„Die Schüler sind keine Minute später ins Bett gegangen“

Gleitzeit für Schüler: geht das?

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Ein Aktigramm beschreibt den Schlaf-Wach-Rhythmus des Teilnehmers einer Studie zum flexiblen Schulbeginn.

Chronobiologin Eva Winnebeck begleitete das Projekt einer Alsdorfer Schule. Im Erbe&Umwelt-Interview spricht sie über die Ergebnisse.

Alsdorf ist ein kleiner Ort unweit von Aachen. Bekannt machte ihn vor einigen Jahren das dortige Gymnasium. Es setzte auf ein neues Erziehungskonzept, den so genannten Dalton-Plan. Seitdem sind zehn Wochenstunden der Unterrichtszeit für Projektarbeit eingeplant. Die Schüler*innen müssen in der entsprechenden Zeit an der Schule sein, sollen den jeweiligen Stoff aber selbstständig erarbeiten. Für die erfolgreiche Umsetzung erhielt die Schule im Jahr 2013 sogar den deutschen Schulpreis.

Im Jahr 2016 versuchte die experimentierfreudige Schule sich an einer weiteren Verbesserung. Angeregt durch die anhaltende Diskussion über die Vorzüge eines späteren Schulbeginns für Jugendliche, richtete man für die Oberstufe einen flexiblen morgendlichen Schulstart ein. Die erste Schulstunde wurde nur noch für Projektarbeit vorgesehen. Die Schüler*innen durften also täglich selbst entscheiden, ob sie mit der ersten Stunde um acht Uhr oder mit der zweiten Stunde um kurz vor neun begannen. Waren sie später gekommen, mussten sie ihre Projektarbeit später am Tag erledigen.

Was mit Schlagzeilen wie „Gymnasium führt Gleitzeit ein“ Aufsehen erregte, hatte auch einen wissenschaftlichen Hintergrund: Chronobiologen – also Forscher*innen, die sich mit der inneren Zeitmessung des Menschen beschäftigen – wissen längst, dass Jugendliche aufgrund verzögerter Schlaf-Wach-Rhythmen abends nicht zeitig müde werden und morgens länger schlafen können als Erwachsene. Viele Studien aus aller Welt legen zudem nahe, dass ein späterer Schulbeginn für Jugendliche gesundheitliche Vorteile bringt, die Leistungen verbessern kann und noch dazu gerechter ist. Bei Klassenarbeiten spielt es dann nämlich keine so große Rolle mehr, ob Jugendliche tendenziell zu den Frühaufstehern gehören oder nicht.

Glücksfall für die Wissenschaft

Doch das Gymnasium Alsdorf machte noch etwas, und das kann man durchaus als Glücksfall für die Wissenschaft bezeichnen. Man fragte Chronobiolog*innen von der Ludwig-Maximilians-Universität in München, ob sie die Einführung der Gleitzeit-Schule begleiten und auswerten wollten. Diese sagten natürlich begeistert zu. Denn es ist äußerst mühsam, vermutete positive Effekte von gesellschaftlichen Veränderungen mit wissenschaftlicher Sicherheit nachzuweisen. Das gilt auch dann, wenn die Grundlagenforschung eine positive Wirkung solcher Maßnahmen wie beim späteren Schulbeginn für Jugendliche nahelegt.

Also machten sich Eva Winnebeck, die Erstautorin der dieser Tage publizierten ersten Resultate des Experiments, und ihre Kolleg*innen an die Arbeit. 65 Jugendliche im Alter von 15 bis 19 Jahren führten neun Wochen lang – von Anfang Januar bis Mitte März 2016 – ein ausführliches Schlaftagebuch und füllten Fragebögen aus. Etwa die Hälfte trug zusätzlich Armbänder, die tags und nachts deren Aktivität aufzeichneten. Schließlich beobachtete man das Verhalten der Schüler*innen drei Wochen vor und sechs Wochen nach Einführung des flexiblen Schulbeginns.

Das erste Resultat war, dass die Jugendlichen ein ähnlich großes Schlafdefizit haben dürften, wie ihre gesamte Altersgruppe in Deutschland. Gut vier von fünf schliefen an Schultagen weniger als acht Stunden, obwohl für Jugendliche acht bis zehn Stunden Schlaf empfohlen werden. Praktisch alle Schüler*innen ließen sich montags bis freitags jeden Morgen von Eltern oder dem Wecker wecken und schliefen am Wochenende sehr viel länger aus. Zudem waren die Proband*innen ehrlich, denn die Angaben in den Tagebüchern und die Daten der Armbänder stimmten miteinander überein.

Auf den ersten Blick war der flexible Schulbeginn ein voller Erfolg: Fast neun von zehn Jugendlichen fanden den späteren Schulstart positiv. 97 Prozent schliefen an diesen Tagen wesentlich länger, gut die Hälfte brachte es auf mehr als acht Stunden Schlaf, 13 Prozent sogar auf mehr als neun Stunden. Die Nachfrage zum Ende der Studie ergab, dass sich die Jugendlichen während der Gleitzeit ausgeschlafener und konzentrationsfähiger fühlten. Auch das Lernen nach der Schule fiel ihnen angeblich leichter.

