Natur und Klima: „Wir können nicht darauf warten, dass die Politik handelt“

Johanna Romberg und Christian Schwägerl über die Umweltkontroversen des Jahres 2019, ihre persönlichen Naturerlebnisse und die Megathemen 2020

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
19 Minuten
Rund ein Dutzend Kraniche fliegt vor einem Windpark vorbei; im Hintergrund die Abendsonne

Johanna Romberg und Christian Schwägerl arbeiten seit Jahrzehnten als Umweltjournalisten. Sie als Autorin bei GEO, er als langjähriger Korrespondent von Medien wie FAZ und SPIEGEL und als freiberuflicher Journalist. Beide sind Buchautoren („Federnlesen“, „Menschenzeit"), beide passionierte Vogelbeobachter. Gemeinsam blicken die Flugbegleiter-Autoren im folgenden Dialog auf das Jahr 2019 zurück und auf 2020 voraus.

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Christian: Johanna, wir beide beobachten seit ziemlich vielen Jahren nicht nur Vögel, sondern vor allem auch, was mit der Natur passiert, was Regierungen für ihren Schutz machen und was nicht. War 2019 ein besonderes Jahr oder wieder mal ein verlorenes Jahr?

Johanna: Ich überlege gerade, welches der vergangenen zehn, zwanzig Jahre für die Natur kein verlorenes war. Spontan fällt mir keines ein. Und 2019 war in meiner Wahrnehmung ein besonders verlorenes. Ich nenne jetzt nur mal ein paar Stichworte, die zugehörigen Hiobsbotschaften kann sich jeder dazu denken: Amazonas-Waldbrände, australische Buschfeuer, Weiter-so in der EU-Agrarpolitik, der verheerende Bericht des Weltbiodiversitätsrats über das drohende Aussterben jeder achten Art, das mickrige Klimapaket der Bundesregierung, die schwache Nitratrichtlinie, die Entwicklung von Plastikverbrauch und Rekorde bei SUV-Zulassungen, dazu 9000 geplante Staudämme in Europa…Habe ich was Wesentliches vergessen? Bestimmt.

Christian: Wow, jetzt bin ich platt. Kein Lichtblick?

Johanna: Es gibt zum Glück auch ein Ereignis, das dieses Jahr für mich zu einem besonderen auch im positiven Sinne macht: Der Ausgang des Volksbegehrens Artenvielfalt in Bayern. Als ich die Bilder sah von den Schlangen vor den Rathäusern, da wurde mir zum ersten Mal bewusst: Wir sind nicht allein. NaturschützerInnen sind nicht diese kleine, etwas kauzige Randgruppe von Idealisten, als die sie viele lange wahrgenommen haben, sondern sie sind viele. WIR sind viele! Und wir können politisch etwas bewegen, wie die Reaktion der bayerischen Regierung gezeigt hat. Dass die Aktion in Bayern jetzt Schule macht, in Baden-Württemberg, Brandenburg und jetzt auch bei mir in Niedersachsen, das macht mir Hoffnung. Wenigstens ein bisschen.

Christian: 2019 war ja auch das Jahr, in dem Fridays for Future zur politischen Kraft wurde und Greta Thunberg zu einer der bekanntesten öffentlichen Personen. Und zudem endete das Jahr mit der Ankündigung des “Green New Deal” der Europäischen Union. Ist 2019 nicht am ehesten sehr positiv das Jahr, in dem Natur- und Umweltschutz endlich ins Zentrum politischer Auseinandersetzungen gerückt ist?

Johanna: Das schon, zumindest zeitweise. Aber ich kann noch nicht erkennen, dass die gestiegene Aufmerksamkeit für die Themen Klima und – mit erheblichem Abstand – Natur und Biodiversität sich in irgendeiner Weise politisch ausgewirkt hätte. Also nicht bloß in Form von Ankündigungen wie dem Green Deal – der bisher in puncto Naturschutz ohnehin eher pillepalle ist – oder Schaufenstermaßnahmen wie Strohhalm- und Plastiktütenverbot, sondern konkreten Veränderungen in der Gesetzgebung, beim Ordnungsrecht oder bei der Vergabe von Subventionen. Erkennst Du irgendeine Bewegung, außer in die übliche diametral falsche Richtung?

Christian: Ja, das Insektenschutzgesetz. Das ist eine echte Leistung des Bundesumweltministeriums. Auch wenn es so etwas schon vor zwanzig Jahren gebraucht hätte: Jetzt kommt ein Gesetz, das konkrete Maßnahmen erhält und die Forschung aufwertet. Auch wir Flugbegleiter haben ja immer wieder stark kritisiert, dass es kein einheitliches Biodiversitätsmonitoring gibt. Das kommt nun.

