Die unmögliche Revolution 2

Sozusagen ein Referendum

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten
Eine Straße im Stadtviertel Grácia in Barcelona mit Graffiti „Adeu Espanya“, das s in Espanya als Hakenkreuz

Heute morgen habe ich mich mit Joan Vintró getroffen, einem freundlichen älteren Herrn, Verfassungsrechtsprofessor an der Universität von Barcelona. Vintró ist eines von sieben Mitgliedern einer Art „Wahlkommission“ für das katalanische Unabhängigkeitsreferendum. Die Gänsefüßchen sind mit Bedacht gesetzt: Die eigentliche Wahlkommission war am 22. September geschlossen zurückgetreten, nachdem das spanische Verfassungsgericht jedem seiner Mitglieder für seine Mitwirkung an dem illegalen Referendum eine Geldstrafe von 12.000 Euro angedroht hatte – pro Tag! In diese Situation will niemand kommen, weshalb sich Vintró beeilt klarzustellen: „Wir sind keine Ersatz-Wahlkommission.“

Was sind sie dann? „Ein Komitee für einen Tag oder zwei“, sagt Vintró. Den Abstimmungsverlauf verfolgen, mit internationalen Beobachtern sprechen, am Ende einen Bericht schreiben – solche Dinge. „Wir üben keine administrative Funktion aus.“ Die offizielle Auswertung der Abstimmungsergebnisse liege in der Hand der katalanischen Regierung. „Es gibt keine unabhängige Wahlkommission.“

Wie sieht es aus mit den mehrfach abgegebenen Stimmen, frage ich das Mitglied der "Wahlkommission. Gab es die tatsächlich? Nicht ausgeschlossen, sagt Joan Vintró. Die App, mit der die lokalen Wahlleiter die Stimmabgabe überwacht haben, sei zeitweise ausgefallen, vielleicht gehackt worden. Diese Fälle seien aber nicht relevant, in seinen Augen.

2,3 Millionen Stimmen sind abgegeben worden, hatte die Regierung am späten Sonntagabend verkündet – was etwa 42% Wahlbeteiligung entspräche. Schließt das die von der Polizei beschlagnahmten Stimmzettel – offenbar rund 700.000 – ein oder nicht? Das sei unklar, sagt das Mitglied der „Wahlkommission“. Darüber könne vermutlich die Regierung Auskunft erteilen. Eine unabhängige Wahlkommission, wie gesagt, gibt es ja nicht mehr.

Wie steht es überhaupt um die Legitimität einer Abstimmung, bei der 700.000 Stimmen verschwunden sind? Kann eine Wahl, bei der Tausende von Urnen von Außenstehenden abtransportiert werden, nach katalanischem Recht überhaupt Bestand haben? Die Frage bleibt unbeantwortet. Die Situation, sagt Vintró, sei eben sehr besonders gewesen.

Da hat er unbestreitbar Recht.

Reicht das als Basis?

Natürlich kann man die Schuld für die Unregelmäßigkeiten der Polizei und der Zentralregierung geben. Aber hilft das? Die Zentralregierung wollte eine reguläre Abstimmung verhindern – was, wenn ihr das gelungen ist? Natürlich kann man sagen, dass die Unregelmäßigkeiten wohl schon nicht so wild gewesen sein werden. Aber trägt das? Kann man auf Basis einer bloßen Vermutung den Überstimmten zumuten, das Abstimmungsergebnis für sich als verbindlich zu akzeptieren? Wenn man bei einer Abstimmung zur Ermittlung des katalanischen Volkswillens nicht pingelig ist, warum macht man sich die ganze Mühe überhaupt? Um zum Punkt zu kommen: Kann und wird diese Abstimmung als Legitimationsbasis ausreichen, um einseitig im Namen des katalanischen Volkes die Unabhängigkeit vom Königreich Spanien zu erklären?

Das sind die Fragen, die ich mir und meinen Gesprächspartnern in Barcelona am Tag nach dem historischen 1. Oktober 2017 stelle. Das Recht gibt auf sie schon längst keine Antwort mehr. Der spanischen Verfassung hat die katalanische Regierung den Gehorsam aufgekündigt; die katalanische Protoverfassung ist durch den Spruch des spanischen Verfassungsgerichts für nichtig erklärt worden. Niemand, auch nicht der bedauernswerte Professor Vintró, kann im Augenblick sagen, was das Recht ist in Katalonien. So ist das bei Revolutionen: Das alte Recht gilt nicht mehr, das neue noch nicht. Es gilt, was sich am Ende effektiv durchsetzt.

Die spanische Regierung, da sind sich alle meine Gesprächspartner einig, hat mit den hässlichen Bildern von Polizeiknüppeln und Platzwunden gestern eine schwere Niederlage erlitten. Aber wer sich am Ende effektiv durchsetzt, das ist noch längst nicht raus.

Eine Hauswand mit einem Eingang, der mit einem bemalten Rollladen verschlossen ist.
Demonstranten in Barcelona protestieren gegen die Polizeigewalt beim Unabhängigkeitsreferendum am 1.10.2017 vor der Polizeiwache in der Via Laietana.