Die Jugendlichen fanden die Gleitzeit gut, nutzten sie aber selten

Dennoch kamen die Jugendlichen nur an wenigen Tagen später zur Schule. Obwohl sie das Angebot sehr gut fanden, nutzten sie es kaum. Ihre über alle Tage gemittelte Gesamt-Schlafdauer erhöhte sich durch die Flexibilisierung des Schulbeginns nur um wenige Minuten. Und selbst dieser kleine Effekt war statistisch nicht eindeutig. Im Interview nennt Eva Winnebeck mögliche Ursachen dieser Diskrepanz und macht Vorschläge zur Verbesserung der Schul-Gleitzeit. Außerdem erklärt die Chronobiologin, warum die Resultate der Studie so wichtig sind und sich viele Schulen das Gymnasium Alsdorf zum Vorbild nehmen sollten. Und sie macht klar, dass nicht nur Oberstufenschüler, sondern die gesamte Gesellschaft eine Menge tun kann, um ausgeschlafener zu werden.


Peter Spork: Dass Jugendliche in Deutschland wie fast überall auf der Welt viel zu wenig schlafen, ist längst bekannt. Sie und viele andere Chronobiologen plädieren deshalb für einen späteren Schulbeginn. Warum ist das nötig? Könnten die Schüler*innen nicht einfach früher zu Bett gehen? Das wäre doch viel simpler.

Eva Winnebeck: In der Theorie wäre es natürlich viel einfacher, wenn sich nicht die Gesellschaft ändern müsste, sondern einfach nur die Jugendlichen. Aber leider kommt uns da die Biologie in die Quere. Wir wissen längst, dass sich etwa mit der Pubertät die Schlafzeiten der Jugendlichen allgemein nach hinten verschieben. Sie gehen immer später ins Bett weil sie nicht mehr so früh einschlafen können. Es gibt schon ganz viele Studien, die sich damit beschäftigten, warum sich die schlafregulatorischen Mechanismen in diesem Alter verändern. Man geht davon aus, dass all das irgendetwas mit dem Erwachsenwerden zu tun haben muss und biologisch sinnvoll ist.

Porträt der Chronobiologin Dr. Eva Winnebeck von der LMU München
Chronobiologin Dr. Eva Winnebeck von der Ludwig Maximilians Universität München begleitete mit Kolleg*innen die Einführung der Gleitzeit am Gymnasium Alsdorf. Im „Erbe&Umwelt“-Interview spricht sie über die Ergebnisse.

„Jugendliche können nicht früher einschlafen.“

„Der Schlaf wird insgesamt besser, wenn wir exakter im biologischen Schlaffenster schlafen.“

Aktigramm (Schlaf-Wach-Rhythmus) eines Schülers, der an der Studie von Eva Winnebeck und Kollegen teilgenommen hat.
Auszug des Schlaftagebuchs eines Alsdorfer Schülers. An Schultagen (pink) wird er immer vom Wecker geweckt (blaue Quadrate). An Wochenenden (schwarz) und in den Ferien (grau) schläft er sehr viel später und bekommt mehr Schlaf. Die ersten Wochen existiert noch keine Gleitzeit, aber die Schule beginnt ein Mal pro Woche erst zur zweiten Stunde. Nach den Ferien hat der Schüler die Möglichkeit, freiwillig erst zur zweiten Stunde zu beginnen. Er schläft deshalb an zwei bis drei Tagen pro Woche morgens länger. An einigen Tagen beginnt sein Unterricht nun erst zur dritten Stunde.

„Die ganze Gesellschaft ist unzureichend über Schlaf aufgeklärt.“

„So gut wie man denken mag, ist die Evidenz noch gar nicht.“

Das Schulgebäude des Daltongymnasiums Alsdorf.
Am Gymnasium Alsdorf wird nach dem Dalton-Plan unterrichtet, wofür die Schule im Jahr 2013 den deutschen Schulpreis erhielt. Seit 2016 gibt es zudem einen flexiblen Schulbeginn für Jugendliche.

„Die Schüler verhalten sich auch nicht anders als der Rest der Gesellschaft.“

„Man sollte die Klassenstufe als Maß für den Schulbeginn heranziehen.“

„Sichere und bessere Radwege würden auch schon etwas bringen.“


„Wir konnten ja keine Truman Show aufziehen“

Drei Schüler in einem Klassenzimmer, einer davon schlafend
Wenn die Schule morgens um acht beginnt, ist das für die meisten Schüler zu früh.

„Noch schlimmer als der jetzige Zustand wäre die ganzjährige Sommerzeit.“

Quellen und Lesetipps