Zu sehen ist die Autorin Johanna Romberg. Auf dem Foto schirmt sie mit beiden Händen ihre Augen ab und blickt in die Ferne.
Johanna Romberg
Schwarz/weiß Portrait von Christian Schwägerl.
Christian Schwägerl

Johanna:Ja, toll. Dann werden wir in zehn Jahren bis auf zwei Kommastellen genau wissen, welche Schwebfliegenarten und wie viele Käferlein die regelmäßigen Pestizid- und Gülleduschen überlebt haben. Und künftige Umwelthistoriker werden exakt rekonstruieren können, in welchen Regionen Rebhuhn, Rotbauchunke und Wiesenknopf-Ameisenbläuling zuletzt ausgestorben sind. Sorry, ich werde sarkastisch.

Christian: Das kann ich verstehen. Aber Sarkasmus hilft ja auch nicht wirklich…

Johanna: Im Ernst: Natürlich ist Monitoring total wichtig und richtig; ich zähle ja selbst jedes Frühjahr brav meine Vögelchen. Aber wir wissen im Prinzip doch längst, was zu tun wäre. Genug jedenfalls, um konkrete Erste-Hilfe-Maßnahmen für Arten und Lebensräume umzusetzen. Im Insektenschutzpaket steht ja schon einiges drin, zum Beispiel, endlich, das Verbot von Pestiziden in Naturschutzgebieten. Aber die Frage ist, wie viel davon am Ende übrig bleibt, außer “mehr Forschung”. Was meinst Du, wird sich das Bundesumweltministerium gegen die Bauernproteste behaupten können?

„Die Politik ignoriert Fridays for Future“

Christian: Ich berichte seit 1995 über das Bundesumweltministerium, zeitweise sehr intensiv, als ich Parlamentskorrespondent von Berliner Zeitung und SPIEGEL war, und ich muss sagen, es ist mit dem politischen Einfluss dieses Hauses und vor allem mit den Zuständigkeiten stetig bergab gegangen. Statt es zum zentralen Ministerium für ökologische Transformation auszubauen und dem BMU zum Beispiel Verkehr und Landwirtschaft zuzuordnen, wurde es Schritt für Schritt verkleinert – so dass es heute eigentlich nur eine Art Bundes-Umweltappell-Ministerium mit nachgelagerten Behörden ist. Ich konnte 2019 auch nicht erkennen, dass das wesentlich besser wird, auch wenn dort engagierte und kundige Menschen arbeiten.

Johanna: Vielleicht wird es ja nächstes Jahr vorgezogene Neuwahlen geben….

Christian: Dann – oder eben für die nächste reguläre Wahl – ist die zentrale Frage, ob es ein Ministerium für ökologische Transformation gibt, das mit Macht, Mitteln und dem Recht zur Gesetzesinitiative ausgestattet ist und das die nötigen Veränderungen rasch umsetzt. Wir sehen ja, was passiert, wenn so eine Kraft fehlt. Verkehrspolitik wird für Autofahrer gemacht, Agrarpolitik für die, die an Massenproduktion verdienen und Energiepolitik für große Unternehmen. Nötig wäre ja eigentlich ein Bündnis von Landwirtschaft und Naturschutz ebenso wie von Naturschutz und Klimaschutz. Aber das wird es erst geben, wenn klar ist, dass Umweltziele im Zentrum der Strategie stehen. An dem politischen Grundproblem, dass Klima- und Naturschutz als lästige Zusatzaktivität statt als strategisches Kernziel gelten, hat nämlich bisher auch Fridays for Future nichts geändert.

Johanna: Ich habe bei aller Sympathie für die Bewegung bislang auch nicht den Eindruck, dass sie schon eine politische Kraft ist. Das große mediale Echo und die vielen Sympathiebekundungen täuschen darüber hinweg, dass Politik und Wirtschaft die vereinten Appelle von Jugend und Wissenschaft bislang schlicht ignorieren. Das scheinen die FFF’s auch selbst zu registrieren – erste Ermüdungserscheinungen sind ja schon sichtbar. Hoffentlich haben Greta & Co. einen ähnlich langen Atem wie NaturschützerInnen, die ja trotz chronischer Misserfolge trotzdem seit Jahrzehnten unverdrossen weitermachen. Sorry, ich werde schon wieder sarkastisch.

