Die Samen-Revolutionäre

Wie private und gesellschaftliche Initiativen die Welternährung retten wollen

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Der Botanische Garten in Augsburg zeigt im Naturgarten ökologischen Gemüseanbau, gedüngt wird mit Kompost aus Bioabfällen. Auf dem Bild sind verschiedene Pflanzen zu sehen, das Beet wird durch ein Trittbrett unterteilt. Das Bild wurde im August 2020 aufgenommen.

Die Hummeln brummen, die Bienen summen – auf wenigen Quadratmetern einer in Orangetönen leuchtenden Blumenwiese geht es fleißig zum Nektarsammeln. Wenige Meter entfernt stehen Bienenkästen, im Schatten unter einem Obstbaum. Wie mit quadratischen Ausstechern in eine riesige Rasenfläche gestanzt, reihen sich in diesem Garten die Beete aneinander: Während einige Pflanzen bereits in voller Blüte stehen, wagen sich bei anderen Ende Mai erst die ersten Spitzen aus der Erde. Von vier Dahlienstauden sind nur die abgeschnitten Reste des Vorjahres zu sehen.

Der Bonner Nutzpflanzengarten soll alte Arten erhalten

2.000 Sorten zählen zum Bestand des Bonner Nutzpflanzengartens, einer der größten und ältesten seiner Art in Deutschland. Die meisten Sorten erhalten nicht mehr als etwa einen Quadratmeter zum Wachsen. Der Garten liegt mitten in Bonn auf dem Universitätscampus im Ortsteil Poppelsdorf. Am Wochenende schlendern hunderte Besucherïnnen durch das zunächst unscheinbar wirkende Areal.

Der Nutzpflanzengarten der Universität Bonn und des Botanischen Gartens Bonn hegt rund 2.000 Sorten. Im Bild der 1861 eingerichtete „Nutzpflanzengarten Teil 1“: Auf einer Wiese sind quadratisch ausgestanzte Beete, eine Sorte erhält etwa jeweils einen Quadratmeter. (Mai 2021)
Der Nutzpflanzengarten der Universität Bonn und des Botanischen Gartens Bonn hegt rund 2.000 Sorten. Im Bild der 1861 eingerichtete „Nutzpflanzengarten Teil 1“. (Mai 2021)
Auf einer Schautafel wird die Besonderheit des Bonner Nutzgartens erklärt, nämlich die Erhaltung regionaler Kulturpflanzen, zu denen der Feldsalat „Kölner Palm“, der Wirsing „Bonner Advent“ oder die Süßkirsche „Poppelsdorfer Schwarze“ gehören. Der Garten hegt rund 2.000 Sorten. (Mai 2021)
Regionale Kulturpflanzen wie der Feldsalat „Kölner Palm“, der Wirsing „Bonner Advent“ oder die Süßkirsche „Poppelsdorfer Schwarze“ gehören zu den Besonderheiten des Bonner Nutzpflanzengartens. (Mai 2021)
Der Nutzpflanzengarten der Universität Bonn und des Botanischen Gartens Bonn hegt rund 2.000 Sorten. Im Bild der 1861 eingerichtete „Nutzpflanzengarten Teil 1“. Eine Schautafel im Vordergrund der rechteckigen Beete zeigt den Übersichtsplan des Gartens, der sich an der Nutzung der Pflanzen orientiert. (März 2021)
Die Informationstafel zeigt für den Nutzpflanzengarten 1 den Übersichtsplan, der sich an der Nutzung der Pflanzen orientiert. (März 2021)

Doch was hier wächst, ist ein unbezahlbarer Kulturschatz. Zum Beispiel der Feldsalat namens Kölner Palm. Die alte Kultursorte ist recht robust, unter anderem ist sie wenig anfällig für Mehltau und andere Pflanzenkrankheiten. Weil der Kölner Palm drei Wochen später in Blüte geht als andere Feldsalate, eignet er sich besonders gut für den Überwinterungsanbau.

