Vier Grad, Mütze sitzt, Protonen schwimmen zum Chill-out
Ein winterliches Physio-Update für Sofahocker und andere Extremsportler
Ich werfe neidische Blick auf Kälte-Athleten und fahre tief hinein in die Landschaften des Zucker- und Fettstoffwechsels. Meine Wintermission: die jüngsten Erkenntnisse aus der Fettforschung zu verfeuern und heiß darauf zu machen, wie unser Energie-Stoffwechsel tickt.
Respektvoll schaue ich den vier gut gebauten Männern zu, die ohne Hast ins vier Grad warme Wasser steigen, eine Minute vor dem Startschuss. Zuletzt nimmt Jessica Grasso die Sprossen der Aluleiter, die dick eingepackte Mitarbeiter der Rettungswacht im Flüsschen unweit von Trave und Ostsee installiert haben. Grasso hat nur halb das Volumen der Männer, aber genauso wie diese keinen Schutzanzug. Schafft sie die abgesteckte 1-Kilometer-Runde in der Lübecker Wakenitz? Diese Frage rückt in den Hintergrund, angesichts des physiologischen Rätsels: Wie kann ein Organismus auch nur minutenlang am Leben bleiben in derart eiskaltem Nass?
Antworten suche ich im 21 Grad warmen Büro, Fazit: Erstens braucht es im Körper jede Menge positiver Partikelchen, die im Fachjargon Protonen heißen; zweitens einen speziellen Stoffwechselweg namens Citratzyklus. Manche Freaks sagen auch Zitronensäure- oder Krebs-Zyklus dazu. Aber hey, das ist gar nicht so wichtig. Und weniger kompliziert, als Sie es vielleicht in Erinnerung haben!
Physio-Lektion 1: Vom Blutzucker zu den Mitochondrien
Um körperlich etwas zu leisten, bedarf es Sauerstoff. Mangelt es an ihm, lassen sich Energieträger nicht richtig verbrennen. Das ist wie im Kachelofen: Ohne ausreichende Luftzufuhr brennen Holz oder Kohle kaum.
Energieträger Nummer eins sind für uns Kohlenhydrate. Die flottieren entweder als kleiner Zucker (Glukose) bereits im Blut. Oder der Organismus schafft bei Bedarf mehr von diesem süßen Kleinklein, indem er große Kohlenhydrate häckselt. Kohlenhydrate nehmen wir ja mit der Nahrung beispielsweise in Form von Nudeln, Reis oder Kartoffeln zu uns.
Mischen wir die steifen Formulierungen mal richtig auf, um die Basis jeder Muskelarbeit zu lockern: Ein Kohlenhydrat ist so etwas wie ein Hydrat-Kohlenstoff, ein „verwässerter Kohlenstoff“.
Wasser? Kennt jede/r als H2O.
Kohlenstoff? Heißt chemisch simpel C.
Alsdann, wagen wir den Sprung in kalte Grundlagen und benennen unser „leibeigenes“ Feuerungsmittel (gemäß Chemie-Nomenklatur eigentlich unerlaubt) als H20-C.
Was beim Verbrennen von „Hydrat-Kohlenstoff“ passiert
Nun zum Citratzyklus: Die Formel gegenseitigen Helfens lautet: Sauerstoff (O2) plus H2O-C ergeben H2O und CO2 – ja, jenes in Zeiten prekärer Klimakrisen verruchte Kohlendioxid! Es wird über die Lunge abgeatmet; allerdings brauchen wir davon ein bisschen im Blut (Hinweise am Schluss des Beitrags). Und Wasser? Fällt in unserem Körper nicht weiter auf – H2O ist allemal unsere Grundzutat.
Das s „H“ der Kohlenhydrate bekommt eine Spezialerlaubnis. Es darf sich sozusagen frei machen, darf das Negative los werden und als H+ flottieren. H+, so heißen in der Fachsprache Protonen. Sie entstehen beim zellulären Verbrennen von O2: Dafür dass Sauerstoff als C02 versackt, wird Wasserstoff zu H+.
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Die Party steigt in den Mitochondrien
Mitochondrien („Mitos“) sind wie Diskotheken mit Chill-out-Bereich: Auf den einen Seite herrscht Party, auf der anderen findet man sich ein, um zu relaxen. Die Bereiche trennt eine Wand – „Membran“ genannt auf Zellebene.
Das Anheizen durch O2 sorgt dafür, dass sich im Partybereich die Protonen dicht an dicht tummeln. Je mehr es werden, umso mehr Protonen drängen zum Chill-out.
Der normale, entspannende Weg der Protonen in den Chill-out-Bereich ist eigentlich immer gefragt. Denn diese Form der Entspannung ermöglich die Anspannung von Muskeln (Physio 2). Manches Fettgewebe bietet in den „Mitos“ aber einen Sonderweg für Protonen. Den braucht es, droht dem Körper ein akuter Kälteschock (Physio 3).
Physio 2: Entspannt aus der Party-Location – Muskeln spielen lassen
Was sagt Ihnen die Bezeichnung ATP-Spiel? „Association of Tennis Professionals“ ist nicht falsch. Aber im Zusammenhang mit Stoffwechsel steht ATP für Adenosin-Tri-Phosphat. Das ist der Stoff, ohne den kein Muskel zuckt und sich kein kleiner Finger rühren lässt. Anders als ATP taugt das rangniedere ADP nicht zum „Muskel-High“. ADP ist das „Di-Phosphat“; ihm fehlt ein Stück zum ATP.
ADP wird zu ATP durch den Strom der Protonen
Sie erinnern sich: Partybereich – Chillout-Bereich. Dazwischen gibt es feine Kanäle für die Protonen und an deren Ausgang passiert‘s: ADP wird am Ende des Protonenkanals mit einem weiteren P zu ATP aufgepeppt.