Christian: Das kann man schon werden. Zumal 2019 ja nicht nur eine neue Umweltbewegung ins Rampenlicht getreten ist, sondern auch eine sehr aggressive Anti-Umweltbewegung entstanden ist, die sich in den sogenannten sozialen Medien in Hasskommentaren auslebt. Hinzu kam ein wirklich brutaler Rückfall in die Denkweisen der 1980er Jahre. Immer wenn jemand mehr Klima- und Naturschutz forderte, sagte ein Politiker „Aber die Wirtschaft!”. Ich hätte echt gedacht, dass wir darüber schon hinaus sind. Glaubst Du, dass wir es noch rechtzeitig schaffen, solche Blockaden zu überwinden?

MdB und Vogelbeobachter? Melden Sie sich bitte!

Johanna: Die Frage ist, wen Dein „wir“ einschließt. An Dir und mir und den LeserInnen der Flugbegleiter wird die ökosoziale Transformation sicher nicht scheitern. Aber wenn ich mir diejenigen ansehe, die letztlich über ihre Umsetzung zu entscheiden haben, bin ich wenig hoffnungsvoll. Mir fällt unter den derzeit amtierenden PolitikerInnen kaum einer ein, der sich für die Themen Naturschutz und Biodiversität engagiert. Oder wenigstens erkennen lässt, dass er/sie ein Interesse, einen persönlichen Bezug zur lebendigen Natur hat. Die Bundestagsabgeordnete Steffi Lemke ist eine rühmliche Ausnahme, auch in ihrer Partei, denn ich rede hier nicht von Klima- sondern von Naturkompetenz. Renate Künast würde ich noch erwähnen, die sich für Urban Gardening engagiert. Aber sonst? Kennst Du Mandatsträger, die – zum Beispiel – Vögel beobachten?

Demonstranten der Bewegung „Fridays for Future“ ziehen am Brandenburger Tor vorbei. Sie halten Plakate hoch, auf denen unter anderem „Klima Fieber“ steht
Großdemonstration von Fridays for Future am 20.9.2019 in Berlin.

Christian: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat es ja kürzlich geschafft, einen Tweet über den deutschen Wald mit einem amerikanischen Helmspecht zu bebildern. Da weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Letztlich fehlt es mit ganz wenigen Ausnahmen querbeet allen Parteien an überzeugenden Politikern. Ich würde ja mal zu gerne bei einem Grünen-Parteitag abfragen, wer da die häufigsten Vogelarten kennt. Früher gab es bei der CSU im Bundestag Josef Göppel, der ein sehr engagierter Naturschützer war, er ist aber aus dem Bundestag ausgeschieden. Falls dies Abgeordnete lesen sollten, die jetzt denken „Aber es gibt doch mich!“, dann melden Sie sich bitte für einen unserer Vogelspaziergänge!

Johanna: Fledermausfreunde, Schmetterlingskundler und WildbienenexpertInnen begleiten wir natürlich auch gern. Weil wir uns im Prinzip für alles zuständig fühlen, was Flügel hat. Und generell für die seltene Spezies Politiker, die den Naturschutz ernst nehmen.

Christian: 2019 ist mir vollends aufgegangen, dass leider den meisten PolitikerInnen, selbst denen, die an Umweltfragen arbeiten, ein echtes Verständnis dafür fehlt, wie dringlich die Lage ist. Es dauert nur noch wenige Jahre, bis so viel CO2 in der Atmosphäre und im Meer gelandet ist, dass wir katastrophale Veränderungen kaum noch abwenden können. Und diese Veränderungen werden dann erstmal für Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende nicht mehr abzuschaffen sein, selbst wenn wir es wollen. Aber die meisten Politiker tun noch immer so, als ginge es um Fragen, die man in vier Jahren wieder per Parlamentsbeschluss ändern könnte. Wenn das so bleibt, wird es später viel Heulen und Zähneklappern geben. Hast Du eine Erklärung, warum das so schwer zu verstehen und zu verinnerlichen ist? Woran fehlt es da?

„An die Macht der Verbraucher glaube ich nur begrenzt.“

Johanna: Ich glaube, Deine Frage geht von einer idealistischen Vorstellung aus: Dass Politiker Entscheidungen auf Basis von Sachargumenten und wissenschaftlicher Erkenntnis fällen, und dass man ihnen diese nur ausreichend nahe bringen muss, damit sie von sich aus das Richtige tun. Das war, glaube ich, noch nie so und ist es auch heute nicht. Auch in der parlamentarischen Demokratie spiegeln, wie Du ja oben schon angedeutet hast, politische Entscheidungen zuallererst Machtverhältnisse wider, vor allem natürlich wirtschaftliche. Die deutschen Schlüsselindustrien – Autos, Maschinenbau, Agrarchemie, Energieerzeugung, in puncto Versorgungssicherheit auch Landwirtschaft – haben kein originäres Interesse an Klimaschutz, an Naturschutz schon gar nicht. Deswegen muss sich niemand wundern, dass sich auch die Politik nicht darum schert.