Eine andere Sorte im Bonner Nutzpflanzengarten, die auch über den Winter wächst, ist der Bonner Advent – ein Wirsing, der bereits im Mai geerntet werden kann. Früher war er für viele Menschen das erste Frischgemüse des Jahres. Die regional angepassten Nutzpflanzen gelten als anspruchslos und robust. Das heißt, dass sie wenig Pflege brauchen und weniger als andere Sorten gedüngt und gespritzt werden müssen. „Das ist ein Kulturerbe, von Menschen gemacht“, sagt Susanne Gura, Vorsitzende des Vereins zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt e.V. (VEN).

Der bereits 1818 auf dem gut gedüngten Gelände einer ehemaligen Fasanerie des Kurfürsten Clemens August gegründete „Nutzpflanzengarten Teil 2“ ist einer der ältesten Nutzpflanzenschaugärten Deutschlands. Grund und Boden gehören zum heutigen Universitätscampus, organisatorisch ist er dem Botanischen Garten Bonn zugeordnet. Im Hintergrund ist die Baustelle des Erweiterungsbaus des Zoologischen Forschungsmuseums Alexander Koenig zu sehen, welches sich mit Biodiversitäts- und Evolutionsforschung befasst. (Mai 2021)
Der bereits 1818 gegründete „Nutzpflanzengarten Teil 2“ ist einer der ältesten Nutzpflanzenschaugärten und Erhaltergärten Deutschlands. Er entstand auf dem gut gedüngten Gelände einer ehemaligen Fasanerie des Kurfürsten Clemens August. (Mai 2021)

Viele alte Sorten sind auf der roten Liste

Auf den zwei Hektar im Bonner Nutzgarten kämpfen die Gärtnerïnnen um nichts weniger als die Sicherung der Welternährung. Denn ein Großteil der Pflanzen, die hier ihr kleines Plätzchen gefunden haben, sind außerhalb der Beete kaum noch zu finden. Die FAO, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, schätzt, dass Dreiviertel der Kulturpflanzenvielfalt in den letzten hundert Jahren weltweit verloren ging. So wurden im 19. Jahrhundert in Deutschland noch fast 7.000 Gemüsesorten und Arten angebaut. Dreiviertel davon gelten nach Angaben des Vereins zur Erhaltung und Rekultivierung von Nutzpflanzen (VERN e.V.) in Angermünde inzwischen als verschollen.

Ein Grund hierfür liegt in den veränderten Arbeitsprozessen in der Landwirtschaft: Zunächst kamen die Traktoren und schweres Gerät, dann spezialisierte Pflanz- und Erntemaschinen, die sich für bestimmte Sorten nicht mehr eigneten. Gleichzeitig gaben immer mehr Familien die Versorgung mit selbst gezogenem Obst und Gemüse auf – die Beetreihen wichen Blumeninseln und Trampolins, das Wissen um die Zucht von Bohnen, Kohl und Kürbis geriet in Vergessenheit.

Dabei enthalten die alten Sorten möglicherweise genetische Variationen, die noch wichtig werden können, wenn es im Zuge des Klimawandels trockener und wärmer wird. Dann werden wir Sorten brauchen, die beispielsweise hitzeresistenter sind und eine höhere Widerstandsfähigkeit gegenüber Trockenheitsphasen haben.

Doch es ist gar nicht so leicht, die traditionellen Gemüse wieder anzusiedeln: Nur acht Prozent der alten Sorten sind laut VERN e.V. heute noch als „Traditionssorten“ zugelassen. Weitere 17 Prozent gelten als stark gefährdet und werden erhalten. Sie unterliegen nicht mehr dem Sortenschutz und sind für den kommerziellen Anbau nicht mehr zugelassen.

