Medikamentenhoffnung, frühe Pubertät und Krebszell-Chromatin

Der Newsletter Epigenetik 30 ist erschienen

13 Minuten
Fünf übereinander gelegte Hefte des Newsletter Epigenetik bilden eine Art Fächer.

Newsletter Epigenetik 30 / Juni 2019 / das neueste aus einem der wichtigsten forschungsgebiete unserer zeit
Titelbild des „Newsletter Epigenetik 30“. Für einen Blick ins Inhaltsverzeichnis weiterblättern.
Inhalt / Grundlagenforschung ab Seite 4, Onkologie ab Seite 11 und so weiter
Inhaltsverzeichnis des „Newsletter Epigenetik 30“.

Heute erscheint die 30. Ausgabe des Newsletter Epigenetik. Dieser unabhängige, seit dem Jahr 2010 alle drei bis fünf Monate publizierte Newsletter fasst die wichtigsten Neuigkeiten aus einem der spannendsten Forschungsgebiete unsere Zeit zusammen: der Epigenetik. Ich bin Autor und Herausgeber des Newsletters, und ich schreibe hier in diesem RiffReporter-Onlinemagazin Erbe&Umwelt zu diesem und einigen anderen Themen. Unterstützt wird der Newsletter Epigenetik durch ein achtköpfiges Gremium aus Mediziner*innen und Forscher*innen, die mich als Mitherausgeber beraten. Einer von Ihnen, Jörn Walter, Genetik-Professor an der Universität des Saarlands in Saarbrücken hat dieses Mal sogar das Editorial beigesteuert (Danke dafür!). Den gesamten Newsletter sowie Informationen über die Mitherausgeber*innen und ein Archiv mit sämtlichen bisher erschienenen Beiträgen, finden Sie auf www.newsletter-epigenetik.de.

In der neuen Ausgabe erfahren Sie unter anderem, dass Mäuse die Folgen eines Traumas über vier Generationen vererben können und wie ihnen das womöglich gelingt. Dazu findet sich – wie auch zu einigen anderen Beiträgen im Newsletter – hier auf Erbe&Umwelt ein ausführlicher Hintergrundartikel,

Sie lesen aber auch über den kritischen Kommentar eines Epigenetikers, der bezweifelt, dass man ähnliche Effekte beim Menschen in absehbarer Zeit nachweisen kann. Noch etwas mehr staunen lässt Sie vielleicht aber ein anderes Experiment: Forscher manipulierten das Erbgut in Zellen weiblicher Mäuse epigenetisch so, dass man mit deren Erbgut Eizellen befruchten konnte. Es entstanden Mäuse mit zwei Müttern, die völlig gesund waren und selbst auf normalem Weg Nachwuchs bekamen. Sogar aus dem Erbgut zweier Männchen wurden Nachkommen gezeugt, die allerdings nur zwei Tage überlebten. Eine dieser Mäuse mit zwei Müttern, die sich um ihren eigenen Nachwuchs kümmert ziert übrigens das Titelbild des Newsletter Epigenetik 30. Auch hierzu existiert ein Erbe&Umwelt-Hintergrund-Artikel.

Doch damit noch lange nicht genug: Sie werden lernen, dass Männer, die vor der Zeugung ihres Nachwuchs in der Kälte waren, vermutlich epigenetisch veränderte Spermien haben. Dadurch bekommen ihre Kinder womöglich mehr braunes Fettgewebe, was sie nicht nur besser vor Kälte schützt sondern auch vor Übergewicht. Außerdem erfahren Sie, warum übergewichtige Mädchen früher in die Pubertät kommen, wieso die Entschlüsselung eines neuen epigenetisch aktiven Proteins Hoffnung auf potenzielle Antikrebsmedikamente weckt und warum es so wichtig ist, dass Forscher eine neue Technik erfunden haben, mit der sie die Eigenschaften des Chromatin genannten Erbgutgemischs aus DNA und Protein regelrecht lesen können. Das sind nur ein paar der insgesamt 18 präsentierten Themen aus den Bereichen „Grundlagenforschung", „Onkologie" und „Wirtschaft, Projekte & Medien", die wie immer ergänzt werden durch „Personalien" und „Termine".

Sozusagen als Appetithäppchen serviere ich Ihnen an dieser Stelle schon mal drei der aktuellen Meldungen. Den gesamten Newsletter können Sie auf www.newsletter-epigenetik.de herunterladen. Dort können Sie sich auch für ein kostenloses E-Mail-Abonnement des Newsletters anmelden. Und wenn Sie in Zukunft auf neue Beiträge von Erbe&Umwelt hingewiesen werden möchten, melden Sie sich bitte auf dieser Internetseite links unten im Feld „Benachrichtigung" an.

Lesen im Chromatin der Krebszelle

M. Ryan Corces et al.: The chromatin accessibility landscape of primary human cancers. Science 362, 26.10.2018, eaav1898.

Jussi Taipale: The chromatin of cancer. Science 362, 26.10.2018, S. 401–402.