Christian: Deswegen denke ich: Wir können als Gesellschaft nicht darauf warten, dass Politik rechtzeitig handelt. Die nötigen Veränderungen müssen von unten kommen, vom Einzelnen, von Initiativen, Kommunen und von Unternehmen. Individuen und Familien haben als Verbraucher viel mehr Macht, als wir glauben – nutzen sie aber nicht.

Johanna: An die Macht der Verbraucher glaube ich, anders als Du, nur sehr begrenzt. Nehmen wir nur mal das Beispiel Fleisch: Solange der Staat die intensive Schweine- und Geflügelhaltung mit knapp einer Milliarde Euro pro Jahr subventioniert, einschließlich Zuschüssen für den Bau neuer Massenställe, solange Agrarsubventionen an keinerlei Auflagen in puncto Tierwohl, Nitratreduktion und Biodiversitätserhalt geknüpft sind, so lange also die ebenso klima- wie naturschädliche Produktion von Billigleisch hochprofitabel ist: So lange wird dieses weiterhin produziert und auch gekauft werden, wird der Marktanteil des dreimal so teuren Biofleisches bei 1,4 Prozent verharren.

Christian: Natürlich sind die Subventionen falsch und sollten künftig nur noch dafür fließen, dass Landwirte die Landschaft wieder vielfältig und artenreich machen. Das entbindet jedoch mich als Verbraucher nicht von meiner Verantwortung.

„Wir sind nicht nur Wahl-, sondern auch Erdenbürger"

Johanna: Aber selbst wenn der Kauf von Biofleisch sich morgen verzigfachen und die Hälfte der Bevölkerung zum Vegetarismus konvertieren würde: Deutschland bliebe immer noch drittgrößter Fleischexporteur. An diesen Zuständen, da gebe ich Dir recht, kann nur Druck von unten etwas ändern. Ich setze da aber weniger auf Verbrauchermacht als auf zivilgesellschaftliches und politisches Engagement – von Umweltverbänden und Bewegungen wie FFF über die Volksbegehren zum Artenschutz .

Christian: Du nennst das ja Idealismus, was ja immer auch den Beigeschmack von „naiv” hat. Mir geht es aber um etwas anderes. Wenn morgen die Nachfrage nach Flugreisen oder nach Billig-Schweinefleisch einbricht, dann sind diese Produkte übermorgen vom Markt. Verbraucher können also viel direkter als Politiker für Veränderungen sorgen.

Johanna: Wenn wir uns alle lieb haben, gibt es keine Kriege mehr. Wenn das Christkind die Weihnachtsgeschenke bringt, brauchen wir sie nicht mehr im Internet zu bestellen. Ja, ich finde solche Hypothesen in der Tat realitätsfern. Die Realität ist doch: Solange mächtige wirtschaftliche Interessen darauf beharren, dass die Produktion von Billigfleisch, Monsterautos und sonstigem Müll auf Kosten von Umwelt, Sozialstandards und Tierwohl ein lohnendes Geschäft ist – solange können wir endlos die Hände darüber ringen, dass die Zahl der ethisch verantwortungsvollen Konsumenten im einstelligen Bereich bleibt. Oder in unserer Filterblase darüber streiten, wer von uns den größeren Öko-Heiligenschein hat.

Christian: Ist das für Dich Energieverschwendung?

Johanna: Ja, und es macht mich auch deshalb so gereizt, weil Variationen über den Satz „Wenn die Verbraucher nur wollten, würde alles anders“ das Mantra all derer sind, die sich mit Händen und Füßen gegen ordnungspolitische Eingriffe in ihr Geschäftsmodell wehren. Die gute alte Ordnungspolitik ist nun mal die einzige, die Autoverkehr, Plastikproduktion, Flächenfraß und Massentierhaltung wirksam eindämmen kann.

Christian: Da beißt sich aber die Katze in den Schwanz. Denn Politiker werden sich ja erst an die nötigen Veränderungen trauen, wenn sie sicher sind, dass die Bevölkerung mitzieht.

