Heimattangente: In der Peripherie der Metropolen durch Deutschland

Tausend Kilometer per Fahrrad, von Baden-Württemberg bis Mecklenburg.

16 Minuten
„Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth“, verheißt das Straßenschild.

Anlässlich des Mauerfall-Jubiläums vom 9. November 2019 erschien in der Frankfurter Rundschau meine Reportage zu acht Etappen meiner Deutschlandfahrt. In jenen acht Tagen querte ich von Süd nach Nord acht Bundesländer. Hier gebe ich die Reportage in textlich und fotografisch erweiterter Form wieder.

Kilometer 0: Beuren, Schwäbische Alb

Schon zum Auftakt der Junifahrt durch Landschaften, Dörfer, Kleinstädte schwitze ich fürchterlich. Die erste Hitzewelle des Sommers naht, ich arbeite mich eine Bergstraße hoch. Schweißtreibend wirkt auch die Aufregung: Aufs Geratewohl Menschen anzusprechen um sie für Interviews über die Lage in Deutschland zu gewinnen, ist kein Kinderspiel. Irgendwie bedrückt mich auch die Szenerie: Hinter mir ragt die strenge Burg Hohenzollern in den blauen Himmel, vor mir liegt, am Ende der Bergstraße, eine der gut vierzig Bismarck-Gedenkstätten Baden-Württembergs.

Das bepackte Rad des RadelndenReporters lehnt am Bismarck-Gedenkstein.
Einer der gut vierzig Bismarck-Gedenkstätten Baden-Württembergs. Dieser Stein steht an der Bergstraße nach Beuren, unweit von Hechingen.
Der RadelndeReporter schaut in Richtung Burgberg.
Die Radroute führt unweit der Burg Hohenzollern an Hechingen vorbei. Das Insert zeigt die Burg in Nahaufnahme.

Danach kommt Beuren wo ich, wäre ich per Mountainbike unterwegs, noch den Gipfel des Dreifürstenstein mitnehmen könnte. Stattdessen schiebe ich zur Sonnenterrasse des Dorfgasthauses, wo sich das erste Spontangespräch zum Thema Ost-West entspinnt. Ausgerechnet im reichen Württemberg, schwäbelt eine Rentnerin, die am Fuß des Burgbergs lebt, begegne die Mehrzahl dem Osten mit Ablehnung. „Manche saget, no sollt mer de Mauer noch drei Meter höher mache. Aber die da so rausschwätze hen ja kei Ahnung, wie die drüben glebt hen – die hen ja kei Freiheit ghabt. Davon hen viele gar kei Ahnung!“

Und meist kein Interesse, darüber zu reden. Das stelle ich auf meiner Weiterfahrt durchs „Ländle“ fest. Ein einziges Gespräch über Deutschland gelingt mir noch, dreißig Kilometer hinter Beuren, aber es versackt in einem Schimpfmonolog, Kernzitat „Der Deutsche ist ein Schlamper geworden, und das hat er gelernt von den Ausländern“.

Haus, Treppenaufgang und Beete sind akkurat auf rechteckige und gerade Formen getrimmt und penibel sauber gehalten.
Schwäbische Aufgeräumtheit „Im Hörnle“, Eningen unter Achalm. Zitat eines Eninger Rentners: „Der Deutsche ist ein Schlamper geworden, und das hat er gelernt von den Ausländern.“

Auf der langen Etappe von der Alb nach Franken geht er mir nicht aus dem Kopf, der Sermon jenes Mannes. Er klagte unter anderem, kaum Jemand würdige noch Feiertage in ihrem eigentlichen Sinn. Ist sein Unmut gegen Ausländer womöglich nur der Ausdruck von Ängsten, die Insignien von bzw. den Halt an Heimat und Traditionen zu verlieren?

Kilometer 292: Krautostheim, Mittelfranken

In Bayern haben Bauern Grund zu klagen. Nach jüngsten Erhebungen verlor das Land in der zurückliegenden Dekade rund 15.000 Höfe – etwa 15 Prozent des Gesamtbestandes. In vier Ortschaften unweit von Neustadt/Aisch sorgt eine mittelalterliche Tradition wenn nicht für materielle, so doch zumindest für spirituelle Zufriedenheit. Die Rede ist von der Osing-Verlosung, benannt nach einem Hügelzug.

