Warum wir schlafen. Ist eines der größten Rätsel der Biologie gelöst?

„Ohne Schlaf gibt es kein Bewusstsein“. Teil eins des „Erbe&Umwelt“-Schwerpunkts zum Schlaf. Ein Auszug aus Peter Sporks „Das Schlafbuch“

11 Minuten
Schlafende Frau

Teil eins des „Erbe&Umwelt“-Schwerpunkts zum Schlaf widmet sich einem der größten Rätsel der Wissenschaft: Warum hat die Natur den Schlaf erfunden? Welchen Nutzen hat der eigenartige Zustand, damit er sich im Laufe der Evolution im gesamten Tierreich durchsetzen konnte? Der Versuch einer Antwort.

Der wunderbare Wissenschaftshistoriker und vielfache Buchautor Ernst Peter Fischer schenkte uns in seinem 2015 erschienenen Buch „Durch die Nacht“ eine lesenswerte „Naturgeschichte der Dunkelheit“. Darin findet sich auch eine Liste mit den wichtigsten Meilensteinen der Schlafforschung. Und in dieser notiert Fischer für das Jahr 2007 unter anderem, damals sei folgende These entwickelt worden: „Ohne Schlaf gibt es kein Bewusstsein“. Man mag meine Freude verstehen, als ich das entdeckte, denn dieser Satz stammt von mir. Veröffentlicht habe ich ihn im 2007 erschienenen Buch „Das Schlafbuch. Warum wir schlafen und wie es uns am besten gelingt“.

Es ist der letzte Satz des Buches. Er soll all das bündeln, was ich auf den Seiten zuvor über den damaligen Stand der Schlafforschung zusammengetragen habe. Er soll meine Antwort sein auf die große Frage, warum wir überhaupt schlafen müssen. Damals schreibe ich über diese Frage:

Warum müssen wir schlafen? Warum verbringen wir ein Drittel unseres Lebens in einem passiven, unproduktiven, weitgehend schutzlosen Zustand? Diese Frage stellte sich der griechische Arzt und Philosoph Alkmaion als einer der ersten im fünften Jahrhundert vor Christus. Bis heute konnte sie niemand schlüssig beantworten. „Es ist wahrscheinlich die größte offene Frage der Biologie“, sagt Allan Rechtschaffen, Schlafforschungspionier von der Universität in Chicago, USA.

Natürlich hat sich die Schlafforschung gewaltig weiterentwickelt. Selbst der Schlaf von Vögeln wird erforscht. Viele aktuelle Studien belegen, wie wichtig der Schlaf für unsere geistige und körperliche Gesundheit ist. Doch über den evolutionsbiologischen Ursprung des Schlafs diskutiert die Fachwelt ungebremst. Was ich also vor gut zehn Jahren zum Thema schrieb, ist noch immer aktuell, und es spiegelt in weiten Teilen auch den heutigen Stand der Wissenschaft. Nicht zuletzt deshalb hat der Rowohlt-Verlag dieser Tage „Das Schlafbuch“ noch einmal aufgelegt. Ihnen, liebe Leser*innen von Erbe&Umwelt möchte ich aus diesem Anlass einen kurzen Einblick in die Ideen und Erkenntnisse geben, die eine Reihe fantastischer Neurobiologen, Schlaf- und Traumforscher im Laufe der vergangenen Jahrzehnte entwickelt und zusammengetragen haben, und die mich zu dem Satz über das Bewusstsein, das ohne Schlaf nicht existierte, inspirierten.

Buchtitel von Peter Sporks Buch „Das Schlafbuch“, erstmals erschienen 2007 im Rowohlt-Verlag
Peter Spork: Das Schlafbuch. Warum wir schlafen und wie es uns am besten gelingt, Rowohlt 2007.

Auszug aus „Das Schlafbuch. Warum wir schlafen und wie es uns am besten gelingt“ von Peter Spork

Aufwachen um zu schlafen

Die Hypothese vom Schlaf als natürliche Energiesparmaßnahme hat ihren Ursprung im Winterschlaf. Fledermäuse, Murmeltiere, Hamster oder andere echte Winterschläfer fahren ihren Stoffwechsel über Monate hinweg auf einen Bruchteil des üblichen Bedarfs herunter. Ihre Körpertemperatur kann dann fast auf null Grad sinken, Atmung und Puls verflachen. Die Tiere verbrauchen fast nur noch ein Fünfzigstel der im Wachzustand benötigten Energie. So kommen sie in einem sicheren Versteck mit ihren zuvor angefutterten Fettreserven durch den harten Winter. Wären sie jetzt wach, fänden sie ohnehin nichts zu fressen und fielen vermutlich nur dem nächstbesten hungrigen Raubtier zum Opfer.

