Wie man mit Blomsen und Kolmsen das Hingucken lernt

Auszug aus dem neuen Buch „Federnlesen – Vom Glück, Vögel zu beobachten“

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
9 Minuten
Illustration einer Blaumeise, auf einem Ast sitzend

Wenn mich Leute fragen, weshalb ich so gerne Vögel beobachte, nenne ich meist drei Gründe. Zuerst, natürlich, die Vögel selbst. Sie sind schön, rätselhaft, auffällig, manchmal komisch, immer wieder überraschend, sie können singen und fliegen, sie sind empfindsam und schützenswert, und das sind nur eine Handvoll von mindestens hundert weiteren Gründen, sie liebens- und beachtenswert zu finden.

Der zweite Punkt, der fürs Beobachten spricht, ist, dass man es draußen tun kann, in der Regel an Orten, die auch ohne Vögel reizvoll sind: grün, ruhig, oft am Wasser gelegen und immer ein bisschen lebendiger und wilder als die durchschnittliche mitteleuropäische Kulturlandschaft. Man kommt beim Beobachten außerdem in Bewegung, aber nie zu sehr. Und wenn doch, bleibt man einfach stehen und guckt durchs Fernglas.

Das Stichwort Fernglas führt zum dritten Grund, der eher praktischer Art ist, aber ich finde, dass er das Vögelbeobachten angenehm von vielen anderen Outdoor-Aktivitäten abhebt: Man kommt dabei ohne viel Zeugs aus. Man braucht kein vielteiliges, ständig ergänzungsbedürftiges Equipment, keine digitalen Gadgets mit frostempfindlichem Akku und hundertseitiger Bedienungsanleitung, keinen Crashkurs in Werkzeug- und Materialkunde. Eigentlich sind zum Sichten und Bestimmen von Vögeln nur zwei Dinge nötig: ein Fernglas und ein Bestimmungsbuch. Und natürlich Kleidung, in der man weder nass wird noch friert.

Sperriges Gerät

An dieser Stelle könnte ein längerer Exkurs über die Auswahl des richtigen Zubehörs folgen. Denn das Angebot an Beobachtungsoptik ist natürlich riesig, ebenso wie die Auswahl an – gedruckten wie digitalen – Bestimmungshilfen. Und beide Sortimente umfassen, außer den Basics Fernglas und Buch, etliche andere nützliche Dinge: Spektive etwa, also Teleskope, die zum Beobachten auf Stative gestützt werden und mit denen man das Handschwingenmuster einer kilometerweit entfernt fliegenden Möwe gestochen scharf erkennen kann, oder Vogelstimmen-Apps, die mittlerweile sogar in natura erklingende Gesänge identifizieren – und so das mühsame Selbstlernen dieser Gesänge auf Dauer überflüssig machen könnten.

Was von alldem seinen Preis wert ist, kann ich schwer beurteilen, weil ich in meiner bisherigen Beobachtungs-Karriere mit ganzen zwei Ferngläsern, drei (gedruckten) Bestimmungsbüchern und einer Vogelstimmen-Schallplatte ausgekommen bin. (…)

Johanna Romberg und ihre Freundin 1974 bei einer Beobachtungstour durch einen Wald bei Schermbeck am Niederrhein
Als ich 1974 mit meiner Freundin bei Schermbeck am Niederrhein auf Beobachtungstour ging, gab es dort noch Brachvögel, Rotschenkel und Ortolane zu sehen

Ferngläser gehören zu den wenigen Hightech-Produkten, die man ohne Einweisung sofort benutzen kann. Im Prinzip jedenfalls. Das Einzige, was man tun muss, ist: Vogel sichten, Glas an die Augen heben, Vogel in Vergrößerung betrachten, Fernglas absetzen, Bestimmungsbuch aufschlagen, Vogel mit Abbildungen vergleichen und identifizieren. So einfach ist das. Im Prinzip, wie gesagt. In der Praxis ist es in der Regel komplizierter. Denn mit dem visuellen Erkennen von Vögeln ist es wie mit dem Unterscheiden von Vogelstimmen: Man muss es üben. Und es gibt bislang keine App, die es einem abnimmt. Zwar nehmen die meisten Menschen mit den Augen schneller und umfassender wahr als mit dem Gehör, aber meist doch nicht so genau, wie es zum Bestimmen nötig ist.

