Den Horizont erweitern: Natur erleben im Bildungsurlaub

Sich fünf Tage in Sachen Natur und ihrem Schutz weiterzubilden, anstatt zu arbeiten – Bildungsurlaub macht es möglich. Anne Preger war dafür auf Baltrum und erklärt, wie man sich freistellen lässt.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
9 Minuten
Vögel sitzen am Strand, darüber die Silhouetten von Vögeln in einem großen Schwarm

„Ah! Auf der Stelle tanzen, dann klappt es auch mit der Verdauung“, sagt Karen Kammer, als sie sich die weißgesprenkelten Vogelspuren auf dem Wattboden ansieht. „Das hier sind Spuren von einer Lachmöwe.“ Kammer lebt seit gut zehn Jahren auf Baltrum, eine der kleinsten Ostfriesischen Inseln. Dort leitet die Biologin das Nationalpark-Haus. Heute ist sie mit einer Bildungsurlaubsgruppe im Watt unterwegs – barfuß.

Karen Kammer steht im Watt und hält eine kleine, dünne Röhre zwischen den Fingern.
Seine Röhre verrät den Bäumchenröhrenwurm. Eine Wattwanderung mit Nationalpark-Haus-Leiterin Karen Kammer bereichert Bildungsurlaube auf Baltrum.

Austernfischer tragen den falschen Namen

„Direkt rund um Baltrum dürfen wir das zum Glück noch. Anderswo im deutschen Wattenmeer geht das zum Teil nicht mehr, wegen der messerscharfen Schalen der Pazifischen Austern.“ Die stecken im Watt. Aber wie ihr Name schon andeutet, gehören sie eigentlich nicht hier hin. Züchter begannen 1985, sie vor Sylt zu ziehen. Wenige Jahr später begannen die Pazifischen Austern dann, sich im Watt auszubreiten. Warm genug haben sie es hier inzwischen, auch dank der Erderwärmung. Darunter leiden nicht nur Wattwandernden, die sich an den Schalen die Füße aufschneiden können, sondern mehr noch die Austernfischer. Der Name dieser Watvögel ist irreführend. Sie fressen keine Austern – deren Schale ist zu dick – sondern unter anderem Miesmuscheln. Doch die werden von den eingeschleppten Austern zurückgedrängt. Das ist nur eine von vielen Entwicklungen im Watt, über die die Gruppe im Bildungsurlaub mehr erfährt.

Ein schwarzweißer Vogel mit roten Augen und rotem, langen Schnabel läuft am Strand von Baltrum.
Der Austernfischer frisst die eingeschleppten Pazifischen Austern nicht – ihre Schale ist zu dick.

Direkt draußen im Watt Zusammenhänge verstehen

Der Titel des Kurses auf Baltrum lautet: „Das Weltnaturerbe Wattenmeer und die herausragende Bedeutung für Mensch, Klima und Zugvögel“. Bei Wind und Wetter wird im Watt gewandert, Salzwiesen erkundet und Vögel beobachtet. Das klingt auf Anhieb vielleicht eher nach Erholungsurlaub, vor allem wenn auch noch die Sonne mitspielt. Aber zum Kurs gehören auch Vorträge im Seminarraum, in denen Kursleiter Reno Lottmann sehr anschaulich, aber auch geballt Hintergründe vermittelt, auch zum Spannungsfeld zwischen Ökologie und Naturschutz auf der einen Seite und Wirtschaft und Tourismus auf der anderen. Doch nur zurücklehnen und Wissen aufsaugen allein reicht nicht: Die Teilnehmenden erarbeiten sich zu zweit oder zu dritt auch selbst konkrete Themen und tragen sie anschließend vor. Eins der Referate dreht sich beispielsweise um Küstenschutz und Meeresspiegelanstieg in der Nordsee im Klimawandel. Das Besondere beim Bildungsurlaub: Diese fünf Tage haben die Teilnehmenden von ihrem jeweiligen Arbeitgeber zusätzlich zum normalen Jahresurlaub als bezahlte Freistellung bekommen. Die Kosten für Kurs, Anreise und Unterbringung zahlt jeder selbst.