Saatgut als Frage geistigen Eigentums

Seit den 1980er Jahren regeln Saatgutgesetze, welches Saatgut vermarktet werden darf. In Deutschland etwa ist hierfür das Bundessortenamt zuständig. Züchter können dort neue Sorten als ihr geistiges Eigentum schützen lassen. Für die Marktzulassung müssen die Samen einheitlich und stabil sein. Solche eigentumsrechtlich geschützte Sorten dürfen in Folge gar nicht oder nur noch gegen Gebühren nachgezüchtet werden. Bauern und Bäuerinnen dürfen demnach ihr eigenes Saatgut zwar selbst weiterverwenden, doch sie dürfen es nicht mehr im gewerblichen Zusammenhang tauschen oder verkaufen – Ausnahmen gibt es nur wenige.

Alle Mitglieder der Welthandelsorganisation haben sich dazu verpflichtet, ein Sortenschutzrecht zu etablieren. Viele sind dem Sortenschutzsystem des Internationalen Verbands zum Schutz von Pflanzenzüchtungen von 1991 (UPOV 91) beigetreten. Es garantiert die Rechte von Züchterïnnen auf neue Saatgutsorten. Mit UPOV 91 wurden geistige Eigentumsrechte auf Saatgut etabliert, damit Unternehmen pflanzengenetische Ressourcen gewinnbringend vermarkten können.

Auf einem schmalen Streifen vor der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Bonn wurde die Samenmischung „Schmetterlings- und Wildbienensaum“ von Rieger-Hofmann ausgebracht, die maximal einmal pro Jahr gemäht wird. In einem Jahr wurde er schon mal gar nicht gemäht. Ein leuchtendes Vorbild, denn in der Nachbarschaft finden sich auch geschotterte Vorgärten. (Mai 2019)
Auf einem schmalen Streifen vor der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Bonn wurde die Samenmischung „Schmetterlings- und Wildbienensaum“ von Rieger-Hofmann ausgebracht, die maximal einmal pro Jahr gemäht wird. Ein leuchtendes Vorbild, denn in der Nachbarschaft finden sich auch geschotterte Vorgärten. (Mai 2019)

In der Praxis bedeutet das: Wenige große Unternehmen vermarkten leicht kontrollierbares Saatgut und synthetische Düngemittel. Sie setzen dabei oft auf Hybridpflanzen-Samen. Diese muss man für jede Aussaat nachkaufen, denn die sortenspezifischen Eigenschaften gehen bei der Vermehrung verloren. Dadurch unterscheiden sie sich maßgeblich von den alten Kultursorten, wie man sie im Bonner Nutzpflanzengarten findet. Die Samen der Pflanzen dort sind samenfest. Das bedeutet, dass sie sich vermehren lassen, ohne ihre sortenspezifischen Eigenschaften zu verlieren. Entsprechend kann das Saatgut gelagert und in den folgenden Jahren erfolgreich ausgebracht werden.

Durch die Konzentration von wenigen Unternehmen, die nur wenige Nutzpflanzen vertreiben, nimmt die Vielfalt der Nutzpflanzen auf dem Acker und damit die Vielfalt des Saatguts kontinuierlich ab. „Das macht die Landwirtschaft noch verwundbarer für die Folgen der Klimakrise“, sagt Jan Urhahn, der das Programm Ernährungssouveränität bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung leitet.

Weltweit bestimmen nur noch vier Agrarchemiekonzerne den Saatgut- und Pestizidmarkt: Corteva, Bayer-Monsanto, ChemChina-Syngenta und BASF. Sie kontrollieren über 60 Prozent des weltweit kommerziell gehandelten Saatguts, bei einzelnen Kulturpflanzen ist die Marktkonzentration noch größer. Nach Recherchen von Oxfam kontrollieren diese Unternehmen bei Mais mehr als 90 Prozent des Saatgutmarkts in Dänemark, Griechenland und Italien sowie Indonesien, Südafrika und Brasilien. Ähnliche Prozentanteile finden sich für Soja in Paraguay, Uruguay und in Südafrika.

