wollen: Verschenken Sie unser Buch gern an begeisterungsfähige Mitmenschen!

Die Flugbegleiter, Herausgegeben von Christian Schwägerl, illustriert von Paschalis Dougalis, Kosmos Verlag, 300 S., 20 Euro

In Ihrer Buchhandlung oder auch direkt beim Kosmos-Verlag bestellbar.

Bildband „Aves“ – Tipp von Claudia Ruby

Vogelmenschen werden in dem Bildband wie in einem Familienalbum blättern. Über 60 Spezies hat der Fotograf Tom Krausz darin versammelt. Die Portraitaufnahmen sind in schwarz-weiß gehalten und entwickeln gerade dadurch eine besondere Eindringlichkeit. „Noch nie habe ich in so viele faszinierende Vogelgesichter geblickt wie in diesem Buch“, schreibt die Journalistin und Schriftstellerin Elke Heidenreich in der Einleitung – und genauso ist es. Wer den Vögeln ins Auge blickt, kann sich der Vermenschlichung kaum entziehen. Die Charakterköpfe zeigen „Rechtsanwälte, Mafiosi, Hausfrauen, Charmeure, Betrüger und Naive – wie im richtigen (Menschen-)Leben“, so Heidenreich.

Wie im Familienalbum gibt es Portraits von nahen Angehörigen, die man regelmäßig trifft: etwa Blaumeise oder Elster, Rabenkrähe oder Stadttaube. Elke Heidenreich schreibt über die Tauben, die sie als Kind im Ruhrgebiet kennenlernte, über den schwindenden Lebensraum für viele Vögel und die beeindruckende Intelligenz der Rabenvögel. Es geht um Aberglauben und Sagen, um Opern und Gedichte, in denen Vögel vorkommen.

Buchcover des Bildbandes „Aves“
Über 60 Vogelarten hat der Fotograf Tom Krausz in seinem Bildband versammelt.

„Schau mir in die Augen“

Neben den Spezies aus der Nachbarschaft versammeln sich inAves die Portraits von zahlreichen weitgereisten Verwandten: Familienmitglieder, die man aus Erzählungen kennt, denen man aber noch nie persönlich begegnet ist: der Riesentukan etwa, der Nimmersatt oder die Harpyie. Beim Kea erzählt Heidenreich über die neuseeländische Heimat des Vogels; der Helmhokko bringt sie zum Philosophieren. In dem kurzen Text geht es um Hegel, Marx – und Hühner. Denn auch wenn man es auf den ersten Blick nicht vermutet, der Helmhokko gehört zur Ordnung der Hühnervögel. Der Schweizer Journalist und Feldornithologe Urs Heinz Aerni berichtet in der Ich-Form über das Leben der Taubenhalsamazone und erzählt die Entdeckungsgeschichte des madagassischen Mähnenibis. Jeder Charakterkopf und jeder Text nimmt die LeserInnen mit auf eine Reise mit unbekanntem Ziel – man braucht nur etwas Muße, um sich darauf einzulassen.

Das ungewöhnliche Buch ist der jahrzehntelangen Freundschaft zwischen Elke Heidenreich und dem Fotografen Tom Krausz zu verdanken – und seiner Faszination für Vogelgesichter. Einige Portraits sind im Freiland entstanden, entweder auf Reisen oder im heimischen Garten. Die meisten „Charakterköpfe“ aber, vor allem die exotischen Arten, hat Krausz im Weltvogelpark Walsrode und im Vogelpark Niendorf an der Ostsee fotografiert. „Für die meisten Vögel, die mithilfe ihrer außergewöhnlichen Sehkraft leben und überleben, war ich genauso im Fokus wie sie für mich“, schreibt er.

Entstanden ist ein faszinierender Bildband, kein zoologisches Fachbuch. Zwar gibt es zu jeder Spezies eine Art Steckbrief mit den wichtigsten Informationen: Merkmale, Vorkommen, Lebensweise und Status. Ornithologen aber, die auf der Suche nach tiefgehenden Informationen zu Verhalten und Biologie der Spezies sind, werden eher enttäuscht. Stattdessen können sie „alte Bekannte“ auf eine neue Weise kennenlernen: in ungewöhnlichen Bildern und Texten. Diese Kombination macht „Aves“ zu einem passenden Weihnachtsgeschenk: nicht nur für Ornithologen.