Rad Rennrad lehnt an einem Pfosten mit der Aufschrift „Blumen zum Selbstschneiden“ sowie Preisliste darunter. Allerdings steht nur hohes Gras hinter dem Schild.
Helmut Kohls „Blühende Landschaften“ vermisst man auch mancherorts in den Alten Bundesländern. In Mittelfranken (Foto) und ganz Bayern geht die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe kontinuierlich zurück.
hinter dem Ortschild von Krautostheim ist das braune „Kulturerbe“-Schild zu sehen sowie das Vehikel des RadelndenReporters.
„Kulturerbeort“: Die Osing-Verlosung steht unter dem Schutz der UNESCO.

Alle zehn Jahre ziehen auserwählte Kinder die Lose, um rund 200 Hektar Ackerland unter den ansässigen Bauern neu zu verteilen. Wie findet das Werner Rummel, Landwirt in Krautostheim? Rummel druckst herum, lacht und reißt sich zusammen um nicht allzu deutlich zu werden. „Also; hmm; rein von der Bewirtschaftung her, da bin ich nicht so begeistert.“ Weil etliche unwegsame, eher unzugängliche Landabschnitte dabei sind und solche mit schlechten Böden habe sich insgeheim eingebürgert, dass Landwirte nach der Verlosung Parzellen untereinander tauschen dürfen. Hoppla, bin ich da einem bäuerlichen Fake-Use UNESCO-geschützter Regeln auf die Schliche gekommen? Weitere Gespräche im Dorf zügeln meinen investigativen Trieb: Am wichtigsten ist den KrautostheimerInnen der Verlosungsbrauch an sich, die Brücken zur religiösen Sagenwelt und das Einbinden der Kinder in die Tradition.

Traditionell fahre ich jedes Jahr in die Region nördlich von Mittelfranken. Weil ich dort aufwuchs, habe ich recht festgefahrene Vorstellungen von Oberfranken. Aber diesmal nähere ich mich völlig anders und bin baff. Vor Bamberg steht ein riesiger Hofladen, der seinen Namen geradezu sprengt. Derartige Dimensionen besaßen zu meiner Jugend große Einkaufszentren.

Auf dem Grünstreifen neben der Dorfstraße steht „Vorsicht Rauschgefahr – Kerwa 11.7.-15.7.19“.
Aus jungen Jahren weiß ich: In Franken hat man ein recht entspanntes Verhältnis zum Alkoholkonsum. Das warnende Schild stand in Ullstadt, Mittelfranken.

Hinter Bamberg amüsiere ich mich über einen alten, bezopften Gastwirt, der meine mittägliche Bestellung eines alkoholfreien Biers mit den Worten quittiert: „Ich trink ja so etwas nicht – und damit keine falschen Gedanken aufkommen: Ich hab auch keinen Sex mit Gummipuppen." Rührt der Übersprungskommentar des Wirts von der unerträglichen Saharahitze her, frage ich mich, oder vom Anblick meiner schweißfleckigen Kunststofftracht und der schicken Plastikbrille unter dem ausladenden Radhelm?

Der RadelndeReporter quert ein leeres Festzelt auf dem Rad.
Feste feiern und frühmorgens das Zelt sauber hinterlassen. So etwas schätze ich in BAYERN – Rang 1 im ADFC-Länderranking für Radreisen. Das Foto entstand vor dem Feuerwehrhaus von Haig, Oberfranken, nach der wilden Johannisnacht-Feier 2019.
An der Grenze zu Thüringen steht das Schild „Hier waren Deutschland und Europa bis zum 2. Dezember 1989 um 8 Uhr geteilt“.
Déjà-vu an der Grenze zu Thüringen: Dieses Sträßchen kenne ich! Nein, ich kann nur die Kurve kennen, aus deren Peripherie dieses Sträßchen nach Norden abzweigt. Durch die Kurve, so meine Rekonstruktion, fuhr ich 1986 auf Bayerischer Seite im Alter von Neunzehn, mit meinem ersten Rennrad.