Der Winterschlaf erinnert äußerlich sehr an echten Schlaf. Doch in Wahrheit ist er ein so extremer und einseitiger Zustand, dass er andere, aktive und offenbar lebenswichtige Aufgaben des Schlafes nicht zulässt. Nur so erklären sich Forscher die kuriose Beobachtung, dass die Winterschläfer alle paar Wochen ihren Extremschlummer beenden, mit enormem Aufwand ihren Körper für einige Stunden zurück auf Betriebstemperatur bringen, alles nur zu einem Zweck: um zu schlafen! Wenn die Winterschläfer nämlich „aufwachen", dann verbringen sie die meiste Zeit im Schlaf. Dieser Schlaf ist besonders tief, und er ist umso tiefer, je länger die Winterschlafepisode zuvor gedauert hatte. Offenbar treibt der Winterschlaf die Tiere in eine Art Schlafentzug, der irgendwann so groß wird, dass sie die Phase des extrem herabgeregelten Stoffwechsels unterbrechen müssen.

Was auch immer der Grund dafür ist, dass die Winterschläfer aufwachen, es ist etwas, was sie nicht im Zustand völliger Unterkühlung und extrem mangelhafter Treibstoffversorgung erledigen können, es ist ein aktiver physiologischer Prozess, den sie für gewöhnlich im Schlaf erledigen und es ist etwas, was sicher eine Menge damit zu tun hat, warum Schlaf überhaupt so wichtig ist.

Einiges spricht dafür, dass es vor allem Vorgänge sind, die während des Tiefschlafs im Gehirn geschehen, die die Winterschläfer zum zeitweiligen Schlafen bei normaler Körpertemperatur zwingen. Die Forscher fanden jedenfalls, dass die Tiere im echten Schlaf umso mehr Tiefschlafwellen erzeugen, je länger sie zuvor ohne Pause im Winterschlaf verbracht hatten.

Doch was erledigt das Gehirn bloß, wenn es die Tiefschlafwellen erzeugt? Diese Frage versuchten in den letzten Jahren gleich mehrere Wissenschaftler zu beantworten. Ihre Modelle zum Schlafen fürs Gehirn sind spannend. Und sie bringen die Schlafforschung insgesamt ein gutes Stück voran.

Schlafen fürs Gehirn

„Sleep is of the brain, by the brain and for the brain“, weiß Schlafforscher Allan Hobson aus Boston: „Schlaf kommt vom Hirn, wird vom Hirn gemacht und nutzt dem Hirn“. Diese polarisierende Sicht begründet er damit, dass die schlüssigsten Antworten über den Sinn des Schlafs aus den Neurowissenschaften stammten.

Heute wisse man, dass bei Schlafbeginn ähnlich viele Nervenzellen ihre Aktivität erhöhen wie absenken. „Selbst im Non-REM-Schlaf, wenn das Bewusstsein vollständig abgeschaltet sein kann, bleibt das Gehirn signifikant aktiv.“ Immer genauer beobachten die Hirnforscher, was im schlafenden Gehirn passiert: Mit hoch aufgelösten EEGs, die mit zahllosen Elektroden die Aktivität der obersten Großhirnschicht erfassen, sind sie dem Phänomen des lokalen Schlafs auf die Schliche gekommen. Und inzwischen schieben sie ihre Testschläfer sogar in Kernspintomografen, die auf Bildern festhalten, welche Teile in den Tiefen des Denkorgans gerade viel und welche wenig zu tun haben.

So schauen sie dem schlafenden Gehirn bei der Arbeit zu, entdecken, dass sich das Großhirn ein wenig herunterfährt wenn wir zum Beispiel unser Bewusstsein verlieren, dass es aber auch einige Nervenknoten vor allem im Zwischen- und Stammhirn gibt, die beim Einschlafen besonders aktiv sind. Wer sich mit den Bildern auskennt, sieht rasch, ob jemand gerade wach ist, sich im Tiefschlaf oder im REM-Schlaf befindet. Alle drei Zustände rufen im Gehirn unterschiedliche Aktivitätsmuster hervor. Und die Vermutung liegt nahe, dass das Gehirn in jedem dieser Zustände einige ganz spezielle Aufgaben erledigt.