Man sieht ein großes landwirtschaftliches Feld.
Die industrialisierte Landwirtschaft ist der wichtigste Grund für den Artenschwund in der Landschaft.

Johanna: So ist es, aber diese Gewissheit bekommen sie eben erst, wenn die Bevölkerung sich sich entsprechend artikuliert und nicht bloß an der Ladenkasse abstimmt. Deshalb „sind Menschen gefragt, die den Arsch hochkriegen, sich einmischen. Solche, die über mehr nachdenken als die Verwendung ihre Einkommens.“ Da spricht mir der Umweltwissenschaftler Michael Kopatz aus der Seele, den der Kollege Christopher Schrader ja auch für das RiffReporter-Projekt „KlimaSocial” interviewt hat.

Christian: Alles richtig, aber das entbindet niemanden von der eigenen Verantwortung. Die geht ja noch viel tiefer, denn wir sind ja nicht nur Wahl- und Konsumbürger, sondern auch Erdenbürger.

Johanna: Hallelujah! Schade, dass ich gerade kein Harmonium zur Hand habe, sonst würde ich Deine Worte durch ein paar feierliche Akkorde unterstreichen.

„Mehr Hymnen auf Pirole und Wasseramseln!“

Christian: Spotte Du nur. Aber ich denke, es wird für die kommenden Jahre und Jahrzehnte ganz entscheidend, wie viele Menschen eine echte Beziehung zur Natur und ihren Kreisläufen verspüren. Wenn ich das tue, kann ich bestimmte Sachen einfach nicht mehr machen, ohne mich komplett mies zu fühlen. Die ganzen hasserfüllten Autofahrer, die sich auf Facebook gegen Greta austoben, bringen ja auch starke Emotionen zum Ausdruck

Johanna: Bin wieder mal froh, nicht auf Facebook zu sein und mich darüber nicht auch noch aufregen zu müssen.

Christian: Ist vielleicht schade, denn was fehlt, sind gegenläufige positive Emotionen. Solche, die zum Ausdruck bringen: Ich fliege nicht aus Flugscham, sondern weil ich das Klima und die Landschaft, wie wir sie haben, so gerne mag, also aus Zuneigung, Nähe zu dem, um was es geht. 2019 war für mich auch das Jahr einer neuen Freiheits-Diskussion: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sagt, Freiheit, das ist, jeden Tag Schnitzel essen und auf der Autobahn 180 fahren zu können. Es gibt zu wenige, die auf dieser Ebene dagegen halten und sagen: Freiheit, das ist, wenn man aus Liebe zur Umwelt und seinen Kindern Bahn fährt, und auch, wenn man in der Flussaue Pirole hören oder Wasseramseln sehen kann.

Johanna: Da stimme ich Dir zu, wobei ich nicht glaube, dass man diese Haltung ausgerechnet in Diskussionen mit Christian Lindner und seiner Social-Media-Followerschaft artikulieren muss. Ich vermisse die positiven Umwelt-Emotionen auf einer anderen Ebene. So fällt mir auf, dass gefühlte 80 Prozent aller Medienbeiträge zum Thema Natur und Biodiversität mehr oder weniger Hiobsbotschaften sind. Du liest das Stichwort „Wald“ und erfährst: Er stirbt. Du siehst ein schönes Schmetterlingsfoto und gleich daneben die neuesten Zahlen zur Insektenvernichtung. Kein Eisberg, der nicht schmilzt, keine Vogelstimme ohne die Mahnung, sie schnell noch anzuhören, bevor sie vollends verstummt …

Christian: Mehr Hymnen auf Pirole und Wasseramseln!

Johanna: Unbedingt. Leider habe ich gerade spontan Körbe voller toter Pirole und Bienenfresser vor Augen – Ergebnis des Telefonats mit einem Kollegen, der kürzlich im Nildelta unterwegs war und den Vogelfang-Horror dort aus erster Hand erlebt hat.

Christian: Bitter.

Johanna: Das kannst Du laut sagen. Oder, besser noch: Hymnen auf die Leute singen, die seit Jahrzehnten gegen den Zugvogelmord zu Felde ziehen, der empörenderweise auch in der EU immer noch stattfindet. Ich finde es, das möchte ich hier ganz klar sagen, total wichtig, über diese Missstände (das Wort ist viel zu schwach) immer wieder zu berichten, auch hochemotional – wie sollte man neutral bleiben angesichts der Natur-Apokalypse, die sich vor unseren Augen vollzieht? Andererseits aber finde ich genauso wichtig, was Du einforderst: Dass wir immer wieder daran erinnern und ebenso engagiert schildern sollten, wie beglückend das direkte Erleben und Wahrnehmen von Natur ist, was für ein Vergnügen es ist, einer Wasseramsel beim Tauchen zuzusehen, und wie unglaublich frei man sich fühlt, wenn man stundenlang durch eine Gegend laufen kann, ohne von Autolärm und Benzingestank behelligt zu werden oder ständig die Kinder an der Hand halten zu müssen, damit nicht irgendein Idiot sie über den Haufen fährt. Aber jetzt werde ich schon wieder negativ. Schluss damit!

„Der Blauton des Sumpfenzian – unglaublich!“

Christian: Das könnten wir Flugbegleiter uns für 2020 vornehmen: Noch mehr als bisher die Natur zu feiern! Apropos Pirol. Was waren denn deine schönsten Vogelbeobachtungen 2019?

Johanna: Lass mich überlegen…Ganz oben stehen natürlich die ersten Uhu-Küken, die ich in meinem Leben nicht nur zu Gesicht bekommen habe, sondern sogar auf den Arm nehmen konnte. Außerdem auf der Liste: der erste Mittelspecht, den ich selbst entdeckt und bestimmt habe, ohne Nachhilfe eines orts- und spechtkundigen Begleiters; die Rebhuhn-Combo, die vor einiger Zeit auf einem nicht unbedingt einladend wirkenden Weizenacker in Sichtweite unseres Dorfs lagerte; das erste Dompfaffpaar der Wintersaison, das vorige Woche an unser Futterhaus kam. Und bei Dir?

Ein Mittelspecht, erkennbar an seinem durchgehend roten Scheitel, sitzt vor seiner Bruthöhle, ein Insekt im Schnabel
Mittelspecht an der Bruthöhle
Ein Rebhuhn mit drei Küken läuft über einen Feldweg am Rand einer Wiese
Rebhuhn mit Nachwuchs

Christian: Der Hausrotschwanz auf dem Dach eines Klinikparkhauses kürzlich, der ganz leise vor sich hin sang und mich von der Sorge um eine frisch operierte geliebte Verwandte ablenkte; der Sperber, der beim ersten Flugbegleiter-Vogelspaziergang des Jahres wie ein Blitz aus heiterem Himmel mit unglaublicher Energie in die Tiefe schoss; und der Pirol, mit dem ich beim Urlaub in Südfrankreich jeden Morgen aufgewacht bin. Dort gab es auch so eine wunderbar zauberhafte Grotte, in der schillernde Libellen umhersurrten. Das Bild hole ich mir oft vor Augen, wenn es mal nicht so rund läuft.

Johanna: Beim Stichwort „schönste Beobachtungen“ fallen auch mir nicht nur Vögel ein, sondern auch die Massen von Kleinen Blaupfeilen, die ich an einem renaturierten Bach in Südniedersachsen gesehen habe. Der Spechttintling in dem wunderbar artenreichen – und gar nicht sterbenden – Mischwald rund um das Kloster Banz in Franken. Und in einem Moorgebiet bei Greifswald hab ich zum ersten Mal überhaupt Mehlprimeln und Sumpfenzian gesehen. Dieser Blauton! Unglaublich. Wie Eiszeitgletscher. Man sollte beim Vögelgucken überhaupt häufiger mal auf die Vegetation gucken, Botanisieren macht solchen Spaß. Und Insektenbestimmung auch, wobei ich da vermutlich nicht mehr über die Tagfalter hinauskommen werde. Sind einfach zu viele Arten.

Christian: Ich habe ja Botanik mit Schwerpunkt Vegetationsanalyse studiert und das wäre so ein Traum von mir, wieder mehr mit Pflanzen zu arbeiten und die Landschaft noch stärker als Ganzes zu sehen, ob forschend, schreibend, bei Exkursionen oder kulturellen Projekten. Aber jetzt lass uns nach diesem sehr gemischten Rückblick auf 2019 doch mal ins neue Jahr schauen. Was steht an?

„Auf Selbstheilungskräfte setzen“

Johanna: Ich hätte ein paar persönliche Vorschläge für die To-do-Listen der Ministerinnen für Umwelt und Landwirtschaft.

