Ein Optik-Tüftler und Ornithologe entdeckt Fehler in klassischen Bestimmungsbüchern

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
7 Minuten
ein Vogel, der in der Luft fliegt [AI]

Es passiert nicht jeden Tag, dass in der Vogelbestimmung noch bahnbrechende Neuigkeiten ans Licht kommen – jedenfalls nicht, was die europäischen Vogelarten betrifft. Kaum eine Weltregion gilt als so gut erforscht wie Europa, auch ornithologisch. Neuauflagen von Bestimmungsbüchern fallen eher durch ihre trendig aufgemotzten Cover auf, als dass sie große inhaltliche Änderungen böten.

Wenn Verlage Aktualisierungen vornehmen, dann vor allem bei den Verbreitungskarten, auf denen sich schon jetzt die Folgen des Klimawandels zeigen und die Arealgrenzen von Arten wie Orpheusspötter oder Bienenfresser beständig nach Norden wandern. In den Bestimmungstexten und -tafeln ändert sich dagegen meist nur wenig. Eine Ausnahme machen vielleicht die Möwen, wo es in den letzten Jahren einen deutlichen Wissenssprung etwa mit Blick auf Hybridisierungen zwischen Großmöwenarten gegeben hat.

Aber sonst tut sich wenig, wie ein Blick in die verschiedenen Auflagen vieler Bestimmungsbücher über Jahrzehnte hinweg zeigt. Warum auch, wenn wir doch alle Gefiedermerkmale der beiden Geschlechter vom Jugend- bis zu den verschiedenen Alterskleidern bis ins letzte gut kennen?

Gerold Dobler in der israelischen Wüste
„B&B“ – Birds and Binos – Vögel und Ferngläser: das ist die Welt von Gerold Dobler, hier bei der Suche nach Lerchen in der israelischen Wüste

Vögel und Ferngläser sind die lebenslangen Leidenschaften

Jetzt aber darf sich die Gemeinde der ambitionierten Birdwatcher auf eine ebenso tief greifende wie überraschende Neuerung gefasst machen. Sie kommt aus dem wissenschaftlichen Off, von einem Mann, der ausgerechnet bei einer sehr gut bekannten Greifvogelart – der Kornweihe – fundamentale Fehler in der Darstellung ausgemacht haben will. „Eigentlich sind nahezu alle Bestimmungsbücher falsch und damit sind dann auch viele Datensätze in den Meldeportalen wertlos“, sagt Gerold Dobler.

Dobler ist Mathematiker, Physiologe und seit seiner frühen Kindheit zwei Leidenschaften aufs heftigste verfallen, die er selbst als „B&B“ bezeichnet: „Birds and Binos“ – Vögeln und Ferngläsern. In der Optik-Branche ist Dobler auch beruflich tätig, und dort ist er nicht irgendwer. Als Produktmanager hat er über die Jahrzehnte maßgeblich an der Entwicklung von Top-Ferngläsern der großen Premium-Marken mitgewirkt und nicht zuletzt seine Leidenschaft für die Ornithologie hat die Entwicklung der Prototypen maßgeblich vorangetrieben. Jeder Vogelkundler, jede Beobachterin, die oder der eines der Top-Gläser von Leica, Swarovski oder Zeiss besitzt, trägt auch ein Stück von Doblers Lebenswerk mit sich.

„Wenn ich Beobachtungsoptik teste, versuche ich immer, die Gefiederstruktur bis ins Kleinste zu analysieren. Denn daran sehe ich, ob das Gerät diese feinen Details auflösen kann“, sagt Dobler. „Ich beobachte deshalb sehr intensiv, spiele ständig mit der Vogelwelt und der Optik. Auch eine Stockente kann ich schon mal über eine Stunde oder länger beobachten.“Wer mal mit Dobler gemeinsam Vögel beobachten war und es dabei selbst eher auf seltenere Arten abgesehen hat, kann das bestätigen.

ein Vogel, der über eine Wüste fliegt [AI]
„Weibchenfarbig“ werden Vögel dann genannt, wenn eine Geschlechtsbestimmung dem Beobachter nicht möglich ist. Das Foto zeigt ein junges Männchen

Junge Kornweihen-Männchen und alte Weibchen verwechselt

Es war auch die Kombination aus optischer Erprobung eines neuen Produkts und die Detailversessenheit beim Vogelbeobachten, die Dobler zu der Erkenntnis gelangen ließ, dass die bisherige Bestimmung von Geschlecht und Alter bei Kornweihen grundlegende Fehler enthält. Im Kern geht es darum, dass nach seinen Beobachtungsergebnissen in den Werken fast aller Greifvogel-Experten bisher junge Männchen mit alten Weibchen verwechselt werden. 1Dazu muss man wissen, dass junge Kornweihen beiderlei Geschlechts ebenso wie ausgewachsene Weibchen überwiegend bräunlich gefärbt sind, während erwachsene Männchen ein stahlgrau-bläuliches Gefieder haben. Weil das Auseinanderhalten junger Vögel und alter Weibchen so schwierig ist, hat sich unter Beobachtern auch der vage Begriff „weibchenfarbig“ etabliert.

Was sich für weniger fachlich Interessierte wie ein nebensächliches Detail anhört, ist aus ornithologisch-wissenschaftlicher Perspektive von grundlegender Bedeutung. Denn wenn die Geschlechter und das Alter nicht korrekt zugeordnet werden, wird auch das beobachtete Verhalten falsch gedeutet: Was als typische Eigenart von Jungvögeln gilt, wird erfahrenen Weibchen zugeschrieben, und vice versa. So gerät die Erforschung der Ökologie einer Art komplett auf die schiefe Bahn.

Greifvogel in elegantem Flug.
In Deutschland extrem selten: die Kornweihe.


