Presserat: Bild-Schlagzeile zu Klimaschutz und Arbeitsplätzen war sinnentstellend

Bild verdrehte kurz vor der Bundestagswahl Position von Gewerkschaft zu Klimaschutz und Arbeitsplätzen in ihr Gegenteil. Der Presserat sprach eine Missbilligung aus.

von Daniela Becker
5 Minuten
Screenshot der vom Presserat gerügten Bild-Schlagzeile „IG-Metall-Chef warnt: Klimaschutz wird 100.000 Jobs kosten“

Die Boulevard-Zeitung Bild aus dem Axel-Springer-Verlag titelte kurz vor der Bundestagswahl 2021 „IG-Metall-Chef: Klimaschutz wird 100.000 Jobs kosten“. Tatsächlich hatte der führende Gewerkschafter im Interview das Gegenteil ausgeführt: Durch Trägheit der Politik und Unternehmen drohe Jobverlust. Im Dezember sprach der Presserat eine Missbilligung aus.

Im Juni kündigte der Autozulieferer Bosch an, sein Werk im Münchner Osten zu schließen. Aufgrund der unternehmensweiten Umstellung auf Elektromobilität sei der Standort, der bislang elektrische Kraftstoffpumpen und Einspritzventile für Verbrenner fertigt, wirtschaftlich nicht mehr rentabel, teilte die Unternehmensführung mit. 250 Mitarbeiter:innen stehen nun kurz davor ihre Jobs zu verlieren.

Klimaaktivist:nnen und Teile der Belegschaft protestierten in einem gemeinsamen offenen Brief: „Wir wehren uns gegen diesen Versuch, unser Werk unter dem Deckmantel des Klimaschutzes zu schließen und fordern den Erhalt unseres Standortes und die Umstellung auf eine klimafreundliche Produktion.“ In den letzten Jahren habe der Betriebsrat immer wieder Vorschläge für eine Transformation der Produktion hin zu klimafreundlichen Produkten unterbreitet. Diese sei aber von Seiten der Geschäftsführung stets abgeblockt worden, heißt es in dem Schreiben.

„Das finde ich wichtig hervorzuheben, weil ja immer noch dieses Bild vorherrscht, dass alle Leute, die irgendwie an Dieselmotoren arbeiten, der Ansicht seien, dass es bis zum Sankt Nimmerleinstag Dieselmotoren geben müsste“, sagt Aktivsitin M., die an der Aktion beteiligt war.

Gewerkschaftsboss sinnentstellend zitiert

Am 15. September – in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes, in dem Klimaschutz eine bedeutende Rolle spielte –, titelte die Bild-Zeitung: „IG-Metall-Chef: Klimaschutz wird 100.000 Jobs kosten“. Ist der mächtige Gewerkschaftsboss also gegen Klimaschutz, wie man nach dem Lesen der Überschrift annehmen könnte? War er damit den Protestierenden in München in den Rücken gefallen?

Ganz im Gegenteil: Im Online-Artikel sagt der Gewerkschaftschef auf die Frage, ob sich Industriepolitik und Klimapolitik widersprechen, er sei überzeugt, „dass wir den Wandel zu einer klimaneutralen Wirtschaft schaffen können. Dafür brauchen die Industrie und die dort Beschäftigten jetzt Planungssicherheit, andernfalls sind weit mehr als 100.000 Jobs in Gefahr. Wenn wir aber jetzt massiv Ladesäulen bauen, in Batteriezellfabriken und Recycling investieren Wasserstoffinfrastruktur aufbauen, Unternehmen davon abhalten alles in Billiglohnländer zu verlagern und die Menschen aktiv weiterbilden, dann kann die Transformation ein Erfolgsmodell werden. Aber was wir bei Teilen der Politik und der Unternehmen erleben ist Trägheit – und die gefährdeten Arbeitsplätze.“

In der Print-Berichterstattung erfährt der Leser davon nichts. Auf der Titelseite wurde der Text mit der Dachzeile „IG Metall-Boss-Hoffmann warnt“ und der Überschrift „Klimaschutz kostet Hunderttausende Jobs“ angekündigt.