„Aves – Vögel – Charakterköpfe“ mit Fotografien von Tom Krausz und Texten von Elke Heidenreich und Urs Heinz Aerni; Verlag Dölling und Galitz 2020, 176 Seiten, 32 Euro

Der Europäische Brutvogelatlas – Tipp von Thomas Krumenacker

Frage: Was kommt dabei heraus, wenn mehr als 120.000 Menschen ausschwärmen, ihre Vogelbeobachtungen aufschreiben, die sie auf einer Fläche von atemberaubenden elf Millionen Quadratkilometern in ganz Europa zusammentragen – und wenn ein kleines, feines Team von Expertinnen und Experten diesen Datenschatz aufarbeitet?

Antwort: Der EBBA2 – die zweite Auflage des Europäischen Brutvogelatlas’. Mehr als 20 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten European Breeding Bird Atlas (EBBA1) ist das soeben bei Lynx erschienene Buch die aktuellste Informationsquelle über Verbreitung, Häufigkeit und Veränderungen der Vögel Europas, die es gibt. Die Veröffentlichung des fast 1000 Seiten starken Buches ist ein Meilenstein in der Ornithologie. Nie wussten wir mehr über die aktuelle Verbreitung unserer Vögel in Europa als mit diesem Mammutwerk.

Cover des „European Breeding Bird Atlas 2“
Gemeinschaftswerk: Mehr als 120.000 Menschen haben Daten für die neue Auflage des Europäischen Brutvogelatlas' gesammelt.

Insgesamt haben nationale Partner aus 48 Ländern bei der gigantischen Datensammlung mitgemacht. Für Deutschland hat der Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA) die Daten zusammengetragen. Unter anderem sind die Beobachtungen aus dem Ornitho-Portal eingeflossen, sodass jede und jeder Birdwatcherïn, der/die dort meldet, einen Beitrag zu diesem Werk geleistet hat.

Gebiete von den Azoren im Westen bis zum Ural im Osten wurden während der fünfjährigen Kartierungsperiode zwischen 2013 und 2017 durchforstet. Damit ist EBBA2 eines der größten bürgerwissenschaftlichen Projekte zur biologischen Vielfalt überhaupt.

Zeichnung eines Seeadlers aus dem neuen Europäischen Brutvogelatlas.

In dem wunderschön von zahlreichen Künstlern illustrierten Werk sind Informationen zu allen 596 Arten enthalten, die aktuell in Europa brüten. Die allermeisten werden mit einem ausführlichen Artkapitel behandelt, mit Angaben zu Status, Verbreitung, Populationsentwicklung, Siedlungsdichte und Zug. Für jede Art ist die Verbreitung auf 50×50 km-Rastern, für viele noch detaillierter mit einer Auflösung von 10×10 km angegeben. Erstmals ist der gesamte europäische Teil Russlands vollständig untersucht worden, bisher weitgehend Terra incognita.

Besonders wertvoll sind die Veränderungskarten für die Teile Europas, die schon für den ersten Atlas untersucht wurden. Daraus ergeben sich wichtige Hinweise beispielsweise auf die Auswirkungen von Klimawandel und veränderter Landnutzung auf dem Kontinent in den vergangenen 30 Jahren auf die Vogelwelt – die im ersten Atlas verwendeten Daten stammen aus den 1990er Jahren – auf die Vogelwelt. So lässt sich eine durchschnittliche Nordwanderung der meisten Arten um etwa einen Kilometer pro Jahr ablesen. Der Atlas ist ein Datenschatz, an dessen vollständige Hebung sich nun Wissenschaftler aus ganz Europa machen werden.

Für gut angelegte 90 Euro kann jeder und jede daran teilhaben. Offenbar wegen großer Nachfrage kann das Buch allerdings erst ab Mitte Januar 2021 wieder bestellt werden. Aus meiner Sicht ein echtes nachträgliches Weihnachts-Geschenk, auf das zu warten sich lohnt.

European Breeding Bird Atlas 2: Distribution, Abundance and Change. Verena Keller, Sergi Herrando u.a., Lynx, Barcelona. 90 Euro.

Wilder Wald – Tipp von Anne Preger

Der Nationalpark Bayerischer Wald hat im Oktober 2020 seinen 50. Geburtstag gefeiert. Ihm hat die Autorin Alexandra von Poschinger ein besonderes Buch gewidmet. „Wilder Wald – Europas Pionier für die Wälder der Zukunft“ hat das Format eines Bildbandes, und wie erwartet kann man in die Fotos vom Wald und seinen wilden Bewohnern beim Blättern förmlich eintauchen. Die meisten Fotos hat Rainer Simonis aufgenommen, über 24 Jahre Förster im Nationalpark und wohl einer seiner besten Kenner.