Vieles spricht dafür, dass unser Gehirn im Schlaf Konsolidierungsarbeit leistet, dass es verfestigt, was es im Wachzustand aufgenommen hat. Allerdings wissen die Forscher noch nicht genau, wie die Konsolidierung funktioniert. Derzeit streiten sie zudem, ob der Schlaf für alle Arten von Gedächtnis gleich wichtig ist und inwieweit die verfestigenden Prozesse in unserem neuronalen Netzwerk nicht auch im Wachzustand ablaufen können, wenn das Gehirn ausreichend entspannt ist.

Unumstritten ist jedoch: das schlafende Gehirn arbeitet – und es verbraucht dabei gewaltige Energie. Die Forscher haben gemessen, dass selbst während des Tiefschlafs, wenn die meisten Zellen des Großhirns besonders ruhig sind, sie noch immer etwa 80 Prozent der Aktivität des Wachzustands aufweisen. Die Aufgabe, der sie sich dann widmen, dürfte zumindest bei den höheren Tieren und uns Menschen eine der wichtigsten Gründe für das Schlafbedürfnis sein. Denn Großhirnzellen, die in einer Gewebekultur isoliert sind, fallen sogar von sich aus in das Tiefschlafstadium, wenn man sie nur lange genug am Schlafen hindert.

„Dem Lernen liegen lang anhaltende Veränderungen in der Stärke und Anzahl der synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen zugrunde, die über komplizierte Kaskaden von Ereignissen in den Zellen gesteuert werden“, schreiben Tononi und Cirelli.

Die Schlafforscher Giulio Tononi und Chiara Cirelli aus Madison haben im Jahr 2003 ein Modell über den Zweck des Leicht- und Tiefschlafs vorgestellt, das die bisherigen Beobachtungen über die Aktivitäten des schlafenden Gehirns hervorragend mit den Experimenten über die Gedächtniskonsolidierung im Schlaf und den Ideen von der homöostatischen Regelung des Schlafbedürfnisses in Einklang bringt. Während wir wach sind, lernen und Erfahrungen sammeln, entstehen laufend neue, Energie verbrauchende Kontakte zwischen den Nervenzellen, so genannte Synapsen, und bereits vorhandene Synapsen werden gestärkt: „Dem Lernen liegen lang anhaltende Veränderungen in der Stärke und Anzahl der synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen zugrunde, die über komplizierte Kaskaden von Ereignissen in den Zellen gesteuert werden“, schreiben Tononi und Cirelli.

Diese Formbarkeit des Gehirns, die bei Neugeborenen und Kleinkindern ganz besonders stark ausgeprägt ist, macht das Lernen überhaupt erst möglich, weil es die neuen Assoziationsnetze aufbaut, über die wir unsere Erinnerungen später wieder abrufen können. Irgendetwas muss nun aber mit dem plastischen, sich wandelnden Nervensystem im Schlaf passieren. Tononi und Cirelli vermuten, nur ein kleiner Teil der neuen und verstärkten Nervenzellverbindungen sei wirklich wichtig und müsse dauerhaft erhalten bleiben. Weil aber jede der Synapsen eine Menge biochemischer Substanzen und viel Energie verbrauche – auch die unwichtigen – steige mit zunehmender Wachzeit der Druck, das immer komplexer werdende Assoziationsgeflecht im Gehirn zu vereinfachen. So trage das mit Synapsen zunehmend überfüllte Gehirn seinen Teil zur homöostatischen Komponente S bei, die uns mit fortdauernder Wachzeit immer schläfriger werden lässt. Die Forscher sprechen von der „synaptischen Last“.

Schließlich gebe das Gehirn dem Druck nach und falle in Schlaf. Nun würden in großem Maße Synapsen abgebaut oder abgeschwächt. Letztlich blieben nur die besonders starken und wichtigen Kontakte übrig, die das Gehirn im Laufe der vorhergehenden Wachzeit besonders intensiv und oft genutzt hat. Dadurch könne man nicht nur den positiven Effekt des Schlafs auf unsere allgemeine geistige Leistungsfähigkeit erklären, sondern auch die Experimente zur Steigerung von Gedächtnisleistungen im Schlaf: Durch den Abbau der zumeist überflüssigen Synapsen „bessert sich auf neuronaler Ebene das Verhältnis zwischen wichtigen Signalen und unwichtigem Rauschen“, so die Forscher.