Genetiker haben das Genom von Krebszellen in den letzten Jahren sehr gut erforscht und viele neue Erkenntnisse gewonnen. Es ging dabei um Mutationen, die das Krebsrisiko erhöhen oder die bösartige Entartung der Tumorzelle mitverursachen. Untersucht wurden also nur Abweichungen oder bösartige Veränderungen im Text der DNA. Trotz guter epigenomischer Studien weiß man viel weniger über epigenetische Veränderungen in Krebszellen, also darüber, inwieweit Störungen auf der Ebene der Aktivierbarkeit und Regulation der Gene das Krebsgeschehen vorantreiben oder gar auslösen. Das ist vor allem deshalb schade, weil längst bekannt ist, dass es oft gerade Mutationen an solchen Genen sind, die Codes für epigenetische Botenstoffe oder Enzyme enthalten, die Zellen erst so richtig bösartig werden lassen.

Diese Wissenslücke beginnen nun Wissenschaftler um Ryan Corces von der kalifornischen Stanford University mit einem eleganten neuen Ansatz zu lösen. Die Genetiker betrachten weder die Genome (also den DNA-Text) noch die Epigenome (also die biochemischen Anhängsel an und neben der DNA), sie analysieren den Ort des Geschehens direkt. Sie lesen das Chromatin, also jenes Gemisch aus DNA und angelagerten Proteinen, dessen Form letztlich auf der Basis epigenetischer Veränderungen entscheidend dazu beiträgt, wie gut einzelne Gene abgelesen werden können. Mit einer Technik namens ATAC-seq (Assay for Transposase-Accessible Chromatin using sequencing) scannten Corces und Kolleg*innen das Erbgut aus 410 Zellproben von 23 verschiedenen Krebstypen. Die Methode identifiziert all jene Stellen im Erbgut, an denen gerade Gene besonders gut abgelesen werden können. Letztlich erfasst sie, in welchem epigenetischen Gesamtstatus die Zelle sich gerade befindet.

In diesem Video der Stanford University erklären die beteiligten Forscher*innen ihre neue Methode und die Bedeutung der ersten Ergebnisse.

Die Forscher selbst schreiben, es ginge ihnen um „einen systematischen Ansatz zur Untersuchung des nichtkodierenden Genoms in Krebs, der die Diagnose und Behandlung des Leidens voranbringen soll.“ Unter anderem entdeckten die Forscher zahlreiche bislang unbekannte Stellen im Erbgut, an denen Gene an- oder abgeschaltet oder auch in ihrer Aktivität verstärkt werden können. Mutationen an einigen dieser Stellen verändern teils deutlich die Genregulation und die Epigenetik der Zellen. Manche davon scheinen wichtige Antreiber im Krebsgeschehen zu sein. Vor allem der Abgleich der neuen Daten mit öffentlichen Gen-Datenbanken brachte spannende Erkenntnisse. Er liefert Hinweise auf die Funktion der Gene, auf ganze Gen-Netzwerke und auf die Aufgaben epigenetisch besonders aktiver Stellen.

Dass die neue Methode das Potenzial hat, Diagnose und Behandlung von Krebs zu verbessern, zeigten die Forscher ebenfalls: Eine bestimmte Nierenkrebs-Art teilten sie auf der Basis ihrer Daten in zwei Untertypen mit verschieden guten Prognosen auf. Und unter den neu entdeckten Elementen zur Regulation von Krebs-Genen sind natürlich auch einige, die sich als potenzielle Angriffspunkte für innovative Therapien anbieten. Der Genetiker Jussi Taipale vom Karolinska Institut in Stockholm hebt in einem Begleitkommentar die vielen spannenden neuen Entdeckungen hervor, die alleine diese einzelne Studie bereits gebracht habe. Schon jetzt sei es „eine Mine zum Schürfen neuer Ansatzpunkte für zukünftige Studien.“

Wie Übergewicht eine frühe Pubertät auslöst

Maria J. Vazquez et al.: SIRT1 mediates obesity- and nutrient-dependent perturbation of pubertal timing by epigenetically controlling Kiss1 expression. Nature Communications 9, 10.10.2018, doi: 10.1038/s41467–018–06459–9.

In den industrialisierten Ländern setzt die Pubertät bei Mädchen schon seit vielen Jahrzehnten immer früher ein. Das ist nicht zuletzt deshalb ein Problem, weil damit auch ein erhöhtes Risiko einhergeht, im Laufe des Lebens an Brustkrebs zu erkranken. Schon länger vermutet man, dass die Ernährung eine wichtige Rolle bei diesem Trend spielt, denn übergewichtige Mädchen kommen früher in die Pubertät und die Zahl übergewichtiger Kinder nimmt in Industrieländern stetig zu. Jetzt gelang es Forschern aus Spanien und den USA in Experimenten mit Ratten das epigenetische Bindeglied zwischen der Überernährung in der Kindheit und dem verfrühten Einsetzen der Pubertät dingfest zu machen.

