„Ich liebe diese Stadt, trotz allem“

Die Ostberlinerin Tatjana Sterneberg wurde als junge Frau von der Stasi gelinkt, gefangen und geknechtet. Von Berlin kann sie trotzdem nicht lassen. Eine Hass-Liebes-Erklärung.

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Porträtaufnahme

„Ostberlin ist für mich wie verbrannte Erde“, sagt Tatjana Sterneberg und wirft einen Blick aus dem Fenster, zur prallen Kugel des Fernsehturms. Dort, am Alex, stieg die 66-Jährige vorhin aus der Bahn, bog, beäugt von sozialistischen Forschern im Fassadenfries am Haus des Lehrers, in die Karl-Marx-Allee ein. Von ihrem Sitzplatz, in der ehemaligen Mokka-Milch-Eisbar, hat sie auch das Café Moskau im Blick, auf der anderen Straßenseite, Hausnummer 34. „In der Nummer 72“ – mit der Linken deutet Sterneberg die östliche Alleerichtung an – „ da gibt‘s das legendäre Café Sybille. Bin ich mehrmals gewesen, zu Ausstellungen, wollte sogar einen Vortrag halten. Aber dort sind die ganz Dunkelroten, die ehemaligen Genossen, die da hingehen.“
Das hält sie nicht aus, sagt sie mit einem Hauch von Verzweiflung, sich aber sofort wieder fassend. An Berlin hält sie trotzdem fest, scheut für das Interview auch nicht das Areal zwischen Alex und Friedrichsfelde, in der sie mit 21 von der Stasi in einen drei Jahre währenden Albtraum manövriert wurde.

Ein Jahr Untersuchungshaft in Pankow. Zwei Jahre Frauenzuchthaus Hoheneck. Zwangsarbeit, Zwangsverabreichung von Psychopharmaka. Dann von der DDR an die Bundesrepublik verkauft.

Unwillkürlich sucht man nach Spuren im Gesicht der gebürtigen Ostberlinerin, Spuren von Leid, Verzweiflung, Hass. Aber das Gesicht hinter der randlosen Brille mit den filigranen Bügeln gibt solche Spuren nicht her. Nur wenn die berlinernde sonore Altstimme aufbraust, wird eine emotionale Brücke sichtbar zu Sternebergs Martyrium, das vor 46 Jahren begann.

Ausschnitt der verwinkelten Fassadenfront mit zahllosen Fenstern auf neun Stockwerken. An einem fensterlosen vertikalen Fassadenband prangt die reliefartige, von einer Raute umrahmte Darstellung eines aus hoher Tasse dampfenden Heißgetränks.
Unweit von Sternebergs ehemaliger Arbeitsstätte entstanden zur Zeit ihrer Ausbildung als Restaurantfachfrau etliche sozialistische Monsterbauten. Der Fotoausschnitt gehört zum gewaltigen Hochhausblock, der einst die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik der DDR beherbergte, später auch Abteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi). Nach der „Wende“ nutzten bundesdeutsche Behörden die Gebäude, die seit 2008 leer stehen und 2017 eigentlich abgerissen werden sollten, jedoch vom Berliner Senat gekauft wurden und nach Grundsanierung (vorauss. bis 2024) einer Nutzungsmischung für Kunst, Soziales, Verwaltung und Wohnen zugeführt werden sollen. Das Foto entstand im Winter 2018/19.
Fassade des Kino International in der Berliner Karl-Marx-Allee. Über den  drei Eingängen angekündigt: „Bohemian Rhapsody“, „Gundermann“ und „Literatur Live“. An der Frontseite über den Eingängen hängt ein Plakat von „Bohemian Rhapsody“ in etwa sechsfacher Passantengröße.
Großer West- neben kleinem Ost-Hit: Im Kino International der Berliner Karl-Marx-Allee (dahinter stand früher Sternebergs Arbeitsstätte, das Hotel Berolina) kommt im Winter 2018/19 die „Bohemian Rhapsody“ neben „Gundermann“ (Titel über der rechten Eingangstür) bedeutend größer raus.
An der Bretterwand vor dem breiten, zugemauerten Eingang zu dem riesigen Gebäudekomplex sind 3 auf 9 DIN-A-2-große Plakate mit immer derselben Werbeaufschrift für eine „Revue“-Veranstaltung aufgeklebt. Die fetten Lettern verheißen „Die Technik des Glücks“.
Werbeplakate an einem zugemauerten Eingang des ehemaligen „Haus der Statistik“, unweit der ehemaligen Arbeitsstätte von Tatjana Sterneberg in der Berolinastraße.

„Für Berlin prognostiziere ich große soziale Not; die ganze Stadt wird verkauft, vor allem an Immobilien-Kraken. Viele Politiker zicken rum, sind völlig abgehoben und hauen sich teils die Taschen voll für `ne Leistung, die sich nicht wirklich erbringen.“ Sternebergs Ton wird ungehalten: „Die reden immer nur im Konjunktiv: ‚wir sollten, müssten, könnten‘.“ Unaufrichtig sei der Westen schon zu DDR-Zeiten gewesen: „Von wegen Pankower Unrechtstaat – wie verlogen war das denn! Während die Politik nach oben gegeneinander arbeiteten, machten die unten miteinander wunderbare Geschäfte. Die wollen nicht gewusst haben, dass es Zwangsarbeit in den Gefängnissen gibt? Von Hoheneck und Cottbus wissen wir das. Ich habe auf dem Trödelmarkt Strumpfhosen gefunden, die dort gefertigt wurden.“

Hochformatiges Glasfenster eines Trödelladens. Einzig klar zu sehen ist die kleine Hängelampe, die gerade eine Frau mit dem Staubwedel traktiert.
In Berlin lässt sich der Geschichte fast nirgendwo ausweichen, überall mischt sich das Alte mit der Gegenwart. Im Foto spiegelt sich eine Kreuzberger Straßenszene im Schaufenster eines Trödelladens. Klar auszumachen ist einzig eine Hängelampe, in diesem Moment traktiert von einem Staubwedel.
Tatjana Sterneberg und Carl-Wolfgang Holzapfel stehen auf Höhe des Kino International an der Karl-Marx-Allee. Links hinter Holzapfel ist ein Abschnitt des Berliner Fernsehturms zu sehen.
„Wir sind die gelebte Wiedervereinigung“ kommentiert Stasi-Opfer Tatjana Sterneberg, die in Ostberlin aufwuchs, ihre Liaison mit dem Polit- und einstigen Mauer-Aktivisten Carl-Wolfgang Holzapfel, der in Westberlin groß wurde.
Porträtaufnahme
Tatjana Sterneberg beim Gespräch in der ehemaligen Mokka-Milch-Eisbar.
Ein mit einem Fahrradfoto hinterlegter Pfeil von links nach rechts markiert die drei Phasen „Vorrecherchen“, „Radreise Juni '19“ sowie „Auswertung & Analysen“.
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