Kilometer 411: Blankenberg, Thüringer Schiefergebirge

Absurde Grenzabschnitte der einstigen DDR sah ich viele. Aber am Rand der steil zum Grenzfluss Saale abfallenden Felswände Blankenbergs bin ich perplex. Am Fluss hielt die DDR den Betrieb einer uralten Papierfabrik auch nach der Abriegelung zu Bayern am Laufen. Ich rätsle über die Logistik der von Dorf und Hinterland durch einen sperrigen Berg isolierten Fabrik.

Einblick ins Saaletal von der Bastei Blankenbergs aus.
Thüringer Schiefergebirge, Saaletal: Obwohl direkt am Grenzfluss gelegen, wurde die alte Papierfabrik von Blankenberg auch zu DDR-Zeiten weiter betrieben.

Darüber sinnierend, dass die Saale zugleich Lebensader für Maschinen und Todeszone für Arbeiter war, stellt sich mir ein Mann erklärend zur Seite: „Direkt hinter der Fabrik war der Sperrzaun mit Spanischen Reitern.“ Dort sei 1962 sein Bruder mit zwei kleinen Kindern bei minus zwanzig Grad und einem guten halben Meter Schnee irgendwie durchgekommen. „Wie, das konnte er mir nie richtig erklären, wahrscheinlich war der in einer Art Flow.“ Der Mann, der seinen Namen nicht aufgeschrieben sehen möchte, startete gestern im Thüringer Wald per E-Mountainbike über den Rennsteig, um heute Eiserne Konfirmation zu begehen. Wie erlebte er die Nachwendezeit? „Ich hatte keine Probleme, wurde als Fernmelder von der Telekom übernommen und sehe mich als echten Gewinner der Einheit; hatte auch keinen Grund, irgendetwas nachzutrauern wie das Viele heute machen.“ Bevor er weiter geht, erzählt er schmunzelnd von den Kraxeleien mit Jugendfreunden – hin und wieder absichtlich Steine lostretend, wenn unten Grenzer patrouillierten.

Wetter- und Leistungsextreme auf dem Rad haben mein Immunsystem geschwächt. Seit dem Recherchestart bin ich in drei Tagen fast 4.000 Höhenmeter und mehr als 400 Kilometer gestrampelt. Zusammen mit der Radreise von meinem Wohnsitz in Lübeck nach Beuren summieren sich diese Zahlen auf 15.000 Höhenmeter und 1.600 Streckenkilometer. Nun zwingt mich in Thüringen eine Darmgrippe zu drei Tagen Pause.

Der RadelndeReporter auf einer alten Brücke über die Saale.
Späte Morgensonne in einem schattigen, tief eingeschnittenen Tal des Thüringer Schiefergebirges. Der RadelndeReporter auf einer alten Brücke über die Saale.

Nach der Zwangspause gerät der letzte, eigentlich läppische Mittelgebirgsanstieg hinter dem vogtländischen Kemnitz zur Tortur. Trotz Gluthitze beginne ich zu frieren und zu fiebern, habe keine Kraft für Recherchen.

Selbstporträt mit Helm, im Wald; das Rad lehnt an einem Felsen.
Hinter Plauen/Sachsen: In angeschlagenem Zustand suche ich eine schattige Alternative zur heißen Landstraße – auch wenn ich dabei über eine Felspassage tragen muss.

Erst im Norden Sachsens bin ich fit, freue mich über die Hitze und darüber, dass östlich von Leipzig die Tagebau-Folgelandschaft nicht so schlimm aussieht wie befürchtet. Bis 2030 soll hier die Zahl der Seen auf 23 anwachsen sowie mit Flüssen und Kanälen der Großstadt verbunden sein. Als schwebe ich über dem Wasser, fahre ich zwischen Hainer und Kahnsdorfer See über eine schmale Landbrücke.