ATP ist, was Muskeln in Bewegung setzt und hält. Doch was passiert, wenn vorrangig nicht mehr Muskelkraft, sondern eine Dosis Wärme gefragt ist?
Vor Physio 3, wo es die Antworten gibt, wenden wir uns nochmals der Wakenitz zu, wo die Eisschwimmer ihre zweite und letzte Runde drehen.
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Physio 3: Dringende Evakuierung des Partybereichs wegen Kälte-Alarm
Im Normalfall dürfen die Protonen den normalen Weg nehmen – ATP entsteht. Im Alarmfall muss es schneller gehen. „Spielverderber“ machen die Membran zwischen Party- und Chill-out-Bereich durchlässiger für die Massen. Die Protonen strömen massenhaft durch die Membran, ohne ihre Energie auf ADP zu übertragen. Die Energie wird einfach so frei, als Wärme.
Aber erzeugt Muskelarbeit oder -zittern, wo ATP zum Einsatz kommt, nicht auch Wärme? Völlig richtig, aber der Wirkungsgrad ist schlecht, analysiert man Muskeln in der Funktion als Wärmekraftwerk.
Wieso erzeugt der Protonenstrom plötzlich Wärme?
Wärme entsteht wegen der sogenannten Neutralisation (hier entlang für den Exkurs zu Wikipedia). Partymäßige Massen an Protonen bedeuten, anders formuliert, eine hohe Konzentration an H+. Chemisch gesehen steht das für ein saures Milieu. Strömt eine Säure in Wasser (Chill-out-Bereich), wird sie neutralisiert. Dabei wird die Neutralisationswärme frei.
Evakuierung durch „Uncoupling“
Die Schleusen für die Protonenmassen heißen Entkoppler, „Uncoupling-Protein“ im Fachjargon. Aber nicht alle Zellen verfügen über den Entkoppler, nur für das Fettgewebe ist er vorgesehen im Körper. Pure Wärme erzeugen – also ohne jede Muskelarbeit – vermögen nur Fettzellen, und davon nur die farbigen. Die normalen Schwarten, bestehend aus weißem Fett genannt, bekommen das Entkoppeln nicht hin. (Aber immerhin isolieren sie ganz gut vor der Kälte.)
„Uncoupling-Protein“ und den damit verbundenen Wärmeschub gibt es:
- im braunen Fett, von dem Erwachsene, wenn überhaupt, nur sehr wenig besitzen
- im beigen Fett bei Bedarf.
Das braune und das beige Fett
Braun wirken Fettzellen dann, weil sie voller Mitochondrien stecken – von „Mitos“, gespickt mit Uncoupling-Protein. Noch um die Jahrtausendwende war die Mehrzahl der Spezialisten überzeugt: Nur Babys haben Braunfett. Des schieren Überlebens wegen hat das die Evolution so bewirkt: Babys können zum Beispiel nicht weg- und sich warmlaufen, wenn sie, irgendwo liegend, auskühlen.
Seit etwa 15 Jahren ist gesichert, dass auch Erwachsene über Reste an Braunfett-Gewebe verfügen. Seit rund acht Jahren ist das beige Gewebe bekannt. Es zeichnet sich durch eine überproportionale Zahl von Mitos aus – weniger als im Braunfett, aber mehr als im Weißfett, wodurch es farblich zwischen diesen beiden Extremata liegt (gelb, beige, leicht bräunlich).
Die gute Nachricht ist: Beige ist trainierbar! Wer sich regelmäßig Kälte aussetzt, bringt die molekularen Spielverderber namens Uncoupling-Proteins schneller auf den Plan. Aktiviert wird es durch freie Fettsäuren. Die Kaskade in Kurzform lautet: Kältereiz – Fettabbau – Uncoupling – Wärmeerzeugung.
So nimmt es nicht Wunder, dass das Uncoupling-Protein in den Fokus der Pharmaindustrie gerückt ist. Deren wissenschaftlicher und monetärer Wunschtraum: Fett in Wärme aufgehen zu lassen, ohne dass man/frau zum ATP-Turnier muss. Ich ahne bereits, wie die Boulevardmedien dichten werden: Zum Schlankheitsziel ohne Muskelspiel".
Postskriptum
Caffeine exposure induces browning features in adipose tissue – eine Manche vielleicht beglückende Nachricht aus Nottingham (Velickovic K et al. Scientific Reports 9, Article Number 9104; 2019).
Ein Bekennerschreiben
Ich bekenne mich als Weichei, Warmduscher und Schönwetter-Radler. Ich glaube, Rettungsschwimmer müssten mich nach fünf Minuten, paralysiert, aus dem Wasser der Wakenitz ziehen. Für den Spaß eines Eisschwimmens wäre ich ein Spielverderber.
Ich hätte gerne mehr Spielverderber, und zwar auf Niveau des Stoffwechsels. Ich hätte gerne Beige-Fett und jede Menge Uncoupling-Proteine.
Als RadelnderReporter werde ich mein beiges Glück mit dem entsprechenden Vehikel suchen. Dass das aussichtsreich ist, erfuhr ich als Zuschauer an der Wakenitz, als ich vom Schwimm- in den Radbereich wechselte. Das dort auf die Bahn gegangene Radfahrer-Pärchen startete zeitgleich mit den Schwimmern, war aber auf dem Neun-Kilometer-Kurs etwas länger unterwegs. An Überhitzung mag das nicht gelegen haben. Die Beiden zogen im Rahmen des Lübecker Kältrilons in Sommerklamotten ihre Bahnen. Und schienen am Ziel noch einen Tick glücklicher als die Eisschwimmer (letztes Foto).
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