Die Hand am Hahn

Polen wegen der Verfassungskrise die EU-Strukturfondsmittel abdrehen? Keine gute Idee. Die wöchentlichen Verfassungsnews von Max Steinbeis

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

ist finanzielles Trockenlegen die richtige Sanktion, wenn es um die Abwehr von Angriffen auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geht? Diese Frage hat sich in der letzten Woche gleich zweimal gestellt. Die NPD und alle anderen künftigen verfassungsfeindlichen, aber nicht -widrigen Parteien (don’t ask) sollen nach dem Willen der Regierungsfraktionen und des Bundesrats von der staatlichen Parteienfinanzierung abgeschnitten werden, wozu der Innenausschuss des Bundestags am letzten Montag ein halbes Dutzend Sachverständige befragt und sich eine ganze Menge ziemlich gut begründeter Kritik eingefangen hat. Parallel dazu hat die Bundesregierung vorgeschlagen und die EU-Kommission gleich weitergedacht, Polen und Ungarn den Geldhahn aus den EU-Strukturfonds zuzudrehen, wenn deren Regierungen weiter die Verfassungsstaatlichkeit in die Zange nehmen.

Auf den ersten Blick wirkt das wie eine gute Nachricht: Dass die EU endlich aktiv werden muss, um die ungarische und die polnische Regierung an ihre jeweiligen Pflichten aus Art. 2 EUV zu erinnern, fordern wir vom Verfassungsblog seit Jahr und Tag (z.B. hier, hier, hier und hier). Die nationalen Regierungen, allen voran die deutsche, hatten bisher dazu keine rechte Neigung erkennen lassen. Das scheint sich jetzt unter dem Eindruck der Abfuhr, die sich Deutschland und Österreich in punkto Asyl- und Flüchtlingspolitik von ihren östlichen Nachbarn abholen mussten, geändert zu haben.

Die Logik dahinter ist nicht unähnlich der bei der NPD-Parteienfinanzierung: Wir können doch nicht die Übeltäter mit unserem Geld ihre Übeltaten verüben lassen! Die polnische und die ungarische Regierung werfen mit sozialen Wohltaten um sich, um sich die Zustimmung ihrer jeweiligen Bevölkerung zu erkaufen, auf dass diese sich nicht über die Aushöhlung ihrer Rechte beschwert – Wohltaten, die sie sich nur dank der Unterstützung aus den EU-Fonds leisten können und mit denen sich im Zweifel ihre Cronies ihre Taschen füllen. Rechtsstaatliche Ermahnungen können Orbán und Kaczynski grinsend als liberale Pietäten abtun. Aber beim Geld träfe man sie dort, wo es wirklich weh tut.

Da ist durchaus etwas dran. Und doch: auf den zweiten Blick scheint mir mit diesem deutschen Vorstoß die europäische Debatte um Polen und Ungarn eine Richtung einzuschlagen, die mir mehr Sorgen als Freude bereitet.

Die polnische und die ungarische Regierung sind ein Problem für Europa nicht deswegen, weil wir sie böse finden. Zum Problem für Europa werden sie deswegen, weil sie die Verfassungsstaatlichkeit ihres jeweiligen Landes nicht akzeptieren. Und Verfassungsstaatlichkeit ist keine moralische Kategorie. Verfassungsstaatlichkeit heißt, rechtlich gebunden zu sein, das Andere möglich zu halten – die Minderheitenposition, die Menschenwürde, die abweichende Meinung. Verfassungsstaatlichkeit heißt, Macht auszuüben, weil und soweit man sie verfassungsrechtlich rechtfertigen kann. Wer diese Bindung für sich nicht akzeptiert, darf nicht am Ratstisch der EU Platz nehmen, weil er sonst den ganzen Rechtsetzungs- und Entscheidungsmechanismus der EU insgesamt kontaminiert. Weshalb es nur folgerichtig ist, ihm nach Art. 7 EUV die Stimmrechte zu entziehen.