Im Artikel unter der Überschrift „IG-Metall-Chef klagt in Bild: ‘Politik hat völlig den Kontakt zur Realität verloren‘“, wird der Gewerkschafter unter dem Zwischentitel „Jobkiller E-Auto“ so zitiert: „Kaum sei der Ausstieg aus den Verbrennungsmotoren für 2035 beschlossen gewesen, habe es Forderungen gegeben diese auf 2030 vorzuziehen. Hoffmanns Sorge: Es sind weit mehr als ‚100.000 Jobs in Gefahr!‘ Gemeinsam mit anderen Experten warnt Hoffmann in einer Studie ‚Plattform Zukunft der Mobilität‘ sogar vor einem Wegfall von 410.000 Industrie-Jobs bis 2030 wegen des Umstiegs auf Elektroautos!“

Medienethiker: Klassisches Clickbaiting

„Dieser Fall ist ein typisches Beispiel für das sogenannte Clickbaiting“, sagt Christian Schicha, Professor für Medienethik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. „Das ist natürlich problematisch und widerspricht den Qualitätskriterien journalistischen Handelns.“

Das fanden auch das Bildblog und der Klima-Lügendetektor von Klimareporter. Und es gingen drei Beschwerden beim Presserat ein. Die Beschwerdeführer kritisierten, dass die Überschrift die im Interview getätigten Aussagen des Interviewten massiv verfälsche. Denn tatsächlich sage Hoffmann, dass ein ‚Weiter so‘ Arbeitsplätze kosten, bei richtiger Klimaschutzpolitik aber sichern werde.

Presserat spricht Missbilligung gegen Bild aus

Der Beschwerdeausschuss des Presserat sieht diese Beschwerde (4 Ja-Stimmen, 1 Nein-Stimme, 1 Enthaltung) als begründet an. Das Vorgehen der BILD sei ein Verstoß gegen die in Ziffer 2 des Pressekodex festgeschriebene journalistische Sorgfaltspflicht.

Zwar stimmt das Gremium der Medienanwältin des Axel-Springer-Konzerns darin zu, dass Medien Inhalte in Überschriften grundsätzlich verkürzen dürfen und den Sachverhalt nicht vollumfänglich wiedergeben müssen. Jedoch dürfen sie die Leserschaft dabei nie über den tatsächlichen Sachverhalt in die Irre führen. Dies sei mit der im Titel wiedergegebene Aussage ‚Klimaschutz kostet 100.000 Jobs‘ jedoch passiert.

Eine Überschrift, so die „Klima wandeln“ vorliegende schriftliche Begründung des Presserat, müsse „von einem durchschnittlich verständigen Leser“ verstanden werden. In der erfolgten Form hingegen werde dem Leser suggeriert, der Interviewte sei der Auffassung, dass der Klimaschutz in jedem Fall den Arbeitsplatzverlust nach sich ziehen muss. Erschwerend komme hinzu, dass die Leserschaft in der Printversion des Artikels auch im Artikeltext nicht über den korrekten Sachverhalt aufgeklärt wird.

Aktivistin: Bild fährt „Strategie von rechts“

Die Münchner Klimaaktivistin M. nennt die verzerrte Bild-Schlagzeile „eine Strategie von rechts“. „Da wird versucht, Angst und Wut, die Leute vollkommen zurecht haben, wenn ihre Jobs bedroht sind, auf den Klimaschutz und die Aktivist:innen zu richten. Dem muss man unbedingt deutlich widersprechen.“

Das hat der Presserat getan, allerdings erst Mitte Dezember. Da war die Bundestagswahl schon lange vorbei. Die Behauptung, der Gewerkschaftschef halte Klimaschutz für einen Arbeitsplatzkiller, haben jedoch sicher viele Leser:innen verinnerlicht. „Grundsätzlich wäre es gut, wenn der Presserat schneller reagieren würde“, sagt Schicha. Ob aber ein derartiger Artikel bei der Wahlentscheidung eine zentrale Rolle spiele sei zu bezweifeln.

Der Presserat als Medienselbstkontrollinstanz hat als stärkstes Sanktionsinstrument die öffentliche Rüge. Er kann nicht verordnen, dass ein Text depubliziert wird. Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeausschuss die zweitstärkste zur Verfügung stehende Zurechtweisung genutzt: eine Missbilligung. In einem solchen Fall ist das Medium nicht verpflichtet, die Missbilligung in dem betroffenen Publikationsorgan zu veröffentlichen, aber es ist ausdrücklich erwünscht. Der Bild-Text steht bis heute unverändert online – ohne die Missbilligung des Presserats aufzuführen.

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