Wir wollen Menschen berühren
Das neueröffnete Jüdische Museum Frankfurt setzt auf Diversität
von Carmela ThieleDas neueröffnete Jüdische Museum Frankfurt strahlt Gelassenheit und Offenheit aus. Der asymmetrisch gestaltete Neubau von Staab Architekten verdoppelt die Nutzfläche und fungiert als Foyer, als Zugang zur öffentlichen Bibliothek, zur Buchhandlung und zum milchig-koscheren Deli. „Wir sind jetzt“ heißt das Motto, das die Neueröffnung des Hauses begleitet. Die innere und äußere Modernisierung des Jüdischen Museums hat neue Standards für ein zeitgemäßes, am Besucher orientiertes und zugleich inhaltlich durchdachtes Museum geschaffen. Zugleich ist es aber auch ein Ort des Empowerments und der Teilnahme.
Frankfurt war und ist ein Zentrum jüdischer Kultur in Deutschland, ein Zentrum der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert und der bürgerlichen Selbstbehauptung in der zweiten Hälfte 20. Jahrhunderts. Dazwischen liegt das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden, politischer Gegner:innen und anderer ausgegrenzter Menschen. Die Shoa ist Teil der neuen Museumserzählung, aber sie dominiert sie nicht. Das Museum erzählt jüdische Geschichte und jüdisches Selbstverständnis am Beispiel sehr verschiedener, vielseitiger Lebensläufe. Die Diversität der jüdischen Community wird im Jüdischen Museum Frankfurt zur Blaupause der Diversität der Gesellschaften in Europa. Und es ist diese Entsprechung, die das neue Museum so aktuell und so bedeutsam macht.
Der offizielle Rundgang beginnt in der dritten Etage des zentral am Untermainkai gelegenen, frisch sanierten Rothschild-Palais. Zeitlich beginnt der Parcours in der Gegenwart, mit Video-Statements junger Menschen, mit den Brüdern James und David Ardinast, die im Frankfurter Bahnhofsviertel Kneipen und Bars betreiben, die sie nach Gangstern amerikanisch-jüdischer Herkunft aus dem Chicago der Zwanzigerjahre benannt haben. Ihr Speisenangebot bezieht traditionelle jüdische Gerichte mit ein, ist aber nicht streng koscher. „Vielleicht will man unterbewusst zeigen, dass jüdisch sein mehr ist als nur Holocaust, dass es ganz viele Facetten hat“, sagen sie in dem kurzen Filmausschnitt.
Während das Museum Judengasse, das Teil des Jüdischen Museums Frankfurt ist, eine Kulturgeschichte jüdischen Lebens in der frühen Neuzeit erzählt, ist die Ausstellung im Rothschild-Palais thematisch aufgebaut. Sie zeigt Facetten des jüdischen Lebens in der Gegenwart und in den vergangenen zwei Jahrhunderten, schildert den Kampf um die rechtliche Gleichstellung und gibt Einblick in die Vielfalt jüdischen Glaubens. „Wir haben einen Mut zur Lücke entwickelt“, sagt die Chefkuratorin Sabine Kößling. Auf viele Themen hätten sie verzichtet, um die neue Fragestellung, die Diversität jüdischen Lebens, und das Erzählen durch persönliche Zeugnisse und Objekte, angemessen multimedial umsetzen zu können. Je gegenwärtiger, desto vielfältiger sei das jüdische Leben in Frankfurt geworden. Es gebe religiöse und säkulare Lebensweisen, es gebe Judentum, das religiös, kulturell oder als nationale Zugehörigkeit gelebt werde.
Auschwitz-Prozess und Fassbinder-Kontroverse
Vor einem halben Jahrhundert stand es noch auf der Kippe, ob nach dem Holocaust jüdisches Leben in Deutschland wieder möglich sein werde. Der Filmemacher und Romanautor Michel Bergmann wuchs in den Fünfzigerjahren in Frankfurt auf. Viele der damaligen Jugendlichen hätten ihre Existenz in Deutschland als ein Leben in Enklaven empfunden, wird er in der Ausstellung zitiert, denn „man lebte unter den Deutschen, aber man lebte nicht mit den Deutschen“. Auswandern nach Israel war weiterhin eine Option. Ein jüdisches Ferienheim im Schwarzwald bot Ferienfreizeiten für Kinder und Jugendliche an, bei denen es neben Spiel und Spaß auch um das Einüben der jüdischen Lebensweise ging.
