Iggy-Wilhelms erster Flug

Über meine Liebe zu einer ganz besonderen Vogelart, dem Waldrapp

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
9 Minuten
Eine Nahaufnahme eines Waldrapps.

Als mein Bruder letzten Sommer 50 Jahre alt wurde, schenkte ich ihm einen Waldrapp. Nicht den Vogel selbst natürlich, sondern eine Patenschaft. Die Urkunde samt Foto überreichte ich ihm feierlich bei seiner Geburtstagsfeier. Ich setzte darauf, dass mein naturbegeisterter Bruder sich über einen Waldrapp zum Geburtstag mehr freuen würde als über Blumen. Doch dass das Geschenk für eine lange Zeit die ganze Familie in Atem hakten würde, war mir nicht klar gewesen. Ausgestellt hatte das Dokument der Biologe Johannes Fritz. Er leitet eines der abenteuerlichsten Forschungs- und Artenschutzprojekte Europas. Seit über zehn Jahren versucht Fritz mit seinem Team, diese merkwürdige Ibisart, die bis vor 350 Jahren in den Alpen heimisch war, wieder in ihrem ursprünglichen Habitat anzusiedeln, zuletzt gefördert als EU-Life-Projekt. Mit einer Patenschaft kann man das Projekt finanziell unterstützen.

An zwei Orten – in Burghausen in Bayern und in Kuchl bei Salzburg – hat Fritz in den letzten Jahren über Nachwuchsprogramme neue, frei lebende Waldrapp-Kolonien aufgebaut. Doch bei der Wiederansiedelung des Waldrapp gab es von Anfang an ein besonderes Problem: Die ursprüngliche Population war eine Zugvogelpopulation. Jeden Herbst flogen die Tiere aus dem Alpenraum einst gen Süden. Bloß wohin? Das Wissen darum wurde jeweils von den Altvögeln an die Jungen weitergegeben. Doch die europäischen Waldrappe hatten die letzten drei Jahrhunderte nur als Zoovögel überlebt, erfahrene Tiere mit Ortskenntnis gab es nicht mehr. Damit der Waldrapp dauerhaft wieder in Europa leben kann, musste man ihm also auch sein historisches Gedächtnis zurückgeben. Den Vögeln musste der Weg in den Süden wieder beigebracht werden.

Das Foto auf der Urkunde, die ich meinem Bruder überreichte, zeigte einen jungen Waldrapp, geschlüpft im April 2016 in Kuchl bei Salzburg. Schön war er nicht, aber wir mochten ihn sofort. Seine Punkrockfrisur erinnerte uns an Iggy Pop. Und weil in unserer Familie alle erstgeborenen Söhne traditionell Wilhelm heißen, tauften wir ihn auf den Namen Iggy-Wilhelm. Fürsorglich verfolgten wir fortan den Werdegang unseres neuen Familienmitglieds. Schließlich gehörte er einer der am stärksten gefährdeten Vogelarten weltweit an.

Waldrappe fliegen in Formation vor einem atemberaubenden Bergpanorama in den Alpen
Wenn heute wieder Waldrappe über die Alpen ziehen, ist das eine Naturschutz-Sensation.

Waldrappe besiedelten einst ein großes Gebiet zwischen Nordafrika, Spanien, den mitteleuropäischen Alpen bis in den Nahen Osten hinein. In Mitteleuropa waren sie klassische Kulturfolger, die in Felsen, auf Mauern und an Burggräben nisteten, sich von Aas und Abfällen ernährten. Doch weil sie wenig scheu und noch dazu schmackhaft waren – eine Kombination, die schon dem Dodo zum Verhängnis wurde – wurden sie erbarmungslos gejagt. In alten deutschen Kochbüchern findet man noch Rezepte, wie man den Waldrapp zubereiten kann. „Du kannst den Drappen zurichten wie von einem Schwan“, heißt es im Kochbuch des Marx Rumpolt, dem Mundkoch des Mainzer Kurfürsten Daniel Brendel von Homburg von 1581. Er listet gleich mehrere Waldrapp-Rezepte auf, darunter eine kalte Waldrapp-Pastete „mit Limoniensaft“.