Der Bauboom am Hainer See erinnert mich nicht zuletzt sengender Sonne wegen ans Mittelmeer. „Zum Leuchtturm“ heißt hier ein Imbiss; „Lagune – Hafenplatz“ strahlt tiefblau ein frisch eingepflocktes Schild. Die hochbetagte Sächsin aus Kahnsdorf mit Küchenschürze, deren Hund hier gerade sein Bein hebt, sieht den Haus- und Autobahnbau rund um die Seenlandschaft skeptisch. Ich erwidere, Kahnsdorf stand bis 1995 quasi unter Belagerung; Riesenbagger lärmten, stanken, pulverten Tag und Nacht. Ist das heute so nicht viel besser hier? „Da kann man geteilter Meinung sein“, meint die Frau, weitertrottend ohne auf mein erneutes Nachfragen zu reagieren.

Das Rad lehnt an einem Schild mit der Aufrschrift Parkplatz Lagune – Hafenplatz Hainer See.
Bis zu 23 Seen sollen in der ehemaligen Tagebaulandschaft um Leipzig entstehen.

Kilometer 684: Piesteritz, anhaltinische Elbe

Unweit von Deutschlands beliebtestem Flussradweg treffe ich im Westen Wittenbergs einen Mann der klaren Worte: Rolf Kißling, Fotograf und Dozent der Muthesius Kunsthochschule. Verabredet bin ich in der größten autofreien Siedlung Deutschlands, der hundert Jahre alten Werkssiedlung im Stadtteil Piesteritz. Die rund 300 Wohnungen, seinerzeit für Arbeiter einer Düngerfabrik erschaffen, verloren gegen Ende der DDR-Ära durch Billigreparaturen und Materialmangel zunehmend ihr Gesicht, sagt Kißling.

Martin C Roos neben Rolf Kißling.
Kam aus dem Norden extra zum Interview nach Piesteritz/Wittenberg (Sachsen-Anhalt): Rolf Kißling, 79 Jahre und in Piesteritz aufgewachsen.

Wie heute kaum noch jemand ist der 79-Jährige vertraut mit Piesteritz: wohnte ab 1948 als Kind und Jugendlicher dort, lichtete es 1983 für seine Diplomarbeit ab und nahm die Motive 2019 erneut auf. „Glücklichen Umständen und einer Reihe engagierter Leute ist es zu verdanken, dass die Siedlung gerettet wurde. Denn beinahe hätte die Treuhand 1995 damit angefangen, die Einzelhäuser Privatleuten zur weiteren Gestaltung in Eigenregie zu überlassen.“ Die neue Siedlungsverwaltung gestaltete Innenräume modern um, renovierte aber außen behutsam, um den ursprünglichen und einheitlichen Charakter wiederherzustellen. Dazu gehören Wegbiegungen, manch zu sozialistischen Zeiten zugemauerter Torbogen und runde Strukturen – also alles andere als ein streng gerasterter Häuserverband. „Das macht diese alte Garten-Werksiedlung so vorbildlich“, sagt Kißling.

Straßenzug von Piesteritz.
Piesteritz-Werksiedlung: im Jahr 2019 hundert Jahre alt geworden und nebenbei der älteste autofreie Siedlungskern Deutschlands. Nach den Worten von Rolf Kißling eine architektonisch schützenswerte, „vorbildliche Garten-Werksiedlung“. Obwohl Piesteritz zwischen Industriegebiet und Großstadtkern liegt, stören keine Maschinen die Ruhe. Vögel zwitschern um die Wette, Passanten kündigen sich durch Schrittgeräusche an, bevor sie um eine Hausecke biegen.

Obwohl die Siedlung zwischen Industriegebiet und Großstadtkern liegt, stören keine Maschinen die Ruhe. Vögel zwitschern um die Wette, Passanten kündigen sich durch Schrittgeräusche an, bevor sie um eine Hausecke biegen. Bewusst wird mir diese Idylle im anschließenden Kontrastprogramm: auf den Autostraßen heraus aus Sachsen-Anhalt.

Das Reporterrad lehnt am Ortsschild von „Klein Schulzendorf – Stadt Trebbin“.
Der niedliche Schein trügt: Im Brandenburg südlich Berlins spiegelt starker Straßenverkehr das wirtschaftliche Erstarken des Landkreises Teltow-Fläming wider.