Montage: Links: Titelbild des Buchs „Wilder Wald“ aus dem Knesebeck-Verlag. Rechts: Autorin Alexandra von Ploschinger im Wald.
Zum 50. Jubiläum widmet sich Autorin Alexandra von Ploschinger Deutschlands ältestem Nationalpark im Bayerischen Wald.

Der Bildband ist kein klassischer Nationalpark-Führer – das deutet schon der Titel an. Alexandra von Poschinger nähert sich dem Schutzgebiet in der größten Waldlandschaft Mitteleuropas nicht, indem sie die verschiedenen Regionen und Lebensräume beschreibt. Stattdessen taucht sie in kurzen Kapiteln in die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft des Waldes ein.

Ein Habichtskauz im Landeanflug auf den Waldboden.
Eine Erfolgsgeschichte aus dem Bayerischen Wald: Der Habichtskauz wurde wieder angesiedelt.

Kapitel über Pilze, Habichtskauze, Auerhühne, Luchse und Moore vermitteln, welchen Naturkostbarkeiten der Nationalpark Raum bietet. Auch die Kontroversen um den Umgang mit von Borkenkäfern befallenen Fichten wird abgebildet. In Interviews kommen Prominente, Umweltschützer und Wissenschaftler zu Wort, ebenso Waldbesitzerïnnen wie etwa Gloria von Thurn und Taxis. Naturschützer Hubert Weinzierl berichtet von seiner Pionierleistung bei der Einrichtung des erstens Nationalparks der Bundesrepublik. Für den Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber ist der Park ein riesiges Freiluftlabor, in dem sich die Folgen des Klimawandels und die Reaktion der Natur darauf beobachten lassen.

Alexandra von Poschinger bemüht sich, viele Perspektiven auf den Bayerischen Wald, aber auch auf Naturschutz und den Umgang mit Wäldern grundsätzlich abzubilden. Eine Buch-Empfehlung für Menschen, die gerne hinter die Kulissen des Nationalparks Bayerischer Wald schauen wollen, egal ob man schon mal dort war oder es in Zukunft vorhat.

Alexandra von Poschinger: Wilder Wald – Europas Pionier für die Wälder der Zukunft, mit Fotos von Rainer Simonis, Knesebeck Verlag, 224 Seiten, 40 €

Bildband „Observing Eye“ – Tipp von Markus Hofmann

Bevor diese Vögel wieder ihres Weges ziehen dürfen, müssen sie noch etwas ausharren und zu Kunst werden. Gerade sind sie Vogelforschenden in die Netze gegangen, gemessen und beringt worden. Nun übernimmt sie die finnische Fotografin Sanna Kannisto und entlässt sie in ihr etwas mehr als ein Kubikmeter grosses, mobiles Fotostudio. Darin können die Vögel vor weissem Hintergrund etwas zur Ruhe kommen.

Dann setzen sich die Vögel vielleicht auf einen Zweig, den die Fotografin ins kleine Studio gestellt hat, oder sie flattern noch etwas herum. Jetzt kommt der Moment von Kannisto: Sie schiesst Porträts von Schilfrohrsänger, Rotkehlchen, Grünfink, Tangare, Kohlmeise, Baumpieper, Rubinkehlchen, Grünfischer oder Dickschnabelspötter.

Wüsste man nicht, dass Kannisto mit lebenden Vögeln arbeitet, könnte man auf den ersten Blick meinen, sie habe Vogelpräparate in Naturmuseen fotografiert. Vor dem reinweissen Hintergrund wirken die Vögel wie wissenschaftliche Objekte, die dem sezierenden Blicken der Forscherinnen ausgesetzt sind. Gleichzeitig erinnern die Fotografien an Vogel-Stillleben aus dem 17. Jahrhundert.

Montage: Links: Eine südamerikanische Tangare sitzt auf einem künstlichen blühenden Zweig. Rechts: Cover des Buchs Observing Eye mit einem Foto eines Rotkehlchens.
Sanna Kannisto reist für ihre Bilder rund um die Welt, auch nach Südamerika, wo diese Tangare vorkommt. Die Fotografin nimmt die Wildvögel draussen in der Natur auf, in einem mobilen Fotostudio.

