Zur falschen Zeit am richtigen Ort – wie der Klimawandel Vögel unter Druck setzt

Report über die fatalen Folgen der Erderwärmung für die Natur

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
17 Minuten
Eine Gruppe fliegender Weisswangengänse

Hitzerekorde, Waldbrände, Dürren und Unwetterkatastrophen: Die Folgen der globalen Erderwärmung bestimmen immer stärker die Schlagzeilen und das tägliche Leben vieler Menschen. Noch viel ungeschützter als wir selbst sind den Veränderungen Tiere ausgesetzt, die in und von der Natur leben. Ja, die Natur ist widerstandkräftig. Aber es gibt Grenzen. Besonders Zugvögel – und unter ihnen vor allem Langstreckenzieher – sehen sich massiven Veränderungen gegenüber, die sie überfordern könnten.

Für einige Arten sind die Folgen schon jetzt dramatisch. Die einzelnen Lebensphasen der Vögel – Jungenaufzucht, Wegzug, Überwinterung und Heimzug – sind bisher eng aufeinander abgestimmt. Doch durch die Erderwärmung werden die Abläufe massiv durcheinandergebracht. Weil Vögel heute meistens nicht mehr in rein natürlichen Lebensräumen zuhause sind, sondern in einer von Menschen geprägten Umwelt, kommt ein weiteres Problem hinzu: Sie müssen sich nicht allein an die direkten Folgen des Klimawandels anpassen, sondern auch an die menschliche Reaktion darauf.

Neben vielen anderen negativen Umweltveränderungen wird der vom Menschen gemachte Klimawandel das Schicksal der Vogelwelt massiv beeinflussen. In diesem Report gehen wir am Beispiel der Vogelarten Knutt, Weißwangengans, Trauerschnäpper, Wiesenweihe, Alpenschneehuhn, Birkhuhn, Kiebitz, Baumpieper und Brachvogel stellvertretend für viele andere Arten der Frage nach, wie das schon heute geschieht.

Landschaftsfoto des Dovrefjell in Norwegen. Eine weite mit Moos bewachsene Ebene ohne Bäume oder Sträucher bei blauem wolkenlosen Himmel
Sommer in der Tundra sind kurz. Hier lebende Vogelarten haben nur ein kleines Zeitfenster für Balz, Paarung, Brut und Jungenaufzucht.
eine Grasfläche mit Schnee [AI]
Im Frühling schwirren unzählige Insekten über die Tundra.
Ein Temminckstrandläufer führt zwei kleine Junge am Rande eines Sees in dichter Bodenvegetation
Dieser Temminckstrandläufer hat offenbar alles richtig gemacht und begleitet seinen Nachwuchs auf den ersten Schritten ins Leben.

Schauplatz Arktis: Wettrennen gegen die Zeit

Wenn im arktischen Frühling die Schneeschmelze einsetzt, entwickelt sich im tauenden Boden rasch neues Leben: Millionen von Kleinlebewesen streben an die Oberfläche und bieten energiereiche Nahrung im Überfluss. Jetzt heißt es für die hier brütenden Vogelarten, schnell zu sein, um im kurzen arktischen Sommer Nachwuchs großzuziehen. Die wenigen Vogelarten, die unter diesen extremen Bedingungen brüten, haben ihren Jahreszyklus exakt auf diesen Höhepunkt des Nahrungsangebots abgestimmt. Unter ihnen der Knutt, ein kleiner Watvogel, der im Prachtkleid knallrot leuchtet und im Rest des Jahres unscheinbar grau ist.

Doch das arktische Brutgebiet des Knutts verändert sich rasend schnell. Keine Region der Erde ist vom Klimawandel so stark betroffen wir die Arktis. Seit Jahren verlagert sich die Schneeschmelze – und damit der Beginn des kurzen nahrungsreichen Frühlings – stetig nach vorne, im Schnitt um einen halben Tag in jedem Jahr. Für die Knutts und andere Vogelarten, die als Langstreckenzieher in Westafrika überwintern, schafft das ein riesiges Problem: Das in Millionen von Jahren sorgsam aufeinander abgestimmte präzise Uhrwerk des Vogeljahres sieht vor, dass ihre Jungvögel genau dann schlüpfen, wenn die Entwicklung der Nahrungstiere ihren Höhepunkt hat.

Durch den schnellen Klimawandel gerät diese Verzahnung nun immer stärker aus dem Takt. Verlagert sich der Frühling stetig weiter nach vorne, ist der Höhepunkt des Larven-Booms bereits vorbei, wenn die jungen Knutts aus ihren Eiern schlüpfen. Die Folge ist Nahrungsmangel und Tod für viele Jungvögel. „Trophic mismatch“, also Nahrungs-Ungleichzeitigkeit, nennen Wissenschaftler das Phänomen.