Den Süden Brandenburgs durchziehen wenige Straßen, aber die sind stark befahren. Nett fährt es sich auf Teilen des ausgedehnten Rad- und Skate-Wegenetzes, das für mich südlich von Jüterbog beginnt und in Luckenwalde endet. Danach scheine ich mal mit, mal gegen Verkehrswellen zu fahren, deren Epizentrum bereits in der Bundeshauptstadt liegt.

Martin C Roos mit seinem Rad vor Reichs- bzw. Bundestag.
Nach insgesamt 2.070 Kilometern: im Zentrum der Hauptstadt. Außergewöhnliche Berlin-Aufnahmen – jenseits allfälliger Touristenströme – habe ich im „Bilder-Riff-Buch“ unter https://www.riffreporter.de/deutschland/nicht-touri-berlin-fotos zusammengestellt. Mit dem Kauf dieses Beitrags unterstützen Sie direkt die Arbeit des RadelndenReporters.
Lochplatten-Skulpturen des „Molecule Man“ im Gegenlicht der untergehenden Sonne. Von den drei Skulpturen sind aufgrund des Aufnahmewinkels nur zwei zu sehen.
Berlin: Lochplatten-Skulpturen des „Molecule Man“ im Gegenlicht der untergehenden Sonne. Von den drei Skulpturen sind aufgrund des Aufnahmewinkels nur zwei zu sehen.

Kilometer 827: Berlin

Vor dem Flughafen Schönefeld gibt sich Brandenburg noch einmal versöhnlich, mit lieblichen Hügeln, Pferderanch, alten Villen. Dann umfängt mich Berlins herbe Geschichte. Ich halte mich an den Mauerweg, studiere die Erklärtafeln, schlängle mich an den drei touristischen Hotspots Checkpoint Charlie, Brandenburger Tor und Reichstag durch die Massen. Mein Ziel ist die Bernauer Straße, wo der Mauerbau die Stadt am krassesten zerschnitt. Noch im August 1961 folgt der siebzehnjährige Carl-Wolfgang Holzapfel von Westberlin aus erstmals seiner Berufung als Provokateur. Vier Jahre später setzen ihn DDR-Grenzer bei einer Protestaktion jenseits der Demarkationslinie fest. Es folgen Stasihaft, endlose Verhöre, Freikauf durch die Bundesrepublik.

Als ich zum Treffpunkt mit Holzapfel in Berlin Mitte komme, um ihn zum Thema gewaltfreier politischer Protest zu befragen, bin ich auf einen gebrochenen Menschen gefasst, stelle mich auf behutsames Fragen ein. Doch Holzapfel ist ein rüstiger Mittsiebziger – als ob er mit den einstigen Hungerstreiks sich nicht fast den Tod verschafft hätte, sondern die Basis gesunder Lebensführung. Aus Holzapfels Worten klingt keine Kampflust heraus sondern kristalline Ruhe. Ihr verdankt er wohl seine Leidensfähigkeit im Protest gegen die deutsche Teilung und das DDR-Regime. 1961 schwor er sich: „Du wirst so lange gegen diese Mauer kämpfen, bis Du stirbst, oder bis diese Mauer gefallen ist. Ich hielt mich an die Tradition Gandhis, der sagte: Hab kein Vertrauen in Appelle, wenn dahinter nicht die Kraft steht, etwas Persönliches zu opfern. In meinem Fall hieß das: Mir ist mein Anliegen so wichtig, dass ich keine Angst habe eingesperrt zu werden.“

Porträt-Aufnahme mit Häuserzeile und Fernsehturm-Abschnitt im Hintergrund.
„Ich hielt mich an die Tradition Gandhis, der sagte: Hab kein Vertrauen in Appelle, wenn dahinter nicht die Kraft steht, etwas Persönliches zu opfern. In meinem Fall hieß das: Mir ist mein Anliegen so wichtig, dass ich keine Angst habe eingesperrt zu werden.“ 1965 setzen DDR-Grenzer Carl-Wolfgang Holzapfel bei einer Protestaktion jenseits der Demarkationslinie fest. Er landete im Stasigefängnis, später wurde er von der Bundesrepublik freigekauft.