Im anschließenden REM-Schlaf, während dem die Nervenzellen wieder im gleichen Muster aktiv sind, wie im Wachzustand, könnten sich dann vielleicht jene Synapsen verstärken, die den umfassenden Abbau in der Tiefschlafphase zuvor überstanden haben. Die Gedächtniskonsolidierung würde auf diese Art noch einmal vertieft.

Der Clou des neuen Modells ist jedoch, dass es eine mögliche Erklärung für das Auftreten der Deltawellen liefert (Deltawellen sind für den Tiefschlaf charakteristische sehr langsame Schwankungen der elektrische Spannung in der Großhirnrinde, Anm. des Autors). Während des Berges einer Deltawelle sind nahezu alle Zellen des Großhirns gleichzeitig erregt, während des Tales sind sie gleichzeitig ruhig gestellt. Das ist ein biochemisch idealer Zustand, um Synapsen abzubauen.

Es ist aber ein Erregungsmuster, das die normale Datenverarbeitung, wie sie das Bewusstsein im Wachzustand erfordert, blockiert. Die langsam aber deutlich synchron auf und nieder schwingende Erregung aller Großhirnzellen erfordert also den Schlaf und unterstützt zugleich die biochemischen Prozesse, die dem großräumigen Abbau der Synapsen zugrunde liegen, mutmaßen die Forscher aus Madison. Daraus folgere auch, warum der Drang zum Tiefschlaf mit zunehmender Schlafdauer rapide abnimmt und warum solche Hirnteile tiefer schlafen, die im Wachzustand mehr gefordert wurden: Sie müssen mehr Kontaktstellen ausmustern.

Doch selbst Hirnzellen, die von der allgemeinen Datenverarbeitung im Wachzustand gar nicht gefordert werden, die also eigentlich nichts zu tun haben, scheinen spontan aktiv zu werden und Kontakte zu ihren Nachbarn herzustellen. Auch sie bauen also eine synaptische Last auf und erzeugen zumindest theoretisch einen homöostatischen Schlafdruck. Das könnte erklären, warum Tiere aus dem Winterschlaf aufwachen müssen, um zu schlafen, oder selbst die isolierten Großhirnrindenscheiben in den Petrischalen der Schlafforscher irgendwann Tiefschlafwellen erzeugen.

Selbstverständlich ist dieses Modell noch lange nicht bewiesen. Aber es erklärt den Zwang zum Tiefschlaf eher, als eine besonders populäre These aus dem Jahr 1995, nach der die Zellen des Gehirns den Schlaf vor allem für das Auffüllen ihrer im Wachzustand aufgebrauchten Energiespeicher benutzen. Diese Idee der Amerikaner Joel Benington und Craig Heller ist zwar vermutlich nicht falsch. Die Zellen des Gehirns nehmen Glukose tatsächlich vor allem im Schlaf auf. Aber der Zwang dazu scheint nur eine von vielen Komponenten zu sein, die den Schlafdruck erhöhen, vom Schlaf aber nicht gänzlich abhängig sind. Neue Studien – wie zum Beispiel die Analyse des lokalen Schlafs bei Mäusen von Irene Tobler – zeigen jedenfalls, dass sich die Glukosespeicher der Hirnzellen auch dann füllen, wenn Versuchstiere am Schlafen gehindert werden und dass dieser Prozess unabhängig vom Auftreten des langwelligen Schlafmusters ist.

Benington diskutiert inzwischen selbst, ob seine These von 1995 nicht durch die Idee abgelöst werden müsse, der Schlaf sei vor allem eine Grundlage für die Formbarkeit des Gehirns. In einer neuen Theorie geht er mit Marcos Frank sogar so weit, zu vermuten, im Tiefschlaf würden nicht nur Synapsen allgemein abgebaut, sondern besonders wichtige Nervenzellkontakte gezielt verstärkt, damit sich neue Netzwerke im Gehirn verfestigen können. (Für diese These gibt es inzwischen weitere Belege.)