Das Leben der Juden blieb im Nachkriegsdeutschland weiter ein Balanceakt, Konfrontationen blieben nicht aus. Der von dem Hessischen Oberstaatsanwalt Fritz Bauer initiierte Auschwitz-Prozess brachte zwar die Täter auf die Anklagebank, förderte aber auch den latenten Antisemitismus in der jungen Bundesrepublik zutage. Anders kontrovers verlief die Debatte um Rainer Werner Fassbinders Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, in dem ein Immobilienspekulant auftritt, der sich als „der reiche Jude“ bezeichnet. Fassbinder wurde Antisemitismus vorgeworfen, ein Streit über Kunstfreiheit entbrannte. Die Debatte wurde zum Auslöser eines neuen jüdischen Selbstbewusstseins in Frankfurt und führte 1988 zur Gründung des Jüdischen Museums.
Über den Holocaust wissen die Deutschen mehr als über jüdisches Leben, sie wissen auch recht wenig über die Vielfalt jüdischen Lebens während der Verfolgung. In einer Vitrine liegen scheinbar disparate Dinge zusammen: eine Wehrmachtsnotiz, eine Schellack-Platte und das Schwarzweißfoto eines jungen Mannes auf einem Motorrad. Es handelt sich um Wolfgang Lauinger, geboren 1918 in Frankfurt und 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Er wurde aufgrund seines jüdischen Vaters, der bereits nach London geflohen war, wieder entlassen. Der 22-Jährige gehörte zu den Swing-Kids, die verbotenerweise Jazz hörten und deshalb unter Beobachtung des Geheimen Staatsschutzes standen. Lauinger, der mehrfach verhaftet wurde, tauchte 1942 in Pforzheim unter, wo er die Zeit des Nationalsozialismus überlebte.
Nicht die Sicht der Täter reproduzieren
„Anders als Kunstwerke sagen Objekte nichts von allein“, sagt Sabine Kößling. Ein Brief, ein Dokument, ein Foto bliebe stumm, wenn es keine Hintergrundinformationen gebe. Im Fall von Lauinger und sechs weiteren Personen ließen sich die Informationen zu kleinen Porträts zusammensetzen. „Zerstörte Leben“ heißt der Raum, der vom Überleben im Nationalsozialismus erzählt, aber die Shoa nicht verschweigt. „Es ging darum, die Verfolgung zu schildern, ohne die Sicht der Täter zu reproduzieren“, sagt die Literaturwissenschaftlerin und Judaistin. Dieser Grundsatz zieht sich durch die gesamte Ausstellung, die über 1300 Quadratmeter auf drei Geschossen ausgebreitet ist.
Die immer anders erzählten Geschichten richten sich an ein großes Publikum, sollen den Blick weiten, Austausch ermöglichen. „Es wird sehr viel mehr Emotion zugelassen“, sagt Sabine Kößling auf die Frage, wie sich die Ausstellungsstrategie in den Jüdischen Museen verändert habe. Der Standpunkt, dass Leute, die gut informiert seien, keine antijüdischen Vorstellungen mehr hätten, habe sich als falsch erwiesen, sagt sie. Der Attentäter von Halle habe die Synagoge gezielt am höchsten Feiertag Jom Kippur aufgesucht. Das Problem liege tiefer, im unbewussten Antisemitismus. „Wir wollen die Menschen berühren und Empathie hervorrufen“, so Kößling.
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Ein Blick in die Vergangenheit gibt ihr Recht. Ende des 19. Jahrhunderts trat der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ dem Antisemitismus mit reger Publikationstätigkeit entgegen, was die zunehmende Judenfeindlichkeit aber nicht zurückdrängte. Man versuchte es sogar mit populären Formen der Aufklärung, einer Sammlung beschrifteter Kärtchen, die 1924 als Loseblattsammlung im Schuber angeboten wurde. Sie enthielt Fakten und Argumente, um im Alltag Vorurteile zu entkräften. In einem gläsernen Bücherregal belegen zahlreiche Exponate die umfangreiche anti-antisemitischen Publikationstätigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Diversität als Merkmal jüdischen Lebens
Nähe erzeugen, Zusammenhänge aufzeigen, zementierte Vorstellungen in Bewegung bringen: das Jüdische Museum Frankfurt setzt auf einen medial und thematisch abwechslungsreich gestalteten Parcours. Selbst im Bereich „Tradition und Ritual“, in dem die Spaltung der Jüdischen Gemeinde Frankfurts in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschildert wird, sind die Akteure und Fakten räumlich visualisiert. Die Diskussion zwischen dem liberalen Rabbiner Leopold Stein und dem neo-orthodoxen Rabbiner Samson Raphael Hirsch sei auch öffentlich, über Bücher, Zeitungsartikel und gedruckte Predigtsammlungen ausgetragen worden, sagt Sabine Kößling vor einer Wand von Schriftzeugnissen.