Ihnen stattdessen die Strukturfondsmittel zu kürzen, mag effizienter sein, aber diesen Konnex zum Kern des Problems gibt man damit auf. Stattdessen soll der Missetäter durch Zwang auf den Pfad der Tugend zurückgebracht werden: Ändere dein Verhalten, sonst wird es teuer! Nicht nur trifft man damit zuvörderst den strukturschwachen Regionalsack, obwohl man den Esel in der Hauptstadt meint. Man moralisiert das Problem. Die – habituell immer noch sehr europafreundlichen – Polinnen und Polen sähen sich bestraft dafür, die falsche Partei gewählt zu haben, und zwar von Deutschland. Wenn das Ziel der Übung ist, Euroskepsis zu züchten, dann ist das sicher irre effizient. Obendrein impliziert die Kopplung von Strukturförderung und Sanktionen für mangelnde Rechtsstaatlichkeit, dass letztere vor allem ein Problem der ärmeren Staaten bleibt – was erstens angesichts der haarscharf noch mal gut gegangenen Wahlen in Österreich, den Niederlanden und Frankreich an der Realität vorbei geht und zweitens den Eindruck westeuropäischer Old-Europe-Selbstgerechtigkeit noch vertiefen dürfte.

Dazu kommt, dass mir nicht klar ist, in welchem Verfahren eine solche Sanktion überhaupt verhängt werden soll. EU-Haushaltskommissar Oettinger redet von „Konditionalitäten“, die an die Überweisung der Mittel geknüpft werden sollen. Eine Rechtsstaats-Troika aus Kommission, OLAF und Grundrechteagentur, die sich jede Richterbeförderung vorlegen lassen, bevor sie die Strukturmittel freigeben? Really?

Ich kann Kommissionspräsident Juncker nicht Unrecht geben, wenn er findet, dass das „Gift“ wäre für Europa. Umso glücklicher wäre ich, wenn er sich dazu durchringen könnte, auf seinen Vizepräsidenten Timmermans zu hören und die Kommission ihre Arbeit als Hüterin der Verträge machen zu lassen. In Polen hatte Präsident Duda einen der Urkundenfälschung angeklagten Gefolgsmann begnadigt, um ihn zum Geheimdienstchef ernennen zu können, obwohl das Strafverfahren noch gar nicht abgeschlossen war. Der Oberste Gerichtshof erklärte letzte Woche den Gnadenakt für ungültig, weil der Präsident die Justiz erst einmal hätte ihre Arbeit zu Ende bringen lassen müssen – ein Urteil, das der Präsident offenbar in bewährter PiS-Manier zu ignorieren entschlossen ist. Das Verfassungsgericht mag verloren sein, aber der um die Justiz und die Institutionen des Rechtsstaats generell keineswegs, und es sieht nicht so aus, als würde der Kommission das Argumentationsmaterial für ein Artikel-7-Verfahren so schnell zur Neige gehen. Und was das Veto Ungarns betrifft: das könnte man vermeiden, in dem man das Verfahren gegen Polen und Ungarn eröffnet, wie Kim Scheppele gezeigt hat.

Talaq, Talaq, Talaq!

In Deutschland soll nun per Verfassungsänderung der impotenten NPD die staatliche Parteienfinanzierung gestrichen werden, weshalb verfassungsrechtlich dagegen nur schwer etwas zu sagen ist – verfassungspolitisch dafür um so mehr. SVEN JÜRGENSEN beschreibt, wie die Große Koalition damit die Chancengleichheit der Parteien unterminiert und das Freund-Feind-Schema der Rechtsextremen bedient. „Politische Parteien gehören verboten, wenn sie die Potenz haben (könnten), unsere Grundordnung anzutasten. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.“ Welche unerwarteten Folgen der Gesetzentwurf laut Auskunft mehrerer Sachverständiger in der Bundestagsanhörung auf die Beobachtung der Partei durch die Sicherheitsbehörden haben könnte, habe ich hier aufgeschrieben.

In Österreich hat der ÖVP-Jungstar Sebastian Kurz, um Kanzler zu werden, seine Partei zu einer allein auf ihn zugeschnittenen „Liste Kurz“ umgewidmet – ein sehr österreichischer Vorgang, findet STEPHAN LENZHOFER, der sich nur durch den weitgehenden Mangel an effektivem Parteienrecht in der Alpenrepublik erklären lässt.