Wenn man zum ersten Mal mit dem Fernglas hantiert, fühlt es sich oft unerwartet sperrig an. Man merkt, dass der Umgang damit Übung erfordert, und dass selbst die stärkste Vergrößerung nichts nützt, wenn Augen und Hände nicht optimal koordiniert sind. Das braucht seine Zeit. Ich trage seit über vierzig Jahren bei jeder Gelegenheit ein Fernglas mit mir herum. Aber wenn ich längere Zeit nicht zum Beobachten gekommen bin, bedingt durch schlechtes Wetter, zu viel Arbeit oder was auch immer, dann stelle ich oft fest, dass ich den Umgang mit meinem Seh-Werkzeug erst wieder trainieren muss.

Da sitzt ein Vogel in einem Baum, etwa siebzig Meter entfernt. Fernglas heben, hinschauen – und leise fluchen: Im Visier ist nur verschwommener Blattsalat zu sehen. Die Entfernung ist falsch eingestellt. Am Schärferegler drehen, wie immer zuerst verkehrt herum: Der Blattsalat verschwimmt zu grünen Schlieren. Andersrum drehen. Jetzt ist das Blattwerk gestochen scharf – aber kein Vogel ist zu sehen. Fernglas absetzen: Da sitzt er noch. Der Ausschnitt war falsch gewählt, das Glas wenige Zentimeter zu weit nach rechts gerichtet. Noch mal fixieren, ansetzen: Jetzt stimmt der Ausschnitt. Aber der Vogel ist weg. Absetzen: Da sitzt er, keine zwei Meter weiter links. Nur ist er jetzt leider durch einen Ast verdeckt. Und dann fliegt er auch schon davon, auf Nimmerwiedersehen.

Gemaltes Bild einer Kohlmeise und einer Blaumeise.
Kohlmeise und Blaumeise: Zwei von 15 Vogelarten, die der Illustrator Florian Frick für „Federlesen“ gezeichnet hat

Wenn ich hier von „Meisen“ rede, meine ich vor allem zwei, die in Mitteleuropa zu den bekanntesten und häufigsten Vogelarten überhaupt gehören, und die beide allein in Deutschland in Millionenstärke vertreten sind. Meine Eltern und ich nannten sie früher meist nur „Kolmsen“ und „Blomsen“, zwei Spitznamen, die Vertrautheit ausdrückten, manchmal aber auch eine Spur von Genervtsein: Wir konnten keinen Rundgang mit Fernglas machen, ohne dass uns entweder Kohl- oder Blaumeise, meistens aber beide, mindestens einmal, häufiger mehrmals, ins Blickfeld flogen. Oft auch dann, wenn wir gerade einen anderen Vogel genauer betrachten wollten. Beide Meisen kommen, grob gesagt, überall dort vor, wo ein paar nicht zu junge, vorzugsweise laubtragende Bäume beisammen stehen. Also in Wäldern und offenen Landschaften (sofern sie nicht komplett frei von Buschwerk sind), ebenso wie in städtischen Grünanlagen und Gärten.

Was meine Eltern und mich damals an Kolmsen wie Blomsen nervte, waren, außer ihrer Allgegenwart, ihre auffälligen Farben, die vor allem am Anfang immer wieder falsche Hoffnungen weckten.

„Guckt mal – der ist ja ganz blau!“ stammelte etwa mein Vater aufgeregt, und meine Mutter und ich rissen unsere Gläser hoch, während uns die Namen der magischen blauen Raritäten durch den Kopf schossen, die wir aus Was fliegt denn da? kannten: Eisvogel!? Blauracke!? Bienenfresser!? Aber dann dauerte es meist nur wenige Sekunden, bis einer von uns mit resigniertem Seufzen die Arme sinken ließ und feststellte: „Nur ne Blomse.“

Zwei so häufige und auffällige Vögel stellen natürlich, auf den ersten Blick, keine Herausforderung für Beobachter dar. Auf den zweiten aber schon. Denn so leicht Kohl- und Blaumeisen zu sichten sind, so schwer sind sie im Auge zu behalten, und gerade diese Kombination macht sie zu idealen Beobachtungstrainingsvögeln.