Hunderte Beobachtungsstunden und weit über 10.000 Belegfotos

Dobler hat Weihen schon in vielen Erdteilen beobachtet. Seine wichtigsten Erkenntnisse stammen aber vom Federsee in Baden-Württemberg, einem der wichtigsten Überwinterungsgebiete der Art: Bis zu 170 Kornweihen versammeln sich dort ab dem Spätherbst bis ins zeitige Frühjahr. Richtig intensiv beschäftigen ihn Kornweihen seit etwa fünf Jahren. „Mir war schnell klar, dass da irgendwas nicht stimmt mit den Angaben in der Bestimmungsliteratur“, sagt er. Das in den Büchern beschriebene Aussehen passe oft einfach nicht mit dem Verhalten der Vögel zusammen. Und viele der in den Büchern auf Farbtafeln illustrierten Kennzeichen existierten so in der Praxis bei keinem einzigen der vielen Hundert Weihen, die er penibel auf ihr Aussehen hin studiert hatte. Dabei standen ihm immer die allermodernsten Geräte zur Verfügung, die noch nicht auf dem Markt waren.

Nach vielen hundert Beobachtungsstunden und weit über 10.000 Belegfotos ist sich Dobler jetzt sicher genug, um seine Erkenntnisse einem internationalen Publikum zu präsentieren. Und zwar nicht irgendwo, sondern im renommierten britischen Fachblatt „British Birds“ stellt er seine Ergebnisse einem internationalen Publikum vor. In Deutschland hat er schon im vergangenen Monat eine 25-seitige Fotodokumentation veröffentlicht.

Zwar ist Dobler von seinem Naturell her eher ein Einzelkämpfer, doch hat er sich mehrfach mit weiteren Experten auf dem Gebiet der Vogelbestimmung ausgetauscht. Darunter etwa dem Vorsitzenden der britischen Seltenheitenkommission Paul French und dem Altmeister der Greifvogel-Bestimmungsliteratur, Richard Porter. Beide fanden seine Analyse überzeugend und drängten ihn, diese zu veröffentlichen.

Nicht nur aus Expertensicht werfen Doblers Beobachtungen freilich eine grundsätzliche Frage auf: Wenn die Bestimmungsbücher keine verlässliche Orientierung bieten, woran erkennt dann Dobler, ob er ein ausgewachsenes Weibchen oder einen jungen männlichen Vogel vor sich hat? Die Antwort lautet: durch genaues Beobachten nicht nur einzelner, sondern vor allem mehrerer Vögel und ihrer Interaktion untereinander, und das über längere Zeit hinweg. „Ein altes Weibchen verhält sich anders als ein junges Männchen. Wenn eine Weihe einem Buchfinkentrupp über einem Feld hinterherschießt wie ein Sperber, dann ist das ziemlich sicher ein junges Männchen.“


Entweder verwechseln die meisten Bestimmungsbücher die Geschlechter oder die abgebildeten Vögel existieren so gar nicht in der Realität – es sind Hybriden zwischen Männchen und Weibchen.

Den Grund dafür, dass sich so grundlegende Fehler in der Bestimmungsliteratur fänden, sieht Dobler auch im Zwang zur Vereinfachung in den Büchern. Weil sich die einzelnen Individuen einer jeden Vogelart stark unterscheiden könnten, müsse abstrahiert werden. Wie etwa beim Mäusebussard: Dort reicht die Bandbreite von fast rein weißen bis zu fast durchgängig dunkelbraunen Vögeln, mit ungezählten Farbabstufungen dazwischen. „Dann wird man im Buch konsequenterweise nicht nur einen weißen oder braunschwarzen Bussard zeigen und sagen, dass ist jetzt DER Bussard, sondern wird eher einen intermediären abbilden, der für 70 Prozent der Population steht.“ Dobler findet dieses Vorgehen nachvollziehbar, schließlich sollten Bestimmungsbücher auch für Anfänger hilfreich sein.

Das Prinzip Vereinfachung sei auch bei Kornweihen angewandt worden – mit dem Ergebnis, dass die Bestimmungsbücher die Geschlechter entweder falsch zuordneten oder, was häufiger vorkomme, einen Vogel darstellten, der in der Realität gar nicht existiere: „Was da gezeichnet ist, wäre in Wahrheit ein Hybrid aus Weibchen und jungem Männchen.“ Tatsächlich aber ließen sich beide voneinander unterscheiden, anhand feinster Details wie etwa der Bänderung der Armschwingen. (Kurzer Einschub für „Feinschmecker“: Das Terminalband ist beim alten Weibchen breit und beim jungen Männchen schmal, in vielen Bestimmungsbüchern wird aber ein intermediäres Band dargestellt. Auch der typische Gesichtskragen wird laut Dobler fast überall falsch dargestellt, so auch im gängigsten aller Bestimmungsbücher, dem in Deutschland als Kosmos-Vogelführer erschienenen Svensson).

Dobler ist wichtig, nicht als Besserwisser missverstanden zu werden. „Mir geht es nicht darum, andere Leute oder andere Arbeiten runterzumachen, sondern uns alle gemeinsam voranzubringen“, sagt er. „Ich habe es ja früher auch nicht besser gewusst.“

Das Rätsel der Ähnlichkeit zwischen jungen männlichen und alten weiblichen Kornweihen ist aber noch lange nicht gelöst. „Am Ende der ganzen Geschichte steht ja eine Frage: Was ist der biologische Grund dafür, dass die jungen Männchen aussehen wie alte Weibchen?“ Gibt es dafür eine Erklärung? „Ja, die gibt es“, sagt Dobler kurz angebunden. Mehr will er jetzt noch nicht sagen. „Ich melde mich dazu.“

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