Götterbote, Wotansvogel, Totenvogel

Der Kolkrabe fasziniert viele Menschen

von Carl-Albrecht von Treuenfels
4 Minuten
Eine Kolkrabe von Nahem.

Wer im Vorfrühling einen großen schwarzen Vogel mit einem Ei im Schnabel erblickt, muß nicht gleich befürchten, dass der Osterhase ausgedient hat. Der Kolkrabe, der so vorsichtig die zerbrechliche Beute in seinem Schnabel hält und sie nach dem Auffliegen auch noch über eine weite Strecke unversehrt durch die Luft zu tragen versteht, denkt nur an sich und allenfalls an seine Jungen im Nest. Für sie müssen die größten Angehörigen der Familie der Rabenvögel, zu der auch die Krähen, Elstern und Eichelhäher gehören, bereits früh im Jahr sorgen.

Viele Kolkraben beginnen mit dem Eierlegen in der zweiten Februarhälfte, und die drei bis sechs Jungen schlüpfen nach einer Brutzeit von knapp drei Wochen im warm ausgepolsterten Horst auf einem hohen Baum, wenn es häufig noch frostig ist und schneit. Sechs Wochen werden sie von ihren Eltern, die in lebenslanger Ehe zusammenhalten, mit vielfältiger Kost gefüttert. Von Mitte April an fliegen die ersten Jungraben aus und bleiben dann noch mindestens zwei Monate im Familienverband. In dieser Zeit lernen sie von den Eltern, wie und wo Nahrung zu finden ist.

Als Allesfresser leben sie sowohl vegetarisch als auch von tierischer Beute. Da im Frühjahr die anderen Vögel ebenfalls brüten, spähen die Raben auf ihren Beutezügen manches Gelege aus und holen dann nacheinander alle Eier aus dem Nest einer Stockente, eines Rebhuhns, aber auch einer Rabenkrähe.

Ein Kolkrabe sitzt auf einem Stein mit offenem Schnabel, er hat im Moment der Aufnahme wohl gerufen.
Im Umgang mit Eiern erweist er Feingefühl: der Kolkrabe.

Unbestritten ist indes, dass sich die großen Vögel wochenlang ausschließlich von pflanzlicher Kost ernähren. Aber auch das gefällt nicht jedem Landbesitzer. Wenn sich im Sommer größere Scharen von Jungvögeln auf regionale Wanderschaft begeben, können sie in Erdbeerplantagen oder auf Getreidefeldern für Ernteausfälle sorgen. Und da sich die Kolkraben in den vergangenen 50 Jahren von geringen Restpopulationen in Bayern und Schleswig-Holstein wieder zu einem stattlichen Bestand in ganz Deutschland entwickelt haben, können sie im Spätsommer und Herbst mancherorts in Schwärmen von hundert und mehr Vögeln auftauchen, nicht selten auch an Müllkippen.

Atemberaubende Flugfertigkeit mit akrobatischen Kapriolen

Kolkraben sind nicht nur die größten, sondern auch die schlauesten und gelehrigsten Singvögel. Am zuerst genannten Tatbestand gibt es spätestens seit dem schwedischen Arzt und Naturforscher Carl von Linné (1707 bis 1778) keinen Zweifel, der die bis heute gültige zoologische Systematik geschaffen hat. Dafür, dass Corvus corax in der Familie der gewitzten Rabenvögel die intelligentesten sind, können all diejenigen Beispiele anführen, die sich mit den Tieren näher beschäftigt haben – vom Hobby-Ornithologen über Konrad Lorenz bis zu dem amerikanischen Zoologieprofessor Bernd Heinrich („Die Seele der Raben“), der sich seit fast zwanzig Jahren mit den Tieren in freier Wildbahn beschäftigt und viele überraschende Erkenntnisse zum außergewöhnlichen Sozialverhalten der Raben gewonnen hat.

Viele Menschen kennen „ihren“ Raben in der Flugvoliere eines Tiergartens von Angesicht zu Angesicht. Was noch wichtiger ist: Der Rabe erkennt auch den Besucher, wenn der sich mit ihm beschäftigt hat oder ihm durch Leckerbissen vertraut geworden ist. Vogelfreunde wissen von intensiven Unterhaltungen mit Raben zu berichten. Da verwundert es nicht, dass der Kolkrabe, der allein schon durch sein riesiges Verbreitungsgebiet über die gesamte nördliche Erdhalbkugel eine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit beweist, zu allen Zeiten in der Geschichte und in den Geschichten der Menschen eine große Bedeutung gespielt hat.

Götterbote, Wotansvogel und Totenvogel, der sich in der Nähe der Galgen herumtrieb, sind dabei nur drei von vielen Rollen. Die liebste Rolle aber spielt der Kolkrabe als frei fliegender Vogel am Himmel: Dort kann er – heiser „kra kra kra“, „rapp rapp rapp“ oder „rrok rrok rrok“ rufend – seine atemberaubende Flugfertigkeit mit akrobatischen Kapriolen beweisen. Und manchmal, nicht nur zu Ostern, hat er dabei sogar ein Ei im Schnabel.