Holzapfels Worte hallen in mir nach als ich auf der Weiterfahrt die Jugendstrafanstalt in Nordwest-Berlin passiere. Über dem Gefängniseingang hängt ein Transparent mit der Aufschrift „Jugend hat Zukunft – wir feilen dran!“

Anders als im Brandenburg südlich von Berlin habe ich mir gen Nordwesten kleinstmögliche Straßen zur Weiterfahrt herausgepickt. Weil hier die am dünnsten besiedelten Gebiete Deutschlands liegen, bedeutet das allerlei Umwege. Und unwegsames Fahren: Die ersten dreißig Kilometer nach der Hauptstadtgrenze liegt meist nur eine dünne, ausgebeulte Asphaltdecke über gefühlt kaiserlichen Pflastersteinen. Manchmal ist nur eine Spur asphaltiert, sodass ich bis zum nächsten Gegenverkehr auf der falschen Seite fahre, damit es mir über meinen 23-Millimeterreifen mit dem Druck von sieben Bar nicht eine Bandscheibe zwischen den Lendenwirbeln heraushaut.

Das Rad lehnt am Ortsschild von Lobeofsund, auf der Kopfsteinpflasterstraße ist nur eine Spur asfaltiert.
Brandenburg nordwestlich der Hauptstadt wartet nicht nur mit kuriosen Ortsnamen auf, sondern auch mit eigenwilligen Formen von „Radwegen“: Um nicht auf kilometerlang von Kopfsteinen durchgerüttelt zu werden, fahre ich auf der Gegenfahrbahn – nur dass man so bisweilen vor großen Vehikeln zu flüchten hat.

Kilometer 879: Karolinenhof, Landkreis Oberhavel

Belohnt werde ich mit nahezu autofreiem Fortkommen und mit kuriosen Ortsnamen: Pausin, Paaren im Glien, Börnicke. Die erste Einkehrmöglichkeit finde ich im Karolinenhof, westlich von Kremmen. Dort kann ich, nach all den Männern, im siebten Bundesland meiner Route wieder eine Frau zum Interview gewinnen. Gela Angermann kaufte den Hof mit Ihrem inzwischen verstorbenen Mann 1991 von der Treuhand. Sie belebten holländische Käsereitradition aus dem 18. Jahrhundert, angetrieben von einer glücklichen Mischung aus Fleiß und Anarchie (das „Schwarzer-Stern“-Emblem ziert noch heute das Hof-Logo). Zunächst verkauften die Angermanns auf Märkten in Berlin; heute wird hundertprozentig direkt vom Hof vermarktet – obwohl Berlins Mitte mit dem Auto über eine Stunde entfernt ist. Seit bald zwanzig Jahren betreibt Angermann zudem das „Wiesencafe“, es war Brandenburgs erstes biozertifiziertes Café.

zwei Fotostrecken aus Brandenburg gibt’s in meinen Riff-Beitrag „Was Brandenburg schon vor dem 1. September wählte“.

Neben einem dunkelblauen Simson-Moped steht ein hellblauer Trabbi.
Glänzendes Blech und Pappe stehen im Schönheitswettstreit beim Simson-Treffen Vietnitz.
Einem gelben Moped fehlt das Hinterrad
Simson-Treffen in Vietznitz: Schön, auch wenn nicht mehr einsatzfähig

Zugegeben, der Cappuccino mit aufgeschäumter Ziegenmilch ist gewöhnungsbedürftig. Aber so schlürfe ich mich quasi bereit für andere ungewöhnliche Leidenschaften im westlichen Havelland: zum Beispiel das Jahrestreffen der Moped-Kultmarke Simson in Vietznitz, mit Motorblock-Weitwerfen und Felgen-Zielwurf. Vier Kilometer weiter schlendern tiefschwarz gekleidete, maximal tätowierte Langhaarige unter der Mittagssonne durch Friesack, in Erwartung des Abschlusskonzerts beim Black-Sun-Festival. Ohnewitz, so heißen wenig später Straße und Ortsteil im „Ländchen Rhinow“.