Wenige Schritte weiter liegt eine Thora-Rolle in einer Wandvitrine, traditionelle silberne Leuchter und Seder-Teller, aber auch moderne Varianten, stehen auf Podesten. Zeremonialkunst diente der Ausübung der religiösen Gebote im Hause, am Familientisch und war gemäß ihrer religiösen Bedeutung aufwendig gestaltet. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass im Judentum der einst in Jerusalem zerstörte Tempel als allgegenwärtig gedacht wird. Im Haus, in der Wohnung, an der Festtafel. Mit der Einhaltung der religiösen Vorschriften, die sich auf die Art und Verwendung der Lebensmittel beziehen, die Einhaltung der Sabbat-Ruhe oder Initiations- und Hochzeitsrituale, erneuern die Gläubigen im alltäglichen Leben den Bund mit Gott.
Im Laufe der Zeit wurden die religiösen Regeln der sich verändernden Lebensrealität angepasst. Daher gibt es eine lange Tradition, die Rabbiner zu befragen, wie die Gebote im Alltag anzuwenden seien, sagt Sabine Kößling. In der Mehrkanal-Video-Installation „Ask the Rabbi“ im Frankfurter Museum gibt es auf ein und dieselbe Frage fünf Antworten, denn die fünf sich an das Publikum wendenden Rabbiner:innen gehören verschiedenen jüdischen Gemeinden in Frankfurt an, die die Regeln jüdischen Lebens unterschiedlich auslegen.
Bis ins Letzte rational erklärbar ist religiöses Leben auch in diesem Museum nicht. Die Video-Performance von Ruth Schreiber „Kasher, Kasher, Kasher“ aber vermag eine Vorstellung davon zu geben, wie Ritual und Spiritualität zusammenhängen können. Die israelische Künstlerin vollzieht vor der Kamera die rituelle Reinigung der Frauen. Zu sehen ist nur ihr Kopf, wie sie ihren Schmuck ablegt, sich abschminkt, die Perücke abnimmt, im Tauchbad, der Mikwe, verschwindet und sich dann Stück für Stück wieder ankleidet. Auf ihrem Gesicht spiegelt sich das Erlebnis der inneren und äußeren Reinigung.
Kritik am jüdischen Frauenbild
Tradition und Gegenwart erscheinen im Jüdischen Museum Frankfurt nicht als Widerspruch, Diversität wird zum Normalfall. Das ist der große Rahmen, in dem auch kontroverse Themen Platz haben, vielleicht auch die heikle Frauenfrage. In der Dokumentation des Aufstiegs der weitverzweigten Familie Rothschild und ihres europaweiten Erfolgs im Bankgeschäft geht es explizit um die Rolle der Ehefrauen. Entsprechend der bürgerlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts und der jüdischen Tradition kümmerten sie sich um Repräsentation und Kindererziehung. Der jüdische Feminismus bleibt jedoch ausgespart. Als ein Versprechen für die Zukunft zu verstehen ist, dass der Platz zwischen Altbau und Neubau des Jüdischen Museums Frankfurt nach der Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim benannt wurde. Sie heiratete nicht, war 1904 Mitbegründerin des Jüdischen Frauenbundes, der zeitweise 50 000 Mitglieder zählte, und setzte sich für die Erwerbstätigkeit von Frauen ein. Sie kämpfte gegen Mädchenhandel und kritisierte offen das jüdische Frauenbild.
Carmela Thiele
Carmela Thiele schreibt als Journalistin über Kunst und Kultur.
DebatteMuseum
Die Museen sind in einem tektonischen Verschiebeprozess begriffen. Sie erfüllen als Gatekeeper des Wissens eine wichtige gesellschaftliche Rolle, bieten aber auch multiple Erfahrungsräume und dienen als praktisches Labor des Denkens. DebatteMuseum verfolgt diesen Prozess der Veränderung und der Reorganisation. Das Online-Magazin berichtet seit 2017 über die vielfältige Museumsszene, neue Ausstellungsformen und Vermittlungsstrategien. Es schreiben Carmela Thiele und Gäste.
Nach Katrin Ströbel und Clemens von Wedemeyer hat Bettina Munk das aktuelle Titelbild für DebatteMuseum zur Verfügung gestellt. Es zeigt die Installation ORIGIN Computer animation und Drawing Series Planetesimale P_1 in der Ausstellung Drawing Rooms Hamburger Kunsthalle 2016.
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