Ihr Fazit, von dem sie selber einräumen, dass es noch sehr hypothetisch ist: Die rhythmische Aktivität der Hirnzellen im Schlaf, von den Theta- und Deltawellen, Schlafspindeln und K-Komplexen bis zu den Schlafzyklen, könne kein Zufallsprodukt sein. (Auch diese Idee gilt mittlerweile dank neuer Untersuchungen als wahrscheinlich.) Man müsse mit zukünftigen Experimenten aber erst noch beweisen, dass diese Rhythmen auf irgendeine Art der Veränderung von Kontakten zwischen Nervenzellen dienen. Dann sei ziemlich klar, dass der ursprüngliche Sinn des Schlafes tatsächlich „die Erleichterung der synaptischen Formbarkeit“ ist. Oder anders ausgedrückt: Dann wissen wir, dass Schlafen für die Unterstützung des Lernens erfunden wurde.

(Als einzige wirkliche Neuigkeit über das Geschehen im schlafenden Gehirn kam zuletzt die wichtige Erkenntnis hinzu, dass sich die Nervenzellen im Schlaf leicht zusammenziehen – das Hirn sozusagen schrumpft. Infolgedessen vergrößert sich der Abstand zwischen den Zellen und Abfallstoffe des Stoffwechsels können leichter abtransportiert werden. Störungen dieser Arbeit könnten einigen Forscher*innen zufolge sogar zur Alzheimer-Krankheit beitragen.)

Schlaf und Bewusstsein

Trotz der Zurückhaltung der Schlafforscher gibt es also in Wahrheit schon eine ganze Menge Hinweise auf den Sinn des Schlafes: Wir schlafen eindeutig nicht, weil wir ruhen müssen. Wir schlafen ein wenig, um Energie zu sparen, wenngleich vermutlich nicht in dem Maße wie es manche kleine Säugetiere tun. Wir schlafen mit Sicherheit zur Erholung, für Wachstum und Regeneration und für ein ausbalanciertes Stoffwechselgefüge. Wir schlafen als Kinder besonders viel, weil wir noch wachsen und unser Gehirn seine Aufgaben noch finden muss. Wir schlafen aber auch als Erwachsene vor allem für das, was unser Denkorgan so anstellt, wenn das Wachbewusstsein ausgeschaltet ist.

Besonders überzeugend ist die These, dass wir schlafen müssen, um unser Gehirn von der Last von Abermilliarden überflüssigen Verknüpfungen zwischen Nervenzellen zu befreien – eine Arbeit, die wir wahrscheinlich gar nicht im Wachzustand erledigen können. Stimmt diese Idee, dann ist das Hin und Her zwischen Wachen und Schlafen eine logische Folge der Arbeitsweise unseres Denkorgans: Beim Wachen baut es Kontakte auf, die es nur schlafend wieder abbauen kann. Übrig bleiben bei diesem Wechselspiel nur jene, im Wachzustand überdurchschnittlich oft oder intensiv genutzte Verbindungen, die für uns – warum auch immer – besonders wichtig waren. Aus ihnen wachsen im Laufe unseres Lebens, Tag für Tag und Nacht für Nacht in kleinen Stücken unsere Erinnerungen.

Erst der Schlaf versetzt uns also in die Lage, unserer Gegenwart vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit einen Sinn zu geben.

Wir schlafen also, um uns zu erinnern. Das gilt nicht nur für den Geist sondern auch für den Körper: Die Gedächtniszellen des Immunsystems brauchen den Schlaf, und auch das innere Gleichgewicht, zu dem unsere Stoffwechsel- und Organsysteme dank der Erholung im Schlaf immer wieder zurückfinden, ist eine Art Erinnerung.

Dass der Schlaf uns aber höchstwahrscheinlich auf ewig ein Rätsel bleiben wird, dafür sorgen die Prozesse im schlafenden Gehirn schon selbst: Sie bahnen den unendlich vielen assoziativen Nervenzellnetzen unseres Gedächtnisses ausgerechnet im Unbewussten – manche sagen auch im Schlafbewusstsein – ihren Weg. So ermöglichen sie, dass wir dem, was wir im Wachzustand erleben, Gedanken hinzufügen und eine Prognose darüber erstellen, was als nächstes passieren könnte. Erst der Schlaf versetzt uns also in die Lage, unserer Gegenwart vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit einen Sinn zu geben. Oder anders ausgedrückt:

Ohne Schlaf gibt es kein Bewusstsein.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch Das Schlafbuch. Warum wir schlafen und wie es uns am besten gelingt", das gerade im Rowohlt-Verlag in der dritten Taschenbuchauflage erschienen ist (320 Seiten, 10,00 EUR).

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