Beide Meisen sind, wie auch ihre näheren Verwandten, unglaublich beweglich. Das gilt für andere Vögel natürlich auch. Aber im Vergleich mit den kleinen Blauen wirken etwa Finken, Amseln und sogar Spatzen geradezu träge. Meisen erinnern in ihrem Verhalten an hyperaktive Kinder. Pick, hüpf, hüpf, pick, weiter zum nächsten Zweig, Ast, Busch, Baum, am Stamm landen, Borke picken, weiter zum Futterknödel, festkrallen, kopfüber baumeln lassen, pick, pick, pick, zurück zum ersten Busch, Baum, Ast, Zweig – und das alles in kaum fünfzehn Sekunden. Einen solchen Vogel wenigstens eine halbe Minute lang im Visier des Fernglases zu behalten, egal wohin er sich bewegt: Das ist ein Härtetest, der Aufmerksamkeit, Reaktionsvermögen und vor allem Fingerspitzengefühl im Umgang mit dem Seh-Werkzeug verlangt. Besonders bei Blaumeisen, die noch eine Spur lebhafter und akrobatischer sind als die etwas größeren Kohlmeisen.

Wer beide Arten regelmäßig beobachtet, wird sein Fernglas bald als erweitertes Auge empfinden, wird blitzschnell zwischen direktem Blick und Visier wechseln, ohne Fehlversuch immer den richtigen Bildausschnitt finden, wird nie mehr darüber nachdenken müssen, ob der Schärferegler rechts- oder linksherum gedreht werden muss.

Man kann diese Fertigkeiten, theoretisch, natürlich auch an anderen Vogelarten trainieren. An Laubsängern und Grasmücken etwa, die ähnlich hyperaktiv sind wie Meisen, weil sie, wie diese, immer auf der Jagd nach kleinen, flinken, meist geflügelten Insekten sind. Aber die Laubsänger, zu deren Gattung Zilpzalp und Fitis zählen, sowie die Mönchs- und Gartengrasmücke sind ungleich schwerer zu verfolgen, weil sie, wie die meisten Singvögel gemäßigter Breiten, gedeckte Tarnfarben tragen – laubgrün, rindengrau, erdbraun. Wer einen so unauffälligen Vogel einmal aus den Augen verloren hat, findet ihn kaum wieder, oft selbst dann nicht, wenn er fünf Meter entfernt sitzt und singt. Kolmsen und Blomsen dagegen stechen selbst aus dem dichtesten Laub hervor, weil sie eben blau und auch sonst Hingucker sind: mit ihrer schwarzblauen Kappe und dem ebensolchen „Schlips“, der sich über den ganzen Bauch zieht (bei der Kolmse), mit dem schwarzen Augenstreif und der leuchtend hellblauen, weiß eingerahmten Kopfplatte (bei der Blomse), sowie mit dem gelben Bauch, den scharf abgesetzten weißen Wangen und hellen Flügelbinden (bei beiden Arten). (…)

Flugbegleiterin Johanna Romberg hält sich beide Hände hinter die Ohren, um die Vogelstimmen in einem Wald zu idenfitizieren.
Ferngläser sind nützlich, aber eigentlich beobachte ich am liebsten mit den Ohren. Vor allem im Wald, wo die Vögel ohnehin schwer zu entdecken sind.

Eines wird jeder Beobachter, jede Beobachterin früher oder später feststellen: Es gibt unter Vögeln, genauso wie unter Menschen, unverkennbare, charismatische Typen ebenso wie unauffällige „graue Mäuschen“. Die einen erkennt man auf Anhieb aus großer Distanz, selbst wenn die letzte Begegnung mit ihnen Jahre zurückliegt. Die anderen können einem zehn Mal über den Weg fliegen, ohne dass sie einen bleibenden Eindruck hinterlassen, und man verwechselt sie immer wieder mit den Vertretern mehr oder weniger verwandter Lookalikes.