Die Folgen erleben die Verbraucherïnnen täglich im Supermarkt: Dort liegen kaum noch alte Sorten, sondern Standard-Ware, die durch Lizenzen geschützt ist.

Saatgut-Bewegung wagt den Aufstand

Doch das bestehende Patent- und Sortenschutzsystem gerät zunehmend in die Kritik. Mit der Einführung von Saatgutverkehrsgesetzen, die das „in den Verkehr bringen" von Saatgut reglementieren, entstand eine Bewegung um samenfestes Saatgut alter Sorten.

„Wir brauchen anpassungsfähige Sorten, die auch ohne Chemie auskommen, die sich an die Klimakrise besser anpassen können“, sagt Susanne Gura. Pflanzengesundheit erziele man dauerhaft nicht mit einzelnen Resistenzgenen weniger teuer gezüchteter Sorten von Großkonzernen. Dies sei „eine mit vielen Millionen Forschungsgeldern gepflegte Illusion“.

Im Moment versuchen viele kleine Hobby-Initiativen etwas zu verändern. Immer mehr Schulen etwa legen Gärten an. Das Wissen darüber, unter welchen Bedingungen Kulturpflanzen wie Kartoffeln, Tomaten, Erdbeeren oder Kürbisse gedeihen, ist nämlich längst kein Alltagswissen mehr, das Kinder im familiären Alltag des eigenen Nutzgartens mitbekommen könnten. Und dennoch: Hochbeete haben wieder Konjunktur – und in der Buchhandlung finden sich nicht nur Bauanleitungen, sondern auch viele Tipps für den Anbau rund um das Jahr.

„Heute verstehen private Gärtner, was diese Vielfalt zu bieten hat. Sie züchten lange vergessene samenfeste Sorten, die eine große Bedeutung für die Zukunft der Landwirtschaft haben“, sagt Gura. Aber auch einzelne Bauern wiederbeleben die alten Kultursorten – beispielsweise wird der Feldsalat „Kölner Palm“ von einem Bauern in der Bonner Region angebaut. Er vermarktet ihn als Bestandteil der „Arche des Geschmacks“ im Rahmen eines Projekts des Vereins Slow Food Deutschland.

Zum Verein gehören über 85 lokale Gruppen: Im nordrhein-westfälischen Minden betreibt eine Gruppe einen Gemeinschaftsgarten namens GreenFairPlanet, der sich der Ernährungsbildung widmet. In Dresden werden Kinderkochkurse veranstaltet. Der Verein versucht gleich mehrere Anliegen miteinander zu verbinden: Er will die regionale Arten- und Sortenvielfalt erhalten und gleichzeitig das traditionelle Lebensmittelhandwerk unterstützen. Dafür rückt er das leckere Essen in den Mittelpunkt seiner Arbeit: Die Menschen sollen ihre Lebensmittel wieder schätzen und genießen lernen.

Der in den 1980er von der Stadt Augsburg eingerichtete Kräutergarten befindet sich direkt vor den historischen Stadtmauern.  Die Besucher darf Kräuter in Maßen ernten. mit Buchs eingefassten Kräuterbeeten finden sich über 60 verschieden Minz-Sorten, hinzu kommen Duftgeranien, Salbei- und Thymiangewächse. Der Garten wurde nach dem Vorbild mittelalterlicher Klostergärten entworfen.
Der in den 1980er von der Stadt Augsburg eingerichtete Kräutergarten befindet sich direkt vor den historischen Stadtmauern. Die Besucher darf Kräuter in Maßen ernten. In den mit Buchs eingefassten Kräuterbeeten finden sich über 60 verschieden Minz-Sorten, hinzu kommen Duftgeranien, Salbei- und Thymiangewächse.
Der „Kräutergarten am Roten Tor“ in Augsburg ist ein Bürgergarten: Jeder darf sich in Maßen am Grün bedienen. Angepflanzt werden auch robuste Sorten, zum Beispiel verschiedene Arten von Minzen, die hier auf dem Bild zu sehen sind. (Juni 2021)
Im Augsburger Kräutergarten wachsen unter anderem 60 Minzesorten, 15 Salbei- und 7 Thymiansorten. (Juni 2021)
Der „Kräutergarten am Roten Tor“ in Augsburg ist ein Bürgergarten: Jeder darf sich in Maßen am Grün bedienen. Eine Informationstafel informiert über die Nutzungsbedingungen: DIe Entnahme kleiner Mengen ist gestattet, die Kräuter sollen vorsichtig abgeschnitten und nicht herausgerissen werden. Außerdem dürfen keine Pflanzen mitgenommen werden. (Juni 2021)
Bürgerinnen und Bürgern dürfen „kleine Mengen“ aus dem Augsburger Kräutergarten für den Hausgebrauch mitnehmen. (Juni 2021)

