„Die Artenkenntnis steht auf der Roten Liste des bedrohten Wissens“

Thomas Gerl, Leiter des Projekts „Biodiversität im Schulalltag“, über Mittel gegen den Natur-Analphabetismus

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
9 Minuten
Thomas Gerl steht mit seiner Kamera in der Hand an einem Strand.

Bayerische Schülerinnen und Schüler kennen heute deutlich weniger Vogelarten als noch vor zehn Jahren. Das ist das erschreckende Ergebnis der BISA-Studie über „Biodiversität im Schulalltag“. Nur fünf von 15 häufigen Singvogelarten konnten die knapp 2000 untersuchten Schüler von bayerischen Gymnasien im Durchschnitt richtig benennen. Wir haben den Leiter der Studie, Thomas Gerl, dazu befragt, was die Gesellschaft aus den neuen Erkenntnissen lernen sollte und welche positiven Lösungsansätze es gibt.

Thomas Gerl ist seit 2002 Lehrer für Biologie am Ludwig-Thoma-Gymnasium in Prien am Chiemsee und zudem Fachreferent Chemie beim Ministerialbeauftragten für die Gymnasien in Oberbayern. Die Studie ist in der Zeitschrift „Didaktik für Naturwissenschaften“ erschienen.

Herr Gerl, Sie sind Mitautor der Studie über die Artenkenntnis von bayerischen Schülerinnen und Schülern. Was hat Sie bei den Ergebnissen überrascht?

Gerl: Da gab es einige Überraschungen. Besonders spannend ist zum einen der signifikante Rückgang der Artenkenntnis unter den bayrischen Gymnasiasten um beinahe 20 Prozent innerhalb eines Jahrzehnts. In der ersten Vogel-BISA-Studie von Volker Zahner aus dem Jahr 2007 konnten die Schülerinnen und Schüler praktisch ein Fünftel mehr Arten erkennen. Das ist schon ein ziemlich drastischer Rückgang, zumal die TeilnehmerInnen im Schnitt ohnehin nur ein Drittel der Arten erkannten. Das niedrige Niveau ist also weiter gesunken. Zum anderen konnten wir zeigen, dass Kinder aus großen Städten eine höhere Artenkenntnis haben, als Schülerinnen und Schüler vom Land. Das ist erstaunlich, da die Landkinder vor zehn Jahren noch die besten Ergebnisse erzielten.

Kann man innerhalb der Kinder und Jugendlichen differenzieren, in welchen Gruppen das Problem des Natur-Analphabetismus besonders ausgeprägt ist und wo besonders wenig?

Prinzipiell schneiden Mädchen in den Tests besser ab als Jungs, aber zu sagen, dass sie eine höhere Artenkenntnis haben, wäre sehr gewagt, da viele Jungs einfach weniger Lust hatten, den Test zu absolvieren und somit auch eher schlechter abschnitten. Das ist also eher ein Motivations- als ein Wissensproblem. Wenig überraschend ist der Befund, dass Kinder und Jugendliche, die eigene Naturbeobachtungen durchführen, weil sie zum Beispiel ein Futterhäuschen in ihrem Umfeld haben oder an der Stunde der Wintervögel teilgenommen haben, die beste Artenkenntnis aufweisen.

Gibt es einen oder mehrere Hauptschuldige?

Die Schuldfrage – wenn es sowas überhaupt gibt – können wir mit unseren Daten nicht klären. Wir können hier, um ein Bild aus der Medizin zu nutzen, die Symptome beschreiben. Ihre Ursachen kennen wir dadurch leider nicht. Da ist noch spannendes Forschungspotenzial für zukünftige Untersuchungen gegeben.

Portrait von Thomas Gerl
Thomas Gerl unterrichtet Biologie am Ludwig-Thomas-Gymnasium in Prien am Chiemsee und leitet die BISA-Studie über Biodiversität im Schulalltag.

Warum gelingt es Naturschützern und ihren Verbänden, aber auch Naturkundemuseen offenbar so schlecht, auf die Bildschirme und ins Bewusstsein junger Menschen zu kommen?

Auch diese Frage ist für uns schwer zu beantworten. Letztlich geht es aus meiner Sicht auch gar nicht so sehr darum auf den Verlust der Artenvielfalt aufmerksam zu machen. Aus meiner Erfahrung als Biologielehrer, der jeden Tag mit vielen Kindern zu tun hat, wage ich zu behaupten, dass die meisten jungen Menschen die Problematik kennen. Das ist ähnlich wie mit dem Klimawandel. Da wissen auch alle, was das ist. Das Problem ist aber etwas dagegen zu tun, also vom Wissen zum Handeln zu kommen. Beim Verlust der Artenvielfalt kommt erschwerend hinzu, dass nicht nur die Arten aussterben, sondern leider auch die Artenkenntnis auf die Rote Liste des bedrohten Fachwissens gehört. Es könnte sein, dass bald niemand mehr bemerkt, wenn die Feldlerche fehlt, weil kaum jemand von diesem Vogel gehört hat, geschweige denn ihn erkennt oder gar etwas über seine Lebensgewohnheiten weiß.