  1. Moore wiedervernässen, großflächig, und die landwirtschaftliche Nutzung entwässerter Moorböden nicht länger fördern. Das würde allein fünf Prozent unseres jährlichen Treibhausgasausstoßes einsparen, so viel wie der gesamte Flugverkehr von und nach Deutschland.
  2. Dämme abbauen. Deutsche Flüsse und Bäche werden durch insgesamt 7300 Kleinkraftwerke gebremst, die gerade mal 0,06 Prozent zur Energieerzeugung beitragen – bei maximalem Schaden für alles, was in und von intakten Fließgewässern lebt. Klassischer Fall von Klimaschutzmaßnahmen auf Kosten der Natur, die in dem Fall noch nicht mal dem Klima was bringen.
  3. Aus demselben Grund sollten die Ministerinnen die Erzeugung von „Biogas“ oder -sprit aus Maisanbau nicht länger fördern. Minimaler CO2-Einspareffekt, maximaler Schaden für die Biodiversität.
  4. Den Wald in Ruhe lassen. Die Millionen für sinnlose bis schädliche „Rettungsaktionen“ sparen und stattdessen lieber auf die Selbstheilungskräfte intakter Ökosysteme setzen.
  5. Dafür sorgen, dass Netzbetreiber endlich die ungesicherten Mittelspannungsmasten umrüsten, die immer noch zu Zehntausenden in der Landschaft herumstehen – und bis heute eine der größten Bedrohungen für Großvögel darstellen. Laut Bundesnaturschutzgesetz hätten diese Masten bis 2012 entschärft sein müssen, aber die Netzbetreiber scheren sich nicht um diese Vorgabe, und die Naturschutzbehörden sind zu überlastet oder zu zaghaft, sie einzuklagen.
  6. Laubbläser verbieten.
  7. Kirschlorbeer und Thuja zu unerwünschten Gartenpflanzen erklären.
  8. Freilaufende Hauskatzen… nein, das lass ich jetzt lieber. Weihnachten ist das Fest des Friedens. Und jetzt Du!

Christian: Für mich persönlich steht an, dass ich weniger Zeit auf Twitter und mehr Zeit in der Natur verbringen möchte. Zwitschern statt Twittern! Bewegung, Besinnung, Schönheit – da will ich mehr eintauchen.

Johanna: Und politisch?

Christian: Überragendes politisches Thema ist aus meiner Sicht eine Konferenz, von der noch die wenigsten gehört haben werden: Im Oktober kommen in China fast 200 Länder bei einer UN-Konferenz über den globalen Naturschutz zusammen. Da geht es ganz grundsätzlich um die Frage, ob die Länder dieser Erde weiter im Naturschutz zusammenarbeiten und mit welchen Zielen. Diese Konferenz ist so wichtig wie die Klimakonferenz von Paris im Jahr 2015. Die hat zwar jetzt auch keine idealen Ergebnisse erbracht, aber immerhin einen Fahrplan entwickelt, an dem jetzt alle Länder gemessen werden. Bei uns in Deutschland ist aus meiner Sicht spannend, ob endlich Naturschutz als Mittel des Klimaschutzes entdeckt wird – vor allem beim Moorschutz, den Du schon genannt hast. Und dann gibt es noch dieses harte Konfliktthema, bei dem viele Umweltschützer zwei Seelen in ihrer Brust haben…

Johanna: Lass mich raten…

Blaukehlchen mit Insektennahrung.
Blaukehlchen mit Insektennahrung.

Christian: Ein echtes Dilemma. Ohne weiteren Ausbau der Windenergie wird es schwer, die CO2-Emissionen weiter zu reduzieren. Die aktuelle Diskussion um Abstandsregeln von Ortschaften könnte den Ausbau weiter drosseln. Zugleich kann es nicht einfach verharmlosen, dass die Anlagen einen zusätzlichen Stressfaktor für die Vogelwelt darstellen, wo es doch sowieso schon so viel Stress gibt.

Johanna: „Zusätzlicher Stressfaktor“ finde ich sehr milde ausgedrückt. Wir haben rund 8500 durch Kollisionen umgekommene Mäusebussarde allein in Norddeutschland, sinkende Rotmilanpopulationen in allen Bundesländern mit starkem Windkraftausbau, außerdem, oft vergessen, Hunderttausende toter Fledermäuse.

Christian: Was ist mit den automatischen Abschaltsystemen?

Johnann: Die gibt es und sie sollen Opferzahlen bei Fledermäusen eigentlich minimieren, aber die sind bislang nur bei Neuanlagen vorgeschrieben, und bislang ist auch nicht genau untersucht, ob sie so wirken wie erhofft. Abgesehen davon, dass niemand kontrolliert, ob und wie sie tatsächlich eingesetzt werden. Ach, die Windkraft. Ehrlich gesagt fehlt mir die Lust, dieses Fass jetzt auch noch aufzumachen; ich hab mich in diesem Jahr in jeder Hinsicht erschöpfend damit beschäftigt, und alles, was ich hier dazu sagen könnte – und noch etliches mehr – hat unser Kollege Thomas in mehreren Texten zum Thema zusammengefasst, bei uns und anderswo.