Die Open-Source-Tomate

All diese Initiativen rütteln jedoch nicht am Grundproblem: Dass mit dem Vormarsch des patentgeschützten Hybrid-Saatguts immer mehr freie alten Sorten vom Markt verdrängt werden.

Der baden-württembergische Verein Agrecol geht daher einen anderen Weg: Er hat das aus dem Digitalbereich bekannte Open-Source-Prinzip auf landwirtschaftliche Kulturpflanzen übertragen. Wer sein Saatgut lizenzieren will, tut das mit einer Open-Source-Lizenz. Die besagt, dass jeder das Saatgut frei nutzen, vermehren und züchterisch bearbeiten darf. Neuzüchtungen, die aus diesem Saatgut entstehen, dürfen ebenfalls nur Open-Source weitergegeben werden.

2017 kam die erste Open-Source-lizenzierte Tomate auf den Markt. Inzwischen gibt es auch Lizenzen für Weizen, Kartoffeln, Paprika und Mais. „Natürlich stehen wir mit der Einführung in den Saatgutmarkt rein mengenmäßig noch am Anfang“, sagt Johannes Kotschi, Gründer der Initiative OpenSource Seeds: „Mit größeren Akteuren im Lebensmittelhandel könnte man Open-Source-Saatgut in den nächsten zehn Jahren auf dem Markt etablieren.“ Die Händler seien inzwischen bereit, Öko-Produkte zu verkaufen, doch die Gemeingüter-Idee sei „noch zu wenig bewusst“.

Die Vielfalt von Nutzpflanzen im Bewusstsein zu halten, ist Voraussetzung für ihren Erhalt. Das Bild zeigt eine Breitblättrige Platterbse, die vor einem mit Blumen bemalten Mäuerchen in der Bonner Südstadt wächst. (August 2019)
Die Vielfalt von Nutzpflanzen im Bewusstsein zu halten, ist Voraussetzung für ihren Erhalt. (Breitblättrige Platterbse vor Blumenpanorama, Bonn, August 2019)

Den Charme einer Lizenzierung nach Open-Source-Prinzipien sieht Kotschi darin, dass sie sich mit der offiziellen Registrierung im Saatgutkatalog verbinden lasse. Grundsätzlich sei jedoch mehr genetische Vielfalt der Sorten anzustreben, weshalb es ein alternatives System für die Sortenzulassung brauche. „Aber immerhin kann man mit Open-Source-Lizenzen die bäuerlichen Sorten schützen, damit sie nicht von der Privatwirtschaft vereinnahmt werden“, so Kotschi.

Susanne Gura sieht einen Vorteil des Open-Source-Modells darin, dass es viele Menschen auf das Thema Geistiges Eigentum beim Saatgut aufmerksam mache. Seine Wirkung auf das bestehende Patentsystem sei jedoch begrenzt: „Damit kann man nicht verhindern, dass bereits bekannte Pflanzeneigenschaften genutzt und patentiert werden, wie etwa die Wassermelone von BASF“, sagt sie. Das könne nur durch eine direkte Kritik am herrschende Patentsystem gelingen. „Wir wollen nicht unser Saatgut mit einer Lizