Mein Afrika? Welches Afrika?

Drei Autorinnen erzählen von Dekolonisation

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Porträt einer Frau mit kurzem, blondem Haar und Brille.

Zu Beginn der Corona-Krise sendete Deutschlandradio Kultur unter dem Titel „Entkolonisiert Euch!“ ein Gespräch, das eine andere Wendung nahm als geplant. Auch wenn die Ungleichheit zwischen dem Norden und dem Süden noch krasser zutage tritt, zeichnet sich angesichts der Pandemie eine Ethik des Zusammenlebens ab, so der hoffnungsvolle Tenor der Debatte. Die Aktivistin Katharina Oguntoye sagte, sie nehme in Deutschland erstmals ein allgemeines Interesse war, sich mit dem Thema Rassismus zu beschäftigen. Die Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo rief zu einer Dekolonisierung des Lesens auf.

Die Verlage haben schon reagiert, doch ins allgemeine Bewusstsein ist die neue literarische Vielfalt noch nicht gelangt. Auch eine ambitionierte Literaturtagung wie das Membrane-Festival vor einem Jahr im Literaturhaus Stuttgart konnte keine öffentliche Wirkung entfalten, weil es nicht gelang, die Fülle afrikanischer Literatur an das Publikum zu vermitteln. Mehr als 30 AutorInnen stellten ihre Arbeit vor, doch im Publikum saßen hauptsächlich die TeilnehmerInnen der Veranstaltung.

Eine der Organisatorinnen des Festivals war Yvonne Adhiambo Owuor. Als Fellow des Wissenschaftskollegs kannte sie Deutschland bereits, vor allem Berlin. Sie lobte im persönlichen Gespräch den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Überall in Berlin seien Hinweisschilder, wo man nachlesen könne, welche historischen Ereignisse sich dort abgespielt hätten. Auch Yvonne Adhiambo Owuor blickt zurück, um die Gegenwart zu erhellen. In ihrem zeithistorischen Roman „Dust“ (deutscher Titel: „Der Ort, an dem die Reise endet“) arbeitet sie die Kolonialgeschichte Kenias auf, einschließlich der sich bis heute auswirkenden persönlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen.

Der Schriftstellerin, die in Nairobi Anglistik und an der britischen Universität Reading Video/Film studierte, erzählt ihre Geschichte aus zwei Blickwinkeln. Aus der Sicht einer kenianischen Familie, auf der das Schweigen über die Ereignisse während des Mau-Mau-Krieges lastet, und aus der Sicht eines Briten, der mit seiner Frau unter der Sonne Afrikas das Abenteuer sucht. Hugh Bolton schifft sich 1950 mit seiner Frau Selene nach Mombasa ein, um eine Farm aufzubauen. Wie selbstverständlich bedient er sich der Privilegien der Besatzer, lässt sich Land zuteilen, beschäftigt Einheimische zu Minimallöhnen. Während Selene sich nach britischer Normalität sehnt, identifiziert sich Hugh immer stärker mit „seinem“ Kenia. Als der Widerstand der Entrechteten wächst, will er das sich abzeichnende Ende der Herrschaft der Weißen nicht wahrhaben und arbeitet für den britischen Geheimdienst an der Niederschlagung der Aufstände.

In Kenia sind die Wunden des Mau-Mau-Krieges noch nicht geschlossen

Vielleicht baute Yvonne Adhiambo Owuor das Schicksal der europäischen Familie in ihren ohnehin schon komplexen Familienroman mit gutem Grund ein. Denn ohne den Blick auf die persönlichen und politischen Verstrickungen beider Seiten bleibt Nähe und Ferne zwischen den Menschen, Kollaboration und Machtmissbrauch ohne Kontext. Dieser Gedanke durchzieht den Roman, der in Nairobi beginnt, wo die junge Künstlerin Arabel Ajani Oganda um ihren Bruder trauert, der im Kampf gegen die staatliche Korruption von derselben Polizei getötet wurde, der einst sein Vater angehörte. In vielen Rückblenden enthüllt die Autorin das dunkle Geheimnis der Familie Oganda und ihres Anwesens Wuoth Ogik im Nordosten des Landes. Als ein junger Brite namens Isaiah Bolton dort auftaucht, um nach Spuren seines verschwundenen Vaters zu suchen, kommen die Geister der Vergangenheit ans Licht.

Porträt einer Frau mit Brille in rotem Kleid
Yvonne Adhiambo Owuor schildert in ihrem Roman „Der Ort, an dem die Reise endet“ die bis in die Gegenwart reichenden gesellschaftlichen Verwerfungen des Kolonialismus. Die kenianische Schriftstellerin war 2018/19 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Porträt einer brünetten Frau in einem violetten Kleid.
Francesca Melandris Bücher verarbeiten meist blinde Flecken der italienischen Geschichte. Ihr Roman „Alle, außer mir“ erinnert an das koloniale Zwischenspiel des faschistischen Italiens in Äthiopien.
Drei nebeneinander liegende, unterschiedliche  Bücher
Vielleicht erleben wir derzeit die große Stunde der AutorInnen, denen es gelingt, beide Welten, die der Kolonisatoren und die der Kolonisierten, in einer literarischen Fiktion überzeugend darzustellen.