„Wir müssen uns von einer Lebenslüge verabschieden“

Christian: Wirklich ein schwieriges Thema. Ich will dazu in den nächsten Wochen weiter recherchieren. Und ich hoffe auf eine Lösung, die Probleme anerkennt, aber eine eher umfassende Lösung findet, die Windenergie nicht ausbremst: Aus meiner Sicht geht es darum, alle anderen Stressfaktoren maximal zu beseitigen, durch rasche und tiefgreifende Veränderungen in der Agrarpolitik, Stopp aller Straßenneubauten durch die Landschaft, Auflagen für Gebäudegestaltung und Mobilfunkmasten, und einiges mehr…Dann wären die Windräder nicht mehr zusätzlicher Stressfaktor, sondern eben der mit Abstand wichtigste, ein notwendiges Übel, das wir uns aber auch aus Naturschutzsicht leisten können.

Windkraftanlagen in der Uckermark.
Windkraftanlagen in der Uckermark.

Johanna: Ich glaube ja, dass man diesen ganzen Klimaschutz-Naturschutz-Konflikt grundsätzlicher betrachten muss. Es gibt, gerade unter engagierten Klimaschützern, immer noch zu viele, die an die Wunderheilkraft technologischer Lösungen glauben, und daran, dass man fossile Energie einfach durch regenerative ersetzen muss, und alles wird gut. Aber das wird, überspitzt gesagt, darauf hinauslaufen, dass wir Großvögel, Fledermäuse, Insektenvielfalt und jede Menge halbwegs naturnaher Landschaften opfern, damit die SUVs, die unsere Straßen verstopfen, künftig mit Elektroantrieb fahren. Und dass die 60 Hektar Fläche, die wir weiterhin täglich versiegeln, in Zukunft nur noch mit ökologisch korrekten Passivhäusern vollgestellt werden.

Christian: Was ist die Alternative?

Johanna: Ich würde eine andere Lösung favorisieren, eine, die ich meiner To-do-Liste von oben hinzufügen würde: dass wir uns endlich von der Lebenslüge verabschieden, dass es so etwas wie „grünes Wachstum“ gibt. Mit „wir“ meine ich vor allem uns umweltbewusste Menschen mit hohem Ressourcenverbrauch, darunter die Wähler und Mitglieder der Partei, welche die erwähnte Farbe im Namen trägt. Mir ist bewusst, dass das politisch ein extrem dickes Brett ist, aber wenn wir nicht endlich zumindest den Bohrer ansetzen, dann wird es uns – um die Metapher endgültig zu Tode zu reiten – früher oder später vor die Füße fallen.

Christian: Ich glaube ja durchaus an das große Potenzial innovativer Technologien und auch von Firmen, die umweltfreundliche Produkte auf den Markt bringen. Das Richtige soll aus meiner Sicht stark wachsen. Aber dass unsere angeblich so schlaue Zivilisation noch kein besseres Maß für ihren Erfolg hervorgebracht hat als das Wachstum des Verbrauchs, ist wirklich erbärmlich. Auch Krebszellen ernähren sich von einem größeren System und sind erfolgreich, wenn sie stark wachsen. Das kann so nicht weitergehen, es braucht da einfach auch einen tieferen kulturellen Wandel. 2020 wird auf jeden Fall eine Megajahr der Umweltthemen – eine Chance für uns alle. Deshalb zum Schluss noch eine Frage zu uns Flugbegleitern. Was wünschst Du Dir für unser Projekt für das neue Jahr?

Johanna: Jede Menge Aufwind durch neue Leser- und AbonnentInnen, die unsere Recherchen unterstützen. Wenn möglich, weitere Verstärkung unserer Gruppe durch neue naturbegeisterte KollegInnen. Und uns elf speziell wünsche ich viele spannende, erhellende, beglückende Beobachtungen – draußen in der Natur und sonst auch.

Christian: In diesem Sinn: Gutes Neues Jahr!

Korrektur, 25.12.: In einer früheren Version dieses Artikels war vom „Green New Deal“ die Rede, gemeint war aber der „Green Deal“ der Europäischen Kommission. Beim „Green New Deal“ handelt es sich um eine Initiative US-amerikanischer Umweltaktivisten, die u.a. von der Partei der Demokraten unterstützt wird. Wir haben das entsprechend korrigiert.

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