Hier werden Vögel zu Schauspielern

Der äusserst präzise Blick auf die Vögel sowie die künstlerische Gestaltung machen den Reiz dieser gestochen scharfen Fotografien von Kannisto aus. „Oberserving Eye“ („Beobachtendes Auge“) heisst denn auch der soeben erschiene Bildband. Der Titel ist durchaus zweideutig: Nicht nur beobachtet die Fotografin die Vögel, auch die Vögel haben die Fotografin und damit auch die Betrachtenden der Bilder genau im Auge.

Seit Jahren zieht die 1974 geborene Finnin mit ihren Kameras von einer ornithologischen Forschungsstation zur anderen: von Finnland, nach Italien, Russland, Südamerika und wieder zurück nach Finnland. Auf den Stationen hilft sie Forschenden bei der Arbeit und baut ihr mobiles Studio auf, um ihrer Fotokunst nachzugehen. Die Verbindung von Wissenschaft und Kunst macht sie in ihren Bildern immer wieder explizit. Die Äste, auf denen sich die Vögel niederlassen, stellt Kannisto in ausgediente Bunsenbrenner oder macht sie an Gestängen und Klammern fest, die aus dem Labor stammen.

Auf manchen Bildern begrenzen schwarze Vorhänge die Bilder seitlich, so dass die Vögel wie Schauspieler auf einer Bühne erscheinen. Auf dieser haben sie einen kurzen Auftritt, um dem Publikum ihre Schönheit zu präsentieren, bevor sie, von der Fotografin befreit, wieder das Weite suchen.

Sanna Kanisto: Observing Eye. Mit einem englischen Text von Barbara Hofmann-Johnson. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2020. 76, Bilder, 144 Seiten. 40 Euro.

Die Triple-Krise – Tipp von Joachim Budde

Geschenke gehören zu Nikolaus und Weihnachten einfach dazu. Darum passt auch Josef Setteles neues Buch zum Fest. Denn in Die Triple-Krise: Artensterben, Klimawandel, Pandemien. Warum wir dringend handeln müssen“ geht es um die Geschenke der Natur. Das ist alles nicht neu, aber dieses verrückte Jahr 2020 hat uns mit der Corona-Krise vor Augen geführt, was die Konsequenzen unserer Lebensweise sind. Josef Settele hat wegen Corona sogar sein Buch umgeschrieben:

„Mein Buch sollte ursprünglich ‚Bevor der letzte Schmetterling stirbt‘ heißen und sich ‚nur‘ mit dem Rückgang der Insekten befassen. Doch dann kam die Corona-Pandemie. Mir wurde klar, dass der Ansatz jetzt zu kurz greifen würde, der Klimawandel, das Artensterben und die wachsende Gefahr durch Zoonosen in größerem Zusammenhang geschildert werden müsse.“
Montage: Links: Buchcover „Die Triple Krise“, rechts: Foto des Autors Josef Settele
Der Ökologe Josef Settele hat wegen Corona sein Buch umgeschrieben.

Wie dieser Zusammenhang aussieht, das beschreibt Josef Settele sehr eindrücklich. Und der Professor für Ökologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle an der Saale weiß, wovon er spricht. Der Insektenexperte hat selbst dazu geforscht und ist zudem einer der Vorsitzenden des Globalen Berichts des Weltrats für Biodiversität (ipbes). Für dieses Dokument haben Forscherinnen und Forscher zehntausende Studien ausgewertet. Für Settele hat sich bei dieser Arbeit gezeigt, dass wir Menschen die Natur in gleich mehrere Teufelskreise geführt haben. Immer wieder hat er darüber gesprochen.

Für den Insektenexperten steht das Insektensterben zunächst an vorderster Stelle. Settele zeigt, dass zahlreiche Forschergruppen seit Erscheinen der Krefelder Studie zum Insektensterben den Verlust an Artenvielfalt, aber auch an schierer Insektenmenge bestätigt haben. Ein Grund dafür: Der Einsatz von Gift. Die intensive Landwirtschaft ist vermeintlich darauf angewiesen, aber auch Hobbygärtner gehen allzu leichtfertig damit um. Dabei hält Settele den Landwirten zugute, dass sie die Natur, in der sie täglich arbeiten, gut kennen und viele sie eigentlich schützen wollen. Doch die verfehlte Förderpolitik zum Beispiel der EU macht es ihnen fast unmöglich – und setzt einen Teufelskreis in Gang:

„Äcker werden mit Pestiziden gegen Insektenschädlinge bearbeitet. Das tötet auch die natürlichen Fressfeinde der tierischen Ernteräuber. Meistens erholen sich die Schädlinge sehr schnell – auf alle Fälle schneller als die Nützlinge, weshalb sie das Feld nach recht kurzer Zeit zunächst stärker dominieren als zuvor. Dagegen – glaubt man – helfen wiederum nur noch mehr oder neue Pflanzenschutzmittel. Für diesen tödlichen Kreislauf gibt es eine Bezeichnung: ökologischer Wahnsinn.“

Ein Teufelskreis, den wir dadurch verstärken, dass wir immer mehr Lebensräume zerstören. Das beschleunigt das Artensterben, außerdem finden Schädlinge gute Bedingungen, wenn der Mensch einen Regenwald durch riesige Felder mit einer einzigen Feldfrucht ersetzt – siehe oben. Doch das nützt nicht nur Maiswurzelbohrern, Reiskäfern und Fruchtfliegen. Andere Profiteure schaffen neue Probleme:

„Mit Zunahme der Populationsdichte einer bestimmten Tierart […] erhöht sich das Übertragungsrisiko der Erreger, die diese Tierart in sich trägt, es kommt zu höheren Infektionsraten untereinander.“

Und damit wächst die Gefahr, dass so ein Erreger auf den Menschen überspringt. Auch Corona sehen Fachleute als direkte Folge menschlichen Handelns. Dass Krankheiten von Tieren auf den Menschen überspringen, ist gar keine Seltenheit. Jedes Jahr sterben mehr als 700.000 Menschen daran, schreibt Settele.

„Seit Jahrhunderten ist es so: Die Natur gibt, die Natur nimmt. Sowohl die meisten Infektionskrankheiten als auch die Basis für Arzneimittel und Antibiotika sind natürlichen Ursprungs. Doch Geben und Nehmen halten sich nicht mehr die Waage.“


Der Teufelskreis aller Teufelskreise

Den Klimawandel nennt Settele den „Teufelskreis aller Teufelskreise“. Denn wenn Permafrostböden auftauen, wenn Menschen Feuchtgebiete trockenlegen – eigentlich müssten sie zur kritischen Infrastruktur zählen – beschleunigt der Klimawandel das Artensterben, die Entstehung neuer Krankheitserreger – und sich selbst:

„Die zerstörten Ökosysteme sind immer weniger in der Lage, Kohlendioxid zu speichern, was die Erderwärmung antreibt. […] Verschwinden bestimmte Arten […], die in tropischen Gegenden dafür sorgen, dass Pollen von Bäumen und anderen CO2-bindenden Pflanzen verteilt werden, verkümmern die Regenwälder, übrigens auch genetisch. Die zunehmenden Hitzewellen, gekoppelt mit geringeren Niederschlägen, tragen maßgeblich zu Waldbränden bei, bei denen zig Millionen Tonnen Kohlendioxid freigesetzt werden. Und so weiter und so fort.“

Es macht nicht immer Spaß, Josef Setteles Buch zu lesen. Besonders weil er zuweilen krasse Bilder der Zukunft malt. Doch es zeichnet „Die Triple-Krise“ aus, dass der Autor viele Stimmen zu Wort kommen lässt – vom Chemieriesen Bayer bis zum Bauernverband – und auch auf kritische Studien eingeht. Das Buch ist ein top-aktueller, umfassender Warnruf.

Zugleich preist Settele den Wert und die Schönheit der Natur und ihrer Geschenke, die Faszination für das Leben auf diesem Planeten und zeigt Wege, all das zu erhalten, also wie wir die katastrophale Zukunft noch verhindern können.

„An die Apokalypse glaube ich nicht. Es geht nicht um die Rettung der Welt, aber sehr wohl um die Bewahrung der Ökosysteme: Hochgebirge, Feuchtgebiete, Moore, Meere, Seen, Teiche, Bäche, Flüsse und Wälder, aber auch Kulturlandschaften. In Deutschland und im Rest der Erde.“

Das Bewusstsein zum Beispiel in Deutschland ist da. Jetzt muss daraus dringend Handeln werden.

Josef Settele: „Die Triple-Krise. Artensterben, Klimawandel, Pandemien. Warum wir dringend handeln müssen“, Verlag Edel-Books, 320 Seiten, 22,95 Euro; E-Buch 17,99 Euro.

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