Der Klimawandel beeinflusst Zugvögel beim Rasten und beim Brüten

Beim Wattwandern kommt die Gruppe schnell voran, denn direkt an der Insel Baltrum ist der Wattboden vorwiegend sandig und fest; man sinkt kaum ein. Auf dem Sand liegen viele Herzmuscheln – und die kommen mit den Extremen im Klimawandel offenbar nicht so gut zurecht. „Sie leiden unter der Hitze. Wenn dann noch nachmittags Niedrigwasser ist, werden die Muscheln in den obersten Sandschichten quasi durchgekocht und sterben ab“, sagt Karen Kammer. Das ist keine gute Nachricht für Eiderenten und Austernfischer, die gerne massenweise Herzmuscheln fressen.

Auch der Knutt, ein anderer Watvogel, bekommt durch die Erderwärmung zunehmend Probleme – beim Timing seiner Brut auf der nordsibirischen Taimyrhalbinsel. Für die Art ist es wichtig, dass die Küken dann schlüpfen, wenn das Angebot an Insekten am größten ist. Davon erzählt Kursleiter Reno Lottmann. Sein Kurskonzept ist ganzheitlich. Er schaut nicht nur aufs Wattenmeer und die Herausforderungen, vor denen Menschen und Vögel dort stehen, sondern vermittelt den Bildungsurlaubern auch, mit welchen Problemen die menschlichen und gefiederten Bewohner in den Brutgebieten im hohen Norden und den Winterquartieren in Afrika zum Teil kämpfen.

Reno Lottmann sitzt im Abendlicht auf einem Steinblock an der Promenade von Baltrum.
Morgen Dorfführung und Wattwanderung, übermorgen Zugvogel-Exkursion. Kursleiter Reno Lottmann stellt das Programm der kommenden Tage vor – wegen des guten Wetters an der Promenade.

Erst Faszination wecken, dann Zusammenhänge vermitteln

„Mich reizt es besonders, wenn ich Menschen erstmals für Vögel begeistern kann“, sagt Reno Lottmann. Er steht bei diesem Kurs vor einer kleinen Herausforderung: Mehr als die Hälfte der Gruppe hat sich vorher noch nie wirklich mit Zug- oder Watvögeln beschäftigt, ein paar Teilnehmende sind dagegen erfahrene Vogelbeobachter. Bevor es raus aus dem Seminarraum ans Watt geht, stellt Lottmann einige Arten und ihre enormen Zugleistungen vor. Beispielsweise die Pfuhlschnepfe, die es schafft, mehr als 11.000 Kilometer non-stop zu fliegen. Er vermittelt der Gruppe außerdem, wie wichtig das Wattenmeer in der Nordsee als interkontinentaler Rastplatz für Vögel ist. Zehn bis zwölf Millionen Zugvögel aus Europa, Afrika und Asien machen hier jedes Jahr Station. Für rund 50 Arten hängt ihr Überleben vom Wattenmeer ab; einer der vielen Gründe, weshalb sein Schutz so wichtig ist und weshalb es nicht nur Nationalpark, sondern auch Weltnaturerbe ist.

„Man lernt eigentlich immer was.“

Um die Zugvögel besser zu beobachten, die prominent Thema in diesem Bildungsurlaub sind, kann man sich im Nationalpark-Haus Baltrum Ferngläser leihen. Zwei Teilnehmerinnen haben sogar ihre eigenen Spektive dabei. Das erweist sich als Glücksfall, denn so hat die Gruppe drei, um die Vögel an den zum Teil doch etwas entfernten Hochwasser-Rastplätzen am Rand des Watts zu beobachten. „Ach, da ist er ja!“ sagt eine Kursteilnehmerin aus Düsseldorf beim Blick ins Okular. Er – das ist der Große Brachvogel. Die Art mit dem extralangen, auffallend gebogenen Schnabel hat die Gruppe vorher im Kursraum schon kennengelernt. Zwei Teilnehmende haben jeweils die Patenschaft für eine der häufigen Zugvogelarten im Wattenmeer übernommen und die Art der Gruppe vorgestellt.

„Ich erkenne die Arten hier natürlich, “ sagt Karin aus der Nähe von Hannover. Sie beobachtet seit Jahren begeistert Vögel, langweilt sich im Kurs aber trotzdem nicht. „Ich habe bei jeder besprochenen Art noch etwas Neues gelernt.“ Birdwatcherin Gudrun aus Hessen stimmt zu: „Man lernt eigentlich immer was. Und man trifft nette Leute.“ Karin zum Beispiel. Sie und Gudrun haben sich vor Jahren so kennengelernt und machen seitdem regelmäßig zusammen Bildungsurlaub in der Natur.

Vogelschwarm kurz vor der Landung am Rand des Wassers
Naturschauspiel: Alpenstrandläufer, Pfuhlschnepfen, Knutts und andere Watvögel fliegen ein auf ihren Hochwasser-Rastplatz.

Die Begeisterung steckt an

„Wo sind meine Spezialistinnen?“ Stefan aus Nordrhein-Westfalen will wissen, was er da gerade genau durchs Spektiv sieht. Nebenan ist die Sache schon klar: „Hier, schau dir mal die Kiebitzregenpfeifer an.“ Ihre schwarze Unterseite hat sie verraten. Die Begeisterung für Zugvögel wirkt ansteckend.

Baltrum hilft mit einem Naturschauspiel kräftig mit. An diesem Spätsommer-Morgen glitzert die Sonne hinten auf dem Watt. Kurz bevor die Flut ihren Höchststand erreicht, fliegen Alpenstrandläufer, Kiebitzregenpfeifer, Austernfischer, Knutts, Pfuhlschnepfen und Möwen in großen Schwärmen ein. Sie landen an ihrem Hochwasser-Rastplatz nicht weit von der Gruppe.

Die Bildungsurlaubsgruppe sitzt und steht am Strand und schaut durch Ferngläser und Spektive.
Vögel beobachten an ihrem Hochwasser-Rastplatz und dabei selbst Pause machen – das geht am Ostende vom Baltrum.

Lebenslanges Lernen wird gefördert – aber nicht überall gleich

Vor der Weiterbildung in der Natur steht erst einmal: Papierkram. Bildungsurlaub ist in Deutschland Ländersache. In fast allen Bundesländern besteht für ArbeitnehmerInnen und zum Teil für BeamtInnen die Chance, sich für bis zu fünf (im Saarland sogar für bis zu sechs) Tage bezahlt von der Arbeit freistellen zu lassen, für berufliche oder politische Weiterbildung sowie teilweise, um sich für ein Ehrenamt ausbilden zu lassen. Nur in Bayern und Sachsen gibt es für Bildungsurlaub bislang keine rechtliche Grundlage, ebenso wenig in der Schweiz und in Österreich. Kurse mit Naturbezug wie der auf Baltrum werden in etlichen Bundesländern anerkannt.

Sich vorher schlau machen und rechtzeitig beantragen

Zuerst sollte man klären, ob man selbst auch ein Anrecht auf eine Freistellung für berufliche oder politische Weiterbildung hat. Das kann etwas mühsam sein, denn nicht alle Arbeitgeber haben damit bereits viel Erfahrung. Es kann lohnen, sich zuerst beim Betriebs-/Personalrat oder einer Gewerkschaft über Details zu informieren, bevor man mit Vorgesetzten oder der Personalabteilung spricht. Einen schnellen Überblick zu den Voraussetzungen bietet auch die Seite bildungsurlaub.de.