Straßendorf mit schwarz gekleideten Rockern.
Wilder Westen Brandenburg: Schwarze Gestalten verschlendern in sengender Juni-Hitze die Wartezeit bis zum Abschlusskonzert beim Black-Sun-Festival in Friesack.

Kilometer 935: Joachimshof, Naturpark Westhavelland

Zwanzig Kilometer hinter Ohnewitz rolle ich auf den Lochplatten eines Kolonnenwegs in Joachimshof ein. Ich streife hier zum wiederholten Mal den Landkreis Ostprignitz-Ruppin, der im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Aufholjagd in den Neuen Ländern als erstrangig gilt. Aber vom Aufschwung Ost ist in Joachimshof nichts zu spüren. Deprimiert glotzen sich der monströse Backsteinspeicher am einstigen Gleisbett und das verfallende Bahnhofswärterhäuschen aus blinden Fenstern an.

Ehemaliges Bahnhofsareal: Deprimiert glotzen sich der monströse Backsteinspeicher am einstigen Gleisbett und das verfallende Bahnhofswärterhäuschen aus blinden Fenstern gegenseitig an.
In Joachimshof, Westhavelland, ist spürbar, dass in dieser Region Brandenburgs – anders als südlich von Berlin – keine Rede sein kann von Kohls „blühenden Landschaften“.

In den folgenden Ortschaften erscheint mir die Bausubstanz sukzessive in besserem Zustand. Voigtsbrügge, Kümmernitz, Damelack – viele Häuser sind frisch renoviert. In Bendelin ist der Sitz der Agrargenossenschaft fein herausgeputzt, stolz prangt, breit wie zwei Fenster, der Name der einstigen Keimzelle „LPG Einigkeit“ – gegründet in meinem Geburtsjahr, 1967. Je näher ich mich der Elbe und der Grenze zu Mecklenburg nähere, umso reicher erscheinen mir die Dörfer.

Stolz prangt schwarz auf weiß der Name der einstigen Keimzelle „LPG Einigkeit“ über die Breite zweier Fenster.
In Bendelin ist der Sitz der Agrargenossenschaft fein herausgeputzt.

Kilometer 980: Kuhblank, Brandenburgische Elbtalaue

Als ich kurz vor Wittenberge allein wegen des kuriosen Namens in die Stichstraße nach Kuhblank abbiege, wähne ich mich in einem Museum. Ich stehe in einem perfekten mittelalterlichen „Rundling“. Vergleicht man den mittigen Dorfplatz mit der runden Fensteröffnung einer Backsteinburg, sind die Gehöfte ringsum die radial angeordneten Backsteine. In heißem Rot glänzen die Steine der Hofgemäuer. Besonders gepflegt wirkt das Anwesen von Günter Pey, der herbeieilt als ich mich zum Fotografieren anschicke. Der Mittfünfziger hängt an Modell- und Museumseisenbahnen ebenso wie an den alten Stallungen und Scheunen hinter seinem elterlichen Wohnhaus, das am Dorfplatz steht. „So lang ich lebe, krieg ich det gehalten“, schildert er seine Heimatverbundenheit, aber mit einer Betonung als spure er sich durch seine Worte selbst immer wieder neu ein.

Rechts von der akkurat gepflasterten Einfahrt der kurzhosige Pey, links das Vehikel des RadelndenReporters.
Kuhblank, vor Wittenberge (Brandenburg):Günter Pey ist stolz auf Zufahrt und Zustand seines Anwesens.

Hinter dem Gehöft zieht Pey Weihnachtsbäume hoch. Besonders gut gehen Colorado-Tannen. „Da brauch ich gar nischt sagen, geben mir die Leute schon dreißig Euro für.“ Zum winterlichen Verkaufstag finden sich gern über hundert potenzielle Käufer ein, so Pey und unser Gespräch wird abrupt unterbrochen: Auf den Schienen hinter Kuhblank donnert kurz vor 18 Uhr der ICE gen Hamburg vorbei. Ich nutze die Unterbrechung, um mich vom redseligen Pey zu verabschieden.