ein Vogel, der auf Gras steht [AI]
Knutts brüten in der Arktis und überwintern in Afrika. Auf ihrem Zugweg machen sie häufig auch Station im deutschen Wattenmeer.
ein Vogel, der auf einem Ast steht [AI]
Auch Alpenstrandläufer brüten in der Küstentundra, bevor sie auf dem Zugweg auch häufig Station im Binnenland oder an den Küsten hierzulande Rast machen.
Ein Zwergstrandläufer steht im flachen Wasser
Wahre Weltenbummler mit „Heimathafen“ in der arktischen Tundra sind Zwergstrandläufer. Wie andere Limikolen legen sie nicht selten mehr als 10.000 Kilometer zwischen Brutgebiet und Winterquartier zurück.
Blick in das israelische Hula-Tal mit dem Agmon-See
Klimawandel trifft Zugvögel nicht nur an einer Stelle in ihrem Jahreszyklus. Rastplätze im europäischen und nahöstlichen Binnenland – wie hier das Hula-Tal in Israel – sind für viele arktische Vogelarten überlebensnotwendig. Fallen sie wegen zunehmender Dürren trocken, geraten die Vögel in Not.
Eine Gruppe Weißwangengänse landet auf dem Deich, der leicht mit Schnee bedeckt ist.
Auch Weißwangengänse kämpfen gegen den Klimawandel. Sie überwintern zu Hunderttausenden vor allem im europäischen Wattenmeer.
Ein sichtgedrängter Schwarm von Weißwangengänsen beim Auffliegen
Weißwangengänse werden wegen ihrer schwarz-weißen Befiederung auch Nonnengänse genannt.
Eine Gruppe Weisswangengänse auf einer Wiese, fotografiert mit langer Belichtungszeit und deshalb verschwommen-abstrakt.
Ungestörte Winterquartiere sind überlebenswichtig für die Gänse. Nur so können sie sich genügend Reserven für den Zug in die Arktis und die anschließende Brut anfressen. Dies gilt mit dem festgestellten Verzicht auf Pausen in bislang traditionellen Rastgebieten umso mehr.
eine große Herde Vögel, die am Himmel fliegt [AI]
Die deutsche Nordseeküste, wie hier bei Westerhever, ist ein wichtiges Überwinterungsgebiet für Weißwangengänse.
ein Vogel saß auf einem Ast [AI]
Fliegenschnäpper, wie dieser Halbringschnäpper, zählen zu den Singvögeln mit sehr langen Zugwegen. Sie sind Klimaveränderungen deshalb besonders stark ausgesetzt.
Ein männlicher Zwergschnäpper steht auf einem umgefallenen Baumstamm
Ein weiterer Angehöriger der Schnäpper-Familie ist der Zwergschnäpper. Aus seinen vorwiegend osteuropäischen Brutgebieten zieht er zum Überwintern bis nach Südasien. In Deutschland brüten Zwergschnäpper vor allem in Bayern und in Ostdeutschland.
Ein männlicher Gartenrotschwanz sitzt auf einem Stein.
Kommt vielerorts heute zwei Wochen früher aus dem Winterquartier zurück als noch vor wenigen Jahrzehnten: der Gartenrotschwanz
ein Vogel, der auf einem Ast sitzt [AI]
Auch Waldlaubsänger können mittlerweile bis zu zwei Wochen früher in den Wäldern gehört werden als früher. Wie andere Langstreckenzieher müssen sie sich den geänderten ökologischen Bedingungen anpassen.
Eine junge Wiesenweihe im Flug
Wiesenweihen gehören zu den Arten, die windkraftsensibel sind und auf dem Zugweg vielen Gefahren ausgesetzt sind.
Ein Baumpieper sucht auf einer Wiese nach Nahrung
Der durch den Klimawandel beförderte Anstieg der Baumgrenze setzt Vögel unter Druck, die auf Almen und Matten brüten, darunter den Baumpieper.
Zwei Bienenfresser bei der Paarung. Ein dritter Vogel schwebt schimpfend über beiden.
Das farbenprächtige Gesicht des Klimawandels: Bienenfresser erobern immer neue Lebenräume in Nordeuropa. In Deutschland brüten bereits mehrere Hundert Paare. Sie deshalb als Gewinner des Klimawandels zu sehen, wäre dennoch falsch.
eine Nahaufnahme von Gras [AI]
Wen Aussatzeitpunkt von Getreide und Brutbiologie des Großen Brachvogels nicht mehr zueinander passen, hat der Vogel das Nachsehen.
eine Gruppe von Vögeln fliegt im Schnee [AI]
Auch Kiebitze schaffen es oft nicht mehr, ihre Bruten an die geänderten landwirtschaftlichen Praktiken anzupassen. Viele Gelege werden deshalb zerstört.
eine Schar Vögel fliegt über Wasser [AI]
Auch Kiebitze schaffen es oft nicht mehr, ihre Brutgewohnheiten in Einklang mit der geänderten landwirtschaftlichen Praxis zu bringen.
ein Vogel, der in der Luft fliegt, mit Windturbinen im Hintergrund [AI]
Klimaschutz ist auch Vogelschutz. Er darf aber nicht rücksichtslos auf Kosten der letzten bestehenden Refugien für seltene Vögel stattfinden, wie es im Zuge des Windenergieausbaus immer häufiger der Fall ist. Die letzten Schreiadler Deutschlands sind mittlerweile von Windkraftanlagen regelrecht umzingelt.