Je nach Bundesland besteht erst ab einer gewissen Betriebsgröße ein Anrecht auf Freistellung – in Nordrhein-Westfalen beispielsweise erst ab zehn Mitarbeitern, in Rheinland-Pfalz ab sechs. Gerade wer zum ersten Mal einen Bildungsurlaub plant, sollte vorab das Gespräch mit den Vorgesetzten suchen und sich eine vorläufige Genehmigung holen. Erst danach empfiehlt es sich, den Kurs bei der Bildungseinrichtung zu buchen. Einige Träger bieten aus Kulanz eine kostenlose Stornierung bis zu sechs Wochen vor Kursbeginn an. Das kann wichtig werden, denn ein Bildungsurlaub in der Natur mit Unterkunft und Halbpension kostet in der Regel mehrere hundert Euro, und Arbeitgeber können einen Antrag unter Umständen aus betrieblichen Gründen ablehnen. Der Antrag muss auf jeden Fall rechtzeitig vor Kursbeginn beim Arbeitgeber sein – in der Regel vier bis acht Wochen vorher – je nach Bundesland. Alles in allem hat man es also mit mehreren Monaten Vorlauf zu tun, bevor es dann wirklich ab auf die Insel oder in den Nationalpark geht.

Sandbank mit Seehunden und dunkelgefiederten Eiderenten
Von der Baltrumer Fähre aus lassen sich Seehunde am Strand der Nachbarinsel Norderney beobachten. Die Eiderenten dahinter sind gerade in der Mauser und können nicht fliegen.

Zugvögel, Insektensterben, nachhaltiger Tourismus – es gibt Kurse zu vielen Natur-Themen

Seinen Kurs sucht man sich selbstverständlich selbst aus. Aus der Beschreibung geht meist schon hervor, wie viel man vor Ort draußen unterwegs sein wird und ob eher zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Diverse Bildungseinrichtungen bieten anerkannte Bildungsurlaube mit Naturbezug an, beispielsweise das Forum Unna, das Evangelische Bildungszentrum Ostfriesland-Potshausen, das Lohmarer Institut für Weiterbildung, Dr. Tillmann Travel – Geostudienreisen oder die Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen, um nur eine Auswahl zu nennen. Die Akademie am Meer auf Sylt bietet einen ausgewiesenen Vogelkundlichen Kurs an, der aber leider nur in Schleswig-Holstein als Bildungsurlaub anerkannt wird.

Etliche Träger stellen ihre Angebot auf dem Portal Bildungsurlaub.de ein, das man auch nach Begriffen wie Ökologie und Umwelt durchsuchen kann. Ein Eintrag kostet die Einrichtungen jedoch Geld, weshalb man im Zweifelsfall zusätzlich mit Schlagworten im Netz suchen sollte, falls man einen Kurs zu einem speziellen Thema oder an einem speziellen Ort sucht. Angeboten werden nicht nur Kurse rund um Zugvögel, sondern unter anderem auch zu Müll im Meer, Klimawandel, Meeresspiegelanstieg, Insektensterben, nachhaltiger Tourismus oder Landwirtschaft im Wandel. Die Kursorte können an Nord- und Ostsee liegen, aber auch an der Müritz, im Allgäu, in der Eifel oder im Schwarzwald. Meist sind Übernachtung und Verpflegung inbegriffen.

Toller Kurs, aber nicht in meinem Bundesland anerkannt – was nun?

Sobald man ein konkretes Angebot im Auge hat, sollte man beim Veranstalter nachschauen bzw. fragen, ob dieser eine Anerkennung für das Bundesland hat, in dem die eigene Arbeitsstelle liegt, oder ob der Anbieter es gegebenenfalls noch schafft, die Anerkennung rechtzeitig vorher in die Wege zu leiten. Falls es damit nicht klappt, kann man sich immer noch überlegen: Klingt diese Weiterbildung vielleicht so horizonterweiternd, dass ich sie einfach so mitmachen will – auch in meinem Erholungsurlaub, meinen Semesterferien oder im Ruhestand? Denn oft stehen Bildungsurlaubskurse allen Interessenten offen.

Hinweis in eigener Sache: Die Autorin hat ihren Bildungsurlaub auf Baltrum selbst bezahlt.
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