Der RadelndeReporter auf dem Rad vor einem alten Wachturm
Ehemaliger DDR-Grenzwachturm an der Elbe, zwischen Wittenberge und Lenzen. Gegen 6 Uhr morgens hat man Deutschlands beliebtesten Flussradweg ganz für sich alleine.

Dem Kurs des ICE folge ich anderntags bis auf die Höhe des mecklenburgischen Lübtheen, wo ich auf die ersten ernster zu nehmenden Anstiege seit Sachsen stoße. Die Sommerhitze macht mir nun seit acht Tagen zu schaffen – was aber auch sein Gutes hat: Weil ich wegen der Temperaturen inzwischen bei Sonnenaufgang aufbreche und nur minimale Pausen einlege, komme ich heute voran. Denn es ist der Tag, an dem in den munitionsverseuchten Kiefern-Monokulturen südlich von Lübtheen die tagelang unlöschbaren Waldbrände ausbrechen werden. Als die Straßen gesperrt und Menschen evakuiert werden, bin ich bereits in der eiszeitlichen Landschaften mit Hügeln und Seen.

Kilometer 1.098: Boize, Biosphärenreservat Schaalsee

In der tiefsten Provinz Württembergs begann meine Tour, in der tiefsten Provinz Mecklenburgs soll sie enden. Die vierzig Häuser von Boize wurden Zu DDR-Zeiten von drei Seiten eng umschlossen; vier bewohnte Häuser sind heute übrig. „Das wurde zu DDR-Zeiten nach und nach ausgerottet, Boize sollte wegsterben“, sagt der Besitzer des größten, herausgeputzten Anwesens.

Der RadelndeReporter richtet das Vorderrad seines Rennmaschine, die an einem Schildpfahl vor dem Bushäuschen lehnt.
Reportage-Ende bei km 1.098 am inzwischen zweckfreien Bushäuschen der Splittersiedlung Boize, westlich des Schaalsees.

Ich wollte, die Menschen im Süden der Republik wären ebenso entspannt wie der Mann aus Boize. Hier geht meine Tour als radelnder Reporter zu Ende und auf den fehlenden fünfzig Kilometern nach Hause in Lübeck lasse ich meine Recherchegespräche Revue passieren. Je weiter weg vom angestammten bundesrepublikanischen Wohlstand im Süden, umso unbeschwerter scheinen sie durchs Leben zu gehen. Als gebürtiger Schwabe mit innigem Verhältnis zu württembergischem Land und Leuten fällt es mir schwer, dieses Urteil abzugeben. Aber wenn ich auf Leichtigkeit aus gewesen wäre bei meiner Radreise, hätte ich mir ja auch ein E-Bike leihen können.

Seitenporträt des RadelndenReporters mit Radhelm.
„Wäre ich auf Leichtigkeit aus gewesen bei meiner Radreise, hätte ich mir ja auch ein E-Bike leihen können.“

Danke für Unterstützungen rund um meine Deutschlandfahrt

Dank geht in erster Linie an meine Familie für die Möglichkeit einer mehr als einmonatigen Abwesenheit. Des weiteren danke ich allen Geldgebern meines Crowdfundings sowie Riff-Vorstand Christian Schwägerl für den Intensivsupport während der Radreise,

Für den beschriebenen Abschnitt meiner Deutschlandfahrt erhielt ich ein Reisestipendium der Karl-Gerold-Stiftung. Daneben unterstützten mich touristische Einrichtungen: Von elf für die 16-Länder-Runde angefragten Bundesländern respektive Tourismuseinrichtungen haben sieben die Recherche in Form von Übernachtungen unterstützt und zwei den Kontakt zu unterstützenden Hotels vermittelt. Keine dieser Unterstützungen beeinflusste in irgendeiner Weise Recherche-​​Schwerpunkte, -​Inhalte oder -​Aussagen. Die Unterstützungen in den acht Bundesländern dieser Reportage im Einzelnen, in der Reihenfolge der Fahrt von Süd nach Nord: www.tourismus-bw.de, www.frankentourismus.de/radfahren, www.thueringen-entdecken.de, www.sachsen-anhalt-tourismus.de, reiseland-brandenburg.de, Kastanienhof Berlin respektive ,