Freude des Wiedererkennens

Zum Glück für Anfänger gibt es gerade unter den häufigeren Arten eine ganze Reihe Charismatiker. Meisen gehören natürlich dazu, wegen ihres auffälligen Federkleides und ihres Temperaments. Ebenso Ringeltauben, die auch im Flug durch ihre „großbusige“ Silhouette auffallen, und Elstern, die durch den Kontrast zwischen ihren kurzen, rundlich geformten Flügeln und dem langen Schwanz unverkennbar sind. Der Schwanz ist vielleicht das ausdrucksvollste Merkmal überhaupt, bei großen wie bei kleinen Vögeln: Bei der Bachstelze wippt er, lang und dünn, unablässig auf und ab wie eine Kompassnadel, bei Rotschwänzen zittert er wie eine kurz angeschlagene Saite, vor allem nachdem die Vögel geknickst haben – ein weiterer Tick, der sie selbst aus großer Entfernung leicht erkennbar macht. Bei Schwanzmeisen ist das namensgebende Körperteil so auffallend lang, dass die Vögel im Flug aussehen wie winzige Stielpfannen.

Die Art, wie ein Vogel fliegt, ist oft verräterischer als das Bild, das er im Sitzen abgibt. Der unauffällige Baumpieper etwa – spatzengroß, oben braun, unten beige mit dunklen Tupfen – lässt sich beim Balzen sekundenlang im Sturzflug von Baumwipfeln herabgleiten; ich kenne keinen anderen Singvogel, der so etwas tut. Graureiher sind von großen Greifvögeln auf Anhieb zu unterscheiden, weil sie nie segeln, sondern ihre leicht gebogenen Flügel unfassbar langsam und träge auf und ab bewegen. Eichelhäher wiederum fliegen weniger, als dass sie ihre Flügel unregelmäßig auf- und zuklappen; sie benutzen sie meist auch nur, um ein paar Dutzend Meter zwischen zwei Bäumen zu überbrücken. Und wenn ein Vogel mit schmalen, spitz zulaufenden Schwingen so heftig und schnell flattert, dass er in der Luft auf der Stelle verharrt – „rütteln“ heißt das in der Fachsprache der Beobachter -, dann handelt es sich mit Sicherheit um einen Turmfalken, einen der häufigsten Greifvögel Mitteleuropas. (…)

Wenn ich in einem Wort zusammenfassen sollte, was das Schönste am Vögelbeobachten ist, dann würde ich sagen: Das Wiedererkennen. Durch die Landschaft gehen, vor der Haustür oder etwas weiter weg, und dabei immer wieder auf mehr oder weniger vertraute Gestalten zu treffen. Der große Graue mit dem eingeklappten Hals, der aussieht, als wollte er gleich einschlafen beim Fliegen: ein Graureiher. Der Schwarm fliegender schwarzer Spindeln, der gerade in einen Obstbaum einfällt: Stare, was sonst. Die vier kleinen Knickser auf dem Rasen: drei Rotschwänze, ein Rotkehlchen. Alles Jungvögel, unscheinbar graubraun, aber das Rotkehlchen ist gut zu erkennen: seine kugelförmige, etwas pummelige Gestalt unterscheidet es deutlich von den schlankeren Rotschwänzen.

Bei den häufigeren Arten habe ich mittlerweile gewisse Routine im Erkennen und Benennen; langweilig wird mir beim Beobachten trotzdem nie. Zum einen, weil sich der Kreis der Bekannten mit der Zeit stetig erweitert, um „Zugezogene“ und um Unauffällige, die erst nach einem halben Dutzend Sichtungen ihre Identität preisgeben. Zum anderen, weil ich auch denen, die mir seit Jahrzehnten vertraut sind, immer wieder neue Seiten entdecke.

Johanna Romberg, „Federnlesen – vom Glück, Vögel zu beobachten“, Lübbe-Verlag, 2018, ISBN978–3–431–04088–3, 24 Euro