Hungern, fluchen, fordern

Wenn Klimastreikende echten Klimaschutz fordern, fühlt sich die Wiese vor dem Berliner Reichstag an wie das Auge eines Hurrikans der Hoffnung. Ein Feldreport.

von Gerhard Richter
7 Minuten
Autor Gerhard Richter sitzt mit Schreibmaschine inmitten Klimastreikender vor dem Reichstagsgebäude

„Was zur Hölle fällt euch ein, nicht alles zu geben und diese Katastrophe zu verhindern!“ Ich höre die Flüche von Luisa Neubauer, aber ich kann die Aktivistin von Fridays for future gar nicht sehen. Irgendwo weiter vorne, auf den Stufen des Reichstages, verdeckt von tausenden von Menschen und ihren hochgehaltenen Schildern schreit sie ins Mikrofon. Ihre Rede wird von schrankwandgroßen Lautsprechern bis zu mir über die Wiese verstärkt. Ihre Wut über die – What-the-fuck – seit Jahrzehnten nicht verhinderte Klima-Katastrophe und die friedliche Demo unter einem stinknormalen flanellgrauen Himmel über dem Reichstag in Berlin bilden einen seltsamen Widerspruch. Inmitten dieses Widerspruchs sitze ich an meinem Klappschreibtisch und tippe in meine Hermes Baby Reiseschreibmaschine. Ich sitze zwischen dem was ich sehe, dem was wir wissen und dem, was die Regierung ignoriert.

Der Rasen: Ökotop, Spielplatz & Komfortzone

Was ich sehe: Die Reichstagswiese ist eine Allerwelts-Wiese. Gemähtes strapazierfähiges Gras. Mit viel Löwenzahn und Huflattich. Zwischen den Grasbüscheln gekringelte Häufchen aus Regenwurmkot. Ein Nutz-Rasen wie überall in Deutschland. Wie überall in westlich kultivierten Ländern. Ein Rasen zum Frisbee-Spielen, zum Picknicken, zum Radschlagen, zum Barfußlaufen. Sattes weiches Grün unter den Füßen. Eine kuschelige Stelle auf dem Planeten. Strapazierfähig genug für ein Festival, für eine Demo, für ein paar nächtlich grasende Kaninchen. Ein gärtnerischer Triumph der Kultur über die Natur. Ein Ort zum Durchatmen. Jahrtausendelang haben wir Menschen gegen Kälte, Nässe, Hitze, Hunger, Raubtiere, Parasiten und Krankheiten gekämpft. Jetzt sind wir satt und ruhen aus. Die Diktatur der Natur hat ein Ende. Und wenn störende Blätter auf den Rasen fallen, werden sie – ohne dass man sie anfassen muss – mit dem Laubbläser beseitigt.

Am Ende der Wiese erhebt sich der Reichstag. Ein riesiges Portal, getragen von klassizistischen Säulen. In der Mitte des Daches wölbt sich eine Kuppel aus Glas. Das Licht des Himmels dringt ins Innere. Ein Zeichen für Transparenz in der Politik. Die Demokratie erlaubt uns alle Meinungen und Zugang zu allen Informationen. Wir können, wenn wir das wollen, jede Menge wissen.

Ein handgemaltes Schild weist auf das Klimacamp im Berliner Spreeebogen hin. Dort sind Klimaaktivisten im Hungerstreik.
Klimaaktivisten treten in den Hungerstreik und fordern Gespräche mit Politikern