Danach sorgen eine gewöhnliche oder eher kalorienarme Ernährung dafür, dass im Hypothalamus genannten Teil des Zwischenhirns das epigenetische Enzym Sirtuin1 Acetylgruppen in der Nähe des Gens Kiss1 von Histonen entfernt und so die Aktivierbarkeit des Gens behindert. Überernährung unterbindet diesen Prozess, so dass Sirtuin1 abnimmt und Kiss 1 ungewöhnlich früh aktivierbar wird. Das löst schließlich den Beginn der Pubertät aus. Die Forscher folgern, man solle in Zukunft noch mehr auf eine ausgewogene Ernährung und ausreichende Bewegung bei jungen Mädchen achten, um einem verfrühten Pubertätsbeginn und dem Anstieg des Brustkrebsrisikos frühzeitig entgegenzuwirken.

Histon-Code-Leser YEATS weckt Hoffnung auf neue Medikamente

Brianna J. Klein et al.: Structural insights into the p-p-p stacking mechanism and DNA-binding activity of the YEATS domain. Nature Communications 9, 01.11.2018, doi: 10.1038/s41467–018–07072–6.

Xin Li et al.: Structure-guided development of YEATS domain inhibitors by targeting p-p-p stacking. Nature Chemical Biology 14, 12/2018, S. 1140–1149.

Thomas Christott et al.: Discovery of a selective inhibitor for the YEATS domains of ENL/AF9. SLAS Discovery, 25.10.2018, Online-Vorabpublikation.

Epigenetiker kennen inzwischen eine Vielzahl verschiedener Modifikationen der Histone. Je acht dieser Proteine bilden gemeinsam mit einem kurzen DNA-Abschnitt, der sich um sie herumwickelt, das Nukleosom, die Grundeinheit des Chromatin genannten Protein-DNA-Komplexes aus dem unser Erbgut besteht. Die Histonmodifikationen – meist Acetylierungen oder Methylierungen – werden auch Histon-Code genannt, weil sie epigenetische Informationen enthalten. Sie bestimmen zum Beispiel, wie leicht oder schwer ein Gen aktiviert werden kann, indem sie das Chromatin mehr oder weniger kompakt zusammenfalten lassen. Es gibt aber auch Histon-Code-Leser. Das sind Proteine, die gezielt an eine bestimmte Art von Histonmodifikation binden – die sie sozusagen lesen – und dabei oft weitere Proteine mit spezifischen Aufgaben zu diesen Stellen hinführen. So kann die Zelle zielgenau einzelne Abschnitte der DNA ablesen, reparieren oder verdoppeln.

Im Newsletter Epigenetik war schon oft von so genannten Bromodomains die Rede, die erkennen, wenn an bestimmten Stellen der Histone Acetylgruppen angelagert sind (siehe z. B. Newsletter Epigenetik 02/2017: Neuartiges Mittel bekämpft Herzschwäche). Biochemiker entwickelten bereits erste Bromodomain-Hemmer. Sie haben ein großes Potenzial als Medikamente, weil sie krank machende, aus dem Ruder gelaufene epigenetische Prozesse sehr viel präziser unterbinden können als epigenetische Mittel der ersten Generation.

Vor wenigen Jahren entdeckten Epigenetiker eine weitere Gruppe von Histon-Code-Lesern, YEATS-Domänen genannt. Diese binden nicht nur an acetylierte Histone. Noch besser erkennen sie so genannte Crotonylierungen. Oft wenn YEATS gemeinsam mit Enzymen eine solche Stelle entdeckt, scheint eine besonders rasch ablaufende Gen-Ablese-Kaskade in Gang zu kommen. Das betroffene Gen ist dann sozusagen superaktiv. Und weil das offenbar besonders häufig in Krebszellen geschieht, die auf diesem Weg auch noch Krebs fördernde Gene anschmeißen, hofft man nun auf eine neue Klasse von Antikrebsmedikamenten. Dazu möchte man YEATS-Domänen noch besser verstehen und Substanzen entdecken, die sie hemmen können. In beide Richtungen haben Forscher nun deutliche Fortschritte erzielt.

Brianna Klein und Kolleg*innen klärten zum Beispiel auf, wie es einer menschlichen YEATS-Variante überhaupt gelingt, spezielle Histonmodifikationen zu erkennen und an die DNA anzudocken. Xin Li und Kolleg*innen entwickelten per biochemischer Anpassung eines Stoffes an eine Bindungsstelle des Proteins eine erste Klasse von YEATS-Inhibitoren. Zudem zeigten die Forscher, dass diese Hemmer tatsächlich in der Lage sind, die Aktivität so genannter Krebs-Gene in Zellkulturen herunter zu regulieren. Thomas Christott wurde schließlich mit Kolleg*innen in einem Screening-Verfahren fündig: Die Forscher sichteten 24.000 Substanzen und entdeckte darunter ebenfalls einen viel versprechenden YEATS-Hemmer.

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