Unser Patenvogel gehörte zu den ersten echten Wilden

Im 17. Jahrhundert verschwanden die letzten europäischen Waldrappe. Der Vogel gehört heute zu den seltensten Vögeln der Erde. Lediglich in Marokko und in der Türkei haben sich winzige Kolonien gehalten, dort haben sie jedoch ihr charakteristisches Zugverhalten verloren. Die letzte noch ziehende freilebende Kolonie ist vor kurzem im Nahen Osten erloschen. Sie befand sich ausgerechnet nahe der antiken Ruinenstätte Palmyra und bestand zuletzt nur noch aus wenigen Vögeln. Seit dem Einmarsch des IS im Sommer 2015 verliert sich ihre Spur. Vor allem weiß man seitdem nichts mehr über den Verbleib des letzten erwachsenen Waldrappweibchens, das noch die Flugroute der syrischen Brutpopulation zum Winterquartier in Äthiopien kannte. Sie war eine wichtige Informationsträgerin, ohne die die Gruppe keine Chance mehr zum Überleben hat.

Vor genau diesem Problem stand auch das Waldrapp-Wiederansiedelungsprojekt in Europa, als Johannes Fritz es 2003 mit ersten Feldversuchen startete. Es gab zwar historische Überlieferungen über Orte, an denen die Vögel bis ins 17. Jahrhundert hinein nisteten. Burghausen in Bayern war so ein Ort, auch Überlingen am Bodensee. Nur, wo sie einst ihr Winterquartier hatten, ist unbekannt. Man war also so frei und suchte sich ein Gebiet aus – eines, das günstige Bedingungen bot für winterliche Waldrapp-Ansprüche und nicht zu weit weg lag. Bei der Suche stießen Fritz und sein Team auf die Laguna di Ortobello, ein Naturschutzgebiet in der Toskana. Den Weg dorthin aber mussten die Vögel erst lernen. Die Waldrapp-Helfer lösten das Problem, indem sie den Vögeln per Ultraleichtflugzeug voranflogen, nachdem sie sie vorher in wochenlanger Hingabe per Hand – Lieblingsnahrung: eingespeichelte Babymäuse! – aufgezogen und auf sich selbst geprägt hatten. Dann der Abflug gen Süden: Gibt es ein anrührenderes Bild als eine Vogelformation, die vertrauensvoll einem ratternden Fluggefährt folgt, in dem seine menschlichen Vogeleltern sitzen?

Die ersten Jahre waren von diversen Pannen geprägt. Notlandungen, falsche Routen, fehlende Aufwinde, um über die Berge zu kommen – Menschen wie Vögel mussten ihre Erfahrungen erst machen. Doch das Experiment gelang. Drei Jahre blieben die ersten Jungvögel in Italien, so lange dauert es, bis sie geschlechtsreif sind. Dann sollten sie selbständig den Weg zurück finden, dahin, wo sie aufgewachsen sind. Als 2011 nach fast vier Jahrhunderten der erste Waldrapp, ein Weibchen namens Goja, alleine aus seinem Wintergebiet nach Salzburg zurückkehrte, wurde im Projekt groß gefeiert.

Vogelschützer begleiten eine Schar Waldrappe mit einem Ultraleichtflugzeug. Die Vögel fliegen in Formation neben dem Flugzeug her.
Menschen als Vogelzuglotsen – so sieht Artenschutz im Anthropozän aus.

Zwölf von Menschen geführte Migrationen hat es seitdem gegeben. Mittlerweile ist ein Drittel der Jungvögel eines jeden Jahrgangs schon eine natürliche Brut, zwei Drittel stammen weiterhin aus Handaufzuchten, die mit Zoovögeln ergänzt werden. Iggy-Wilhelm gehörte der Generation F1 des Projekts an – das heißt, er war schon ein echter Wildvogel, der bereits nicht mehr von menschlichen Ziehmüttern und -vätern, sondern von seinen Vogeleltern aufgezogen worden war, beide bereits erfahrene Migranten, die in der Lage sein sollten, ihre Jungen selber in die Toskana zu führen.