Ein Erlenzeisig steht auf Schnee.
Auf Platz 15 der Arten, die bayerische Gymnasiasten erkannt haben: der Erlenzeisig.

Bei vielen Kindern muss man das heute abändern und sagen: Man sieht nur, was auf dem Smartphone-Bildschirm erscheint.

Ohne Frage ist die Nutzung mobiler Endgeräte ein wichtiger Bestandteil der Lebenswelt unserer Kinder. Das kann man entweder beklagen oder man macht sich dieses Potenzial zu Nutze, um Kinder dort abzuholen, wo sie Spaß haben. So kann man etwa online Bestimmungsführer nutzen. Am besten gefällt mir aber die Möglichkeit digital miteinander in Wettstreit zu treten, in dem man auf Beobachterplattformen wie naturgucker.de Klassenaccounts anlegt und die Kinder gegeneinander antreten lässt. Wer findet die meisten Arten? Wer macht die meisten Beobachtungen? Wer hat die tollsten Bilder? Das alles macht so richtig viel Spaß und wirkt gar nicht wie Unterricht. Das geht sogar über Ländergrenzen hinweg.

Können Sie uns weitere Beispiele für gelungene Online-Projekte nennen?

Wir haben natürlich selbst begonnen spielerische Unterrichtsmaterialien zu sammeln. Das ist gar nicht so einfach, da wir alle nebenher noch ganz normal in unseren Klassen stehen und unterrichten. Uns geht es dabei aber nicht nur um Vögel, sondern nach und nach möchten wir auch Pflanzen und Insekten in unsere Seite mit aufnehmen. Ganz aktuell haben wir mit den Machern der KIKA-Kindersendung „Anna und die wilden Tiere“ Baumporträts gedreht. Als Weihnachtsspecial begeben wir uns da auf die Suche nach dem perfekten Weihnachtsbaum. In Sachen Vogelartenkenntnis gefällt mir der Vogelarten-Trainer des NABU gut, der sich nicht nur an Kinder richtet.

Erste Kenntnisse am Futterhäuschen lernen

Gehören offline und online also zusammen?

Ganz klar Ja. Einer unserer Ansätze die Kinder für Naturbeobachtungen zu begeistern, ist das Motto „Outdoor&Online“ bei dem wir digitale Medien und analoges Beobachten verknüpfen. Da reichen die Ideen vom klassischen Steckbrief in der Schule auf Papier, über die Kooperation mit Kunstlehrern, die Vögel zeichnen lassen, bis hin zur Beteiligung an Citizen Science Projekten. Wichtig ist und bleibt aber immer, dass die digitalen Medien nicht der Zweck, sondern lediglich ein Mittel sind. Ein Mittel, um die Kinder für die heimische Artenvielfalt zu begeistern und die findet man nicht auf dem Bildschirm, sondern draußen vor der Tür.

Was würden Sie gerne an Schulen ändern?

Eigentlich befinden wir uns in Bayern schon auf einem richtig gutem Weg. Nachdem im alten achtjährigen Gymnasium neben den Säugern nur zwei weitere Wirbeltierklassen besprochen werden mussten, sind jetzt wieder alle Wirbeltierklassen Pflicht. Ganz besonders toll finde ich, wie oft im LehrplanPLUS für das neue neunjährige bayrische Gymnasium auf die Bedeutung der Artenvielfalt hingewiesen wird. Außerdem lernen die Schülerinnen und Schüler in jedem Jahr ein neues Ökosystem mit einer verpflichtenden Freilandexkursion kennen. Dieses Konzept der institutionalisierten Naturbeobachtung halte ich tatsächlich für wegweisend. Jetzt gilt es nur die Lehrkräfte auf diesem Weg mitzunehmen, sie einerseits entsprechend fortzubilden und ihnen andererseits auch Unterrichtsmaterial zur Verfügung zu stellen, mit denen sie arbeiten können und vor allem auch wollen.

Was können Eltern tun?

Eine ganz einfache und super effektive Möglichkeit, die allen nützt, ist ein Vogelhäuschen im Garten, am Balkon oder am Fenster aufzustellen. Auch wenn man da eher keine seltenen Arten schützt, gibt es kaum etwas Schöneres als dem Treiben der Vögel zuzusehen. Wenn man dann noch eine kleine Liste führt, welchen Arten man alles am Futterhäuschen gesehen hat, dann weckt das oft einen kleinen Jagdtrieb. Da bieten sich Beobachterpässe an, wie wir sie auf unserer Seite zum Download bereitstellen. Das funktioniert wie die beliebten Stickeralben. Statt Bildern von Fußballern, sammeln die Kinder Vogelarten.