In der Ukraine hat der Präsident russische Social Networks, Suchmaschinen, Email-Services und Fernsehsender verboten, was PETER VAN ELSUWEGE am Maßstab der Europäischen Menschenrechtskonvention gemessen zwar für problematisch, aber angesichts des andauernden Bürgerkriegs im Osten doch möglicherweise gerechtfertigt hält.

Das Verfassungsreferendum in der Türkei hört nicht auf uns zu beschäftigen. ALI ACAR erklärt, wie die oberste Wahlbehörde ihre Weisung, ungestempelte Wahlzettel für gültig zu erklären, verfassungsrechtlich rechtfertigt und hält eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für mitnichten aussichtslos.

Auch das Singapur-Gutachten des EuGH bietet drei Wochen nach seinem Erlass noch Stoff genug zum Nachdenken. DANIEL THYM führt den Nachweis, dass der listenreiche Gerichtshof in punkto gemischte Abkommen der EU mehr Möglichkeiten bewahrt haben könnte, ohne die Ratifikation nationaler Parlamente auszukommen, als zunächst gedacht.

Ein weiteres wichtiges Urteil aus Luxemburg kam diese Woche zu der klassischen Zambrano-Konstellation, wonach Kinder mit Unionsbürgerschaft ihren Eltern ohne dieselbe ein Aufenthaltsrecht verschaffen können – eine zuletzt unter Druck geratene Rechtsprechung, die jetzt Luxemburg bestätigt hat. IBRAHIM KANALANs Analyse des Urteils ist hier.

In Indien muss der Supreme Court über die muslimische Praxis entscheiden, nach der Männer sich ohne Federlesens von ihrer Frau scheiden können, indem sie dreimal das Wort „Talaq“ sagen. Ob diese Praxis verfassungsgemäß ist, verlangt in dem aufgeheizten religiösen Klima in Indien viel Fingerspitzengefühl, wie MENAKA GURUSWAMY berichtet.

FABIAN STEINHAUERs neue Verfassungsblog-Kolumne „Neues vom Glossator“ ist in dieser Woche mit einer Antwort auf die Frage „Wozu Glossatoren?“ furios gestartet. Ab jetzt jeden Montag!

Anderswo

MANUEL MÜLLER ist ebenfalls kein Fan von einer Verknüpfung der Strukturfonds mit einer Rechtsstaatlichkeitsaufsicht in der EU.

DANIEL TODA CASTÁN sorgt sich um die „nicht-streitbare Demokratie“ in Spanien und sieht angesichts des ungelösten Unabhängigkeitskonflikts mit den Katalanen eine Verfassungskrise heraufziehen.

MARIA HAAG freut sich über das Chavez-Vilchez-Urteil des EuGH als Erfolg für die Rechte von Kindern in der EU.

BARBARA OOMEN und RICARDO RODRIGUES DE OLIVEIRA geben einen Überblick über die rechtliche Situation im Streit um die Flüchtlingsverteilung in Europa und die verschiedenen dazu anhängigen oder schon entschiedenen Gerichtsverfahren.

OLIVIER BEAUD findet in den neuen Regierungsrichtlinien in Frankreich viel verfassungsrechtlichen Stoff zum Nachdenken.

MONICA HAKIMI geht der Frage nach, wie sich die „rote Linie“ des französischen Präsidenten Emmanuel Macron bei weiteren Giftgasangriffen in Syrien zum völkerrechtlichen Ius ad Bellum verhält.

HAROLD HONGJU KOH erklärt, warum US-Präsident Donald Trumps Aufkündigung des Pariser Klimaschutzabkommens rechtlich gar nicht so heiß gegessen wird wie es politisch gekocht wird, DUNCAN HOLLIS weist darauf hin, dass viel davon abhängt, wie genau Trump aus dem Abkommen aussteigt, und ERIC POSNER versteht überhaupt nicht, was das „Kabuki“-Getanze um das Klimaabkommen überhaupt soll.

Nächste Woche dokumentieren wir eine wichtige Diskussion in der Universität Oxford über die Verfassungssituation in Polen mit Beiträgen beider Seiten der Debatte, darunter einer des Verfassungsrichters (oder, wie manche sagen, Anti-Verfassungsrichters) Lech Morawski, und zusätzlichen Beiträgen von Paul Blokker und Tomasz Koncewicz.

Bis dahin, und alles Gute!

Max Steinbeis

VGWort Pixel