Der kleine Iggy wurde schnell in unsere Familie integriert. Als er flügge wurde und wie alle Vögel des Projekts mit einem GPS-Sender ausgestattet wurde, lud sich die ganze Verwandtschaft den „Animal Tracker“ aufs Smartphone – eine App, mit der man den Weg der Vögel per Satellitenübertragung live mitverfolgen kann. Wir bangten um ihn, denn die Sterblichkeitsrate der jungen Waldrappe ist hoch: 30 Prozent überleben das erste Lebensjahr nicht. Dabei ist, neben der illegalen Vogeljagd in Italien, der Stromtod die häufigste Todesursache. Vor allem unerfahrene Jungvögel sind davon betroffen. „Dieses Thema ist in der Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt“, beklagt Johannes Fritz. „Alle reden von Windrädern als Todesfalle für Großvögel, aber das viel größere Problem sind die Strommasten“. Bei den Waldrappen gibt es in manchen Jahren einen richtiggehenden Massenexitus – wie 2014, als gleich vier Vögel auf dem gleichen Mast ums Leben kamen. „Oft setzen sich mehrere Vögel zusammen auf den Isolator“, erklärt Fritz. „Einer hat Kontakt zum Masten, der letzte berührt mit dem Flügel oder dem langen Schnabel die Leitung“. Der Stromkreis schließt sich, die Vögel verschmoren, keiner hat eine Chance.

Ein toter Waldrapp im Gras.
Toter Waldrapp: den Tieren drohen viele Gefahren, vor allem illegale Jagd und ungesicherte Strommasten.

Bis die Kolonie sich einmal selber trägt, also nicht mehr auf den Menschen und seine Fluggeräte angewiesen ist, wird es noch einige Jahre dauern. Mindestens 140 Individuen stark muss die Kolonie dafür sein, schätzt Fritz. Bis 2019, wenn das EU-Projekt ausläuft, will er zumindest die Zielmarke von 120 Vögeln geschafft haben. Viel wird davon abhängen, ob es gelingt, die Gefahren für die Vögel auf dem Weg in Winterquartier zu minimieren. Das Waldrapp-Team setzt dafür auf die österreichischen Netzbetreiber. Bis 2020, hofft Fritz, wird es in Salzburg und Tirol keine ungesicherten Mittelspannungsmasten mehr geben.

Die Resonanz bei den Unternehmen ist vielversprechend. Denn auch für Waldrappe gilt: Popularität schützt. In Deutschland, Österreich und Italien wird das Projekt immer bekannter. In Burghausen brüten die Waldrappe nach 350 Jahren wieder öffentlichkeitswirksam im Stadtgebiet an der Wehrmauer der Burg. In diesem Sommer soll eine dritte Kolonie in Felswänden bei Überlingen am Bodensee gegründet werden – die historische Brutkolonie war bis ins 17. Jahrhundert hinein von den schwarzen Ibisvögeln bewohnt. In Italien gibt es erfolgreiche Kooperationen mit dem italienischen Jagdverband und örtlichen Gemeinden.

Mittlerweile wird jeder Abschuss zur Anzeige gebracht. Zumeist gegen Unbekannt – aber im vergangenen Jahr wurde erstmals ein Wilderer zu einer Geldstrafe von 2.000 Euro verurteilt, weil er 2012 zwei Waldrappe abgeschossen hatte – einer von ihnen: Goja, die legendäre Waldrappdame, die als erste den Rückweg über die Alpen geschafft hatte. Die Zivilklage auf Schadensersatz steht noch aus – die könnte für den Täter weitaus schmerzhafter werden. Auf 40.000 bis 70.000 Euro wird der Wert eines Waldrapp geschätzt. Fritz hofft, dass sich das Urteil schnell herumspricht. Denn geballert wird weiter. Letztes Jahr traf es wieder fünf seiner Vögel. Besonders schmerzhaft ist das, wenn ein erfahrener Altvogel dabei ist, wichtiger Informationsträger seiner Kolonie.

Wir setzen jetzt fest darauf, dass es unseren Ersatz-Patenvogel Alpi nicht erwischen wird. Er ist drei Jahre alt, sein Junggesellenleben in Italien neigt sich dem Ende zu. Im April wird er hoffentlich die 1.300 Kilometer über die Alpen zurückfliegen, dahin, wo er aus dem Ei gekrochen ist: Nach Kuchl bei Salzburg. Im Moment zeigt sein Icon ihn noch bei der gemächlichen Futtersuche am Strand von Ortobello. Meine Familie wird ihm wieder per Smartphone auf seinem Weg folgen. Wir fiebern mit dir! Go Alpi, go!