Jemand hält ein Smartphone in der Hand. Auf diesem Smartphone ist Pokemon Go geöffnet.
Digitale Technologien und analoge Erfahrung zu verbinden – das hat zuletzt Pokemon Go geschafft, bei dem die Spieler sogar virtuelle Vögel entdecken mussten. Solche Ansätze sollte man auf die reale Vogelwelt übertragen, findet Thomas Gerl.

Was wird unsere Gesellschaft verlieren, wenn die Entwicklung so weitergeht, was kann sie gewinnen, wenn es eine Trendwende gibt?

Beantwortet man die Frage „Was bringt es eigentlich, wenn ich eine Vogel erkenne?“ aus ökonomischer Sicht, so ist die Antwort klar: „Aus praktischer Sicht bringt das nichts!“, obwohl die Weltbank den Verlust der Artenvielfalt als eines der 10 größten Menschheitsprobleme eingestuft hat. Dennoch ist der Nutzen in Wahrheit äußerst kostbar. Für kein Geld der Welt kann mir jemand die Freude kaufen, die ich bei einer Entdeckung in der Natur spüre. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes unbezahlbar. Und ich bin da auch nicht allein. Für viele Menschen ist die Beobachtung von Vögeln oder überhaupt von Naturphänomenen ein wichtiger Teil ihres Lebens, weil es ihnen ganz einfach Spaß macht. Meine Aufgabe als Lehrer ist es dabei den Kindern erst einmal die Chance zu geben, diese Freude einmal erleben zu dürfen.

Welches Level und welche Art von Naturkenntnis fänden Sie erstrebenswert? Soll jeder Schüler Teich- und Sumpfrohrsänger unterscheiden können?

Ich plädiere hier klar dafür klein anzufangen. Dann hat man Erfolg und das motiviert. Ein paar Singvögel, wie jene in unserem erwähnten Beobachterpass, ein paar Wasservögel, die man leicht beobachten kann. Das reicht für Kinder und ehrlich gesagt die allermeisten Erwachsenen locker aus. Irgendwann will man dann eine Kohlmeise von einer Tannenmeise oder eine Heckenbraunelle von einem Spatz unterscheiden können. Das ist aus meiner Sicht tatsächlich schon eine vertiefte Artenkenntnis. Wer einen Sumpf- von einem Teichrohrsänger unterscheiden kann, ist ja ohnehin verloren. Diese Personen hat das Birder-Fieber wahrscheinlich so fest im Griff, dass sie vor jeder Urlaubsplanung erst einmal auf Ornitho.de nachschauen, bevor ein Reiseziel gebucht wird. Meine Frau könnte davon ein Lied singen…

Was tragen Sie selbst dazu bei, dass die Naturkenntnis von jungen Menschen besser wird?

Schwer zu sagen. Ich versuche mein bestes – in meinem Unterricht Material zu entwickeln, das Kinder anspricht und motiviert. Außerdem werde ich nicht müde an so vielen Stellen wie möglich dafür zu werben, wie toll es ist sich mit der einheimischen Artenvielfalt auseinander zu setzen. Hoffentlich hilft das.

Was fordern Sie von der Politik?

Natürlich sind da die großen Fragen danach, wie man das globale Massensterben der Lebewesen stoppen oder wenigstens das rasante Tempo ein wenig verlangsamen könnte. Das sind aber Probleme, die echt schwer zu lösen sind. Ich würde da eher klein anfangen. Wenn ich mir was wünschen dürfte, hätte ich gerne einen verstärkten Dialog zwischen der schulischen Umweltbildung, also dem normalen Biologie-Unterricht, und den vielen außerschulischen Bildungseinrichtungen, die mühevoll Angebote erstellen, die aber oft nicht zu den Lehrplaninhalten passen. Das hängt damit zusammen, dass die Beteiligten oft von unterschiedlichen Institutionen bezahlt werden. Das sind zum einen die Kultusministerien und zum anderen die Umweltministerien. Jeder macht da sein eigenes Ding ohne die Bedürfnisse des anderen genau zu kennen. Ein guter Start wäre deshalb aus meiner Sicht zunächst einmal, diese beiden Schienen der Bildung an einen Tisch zusammenzubringen. Das sollte man beraten, was jeder Teil dazu beitragen kann, dass unsere Kinder wieder mehr über die Tiere und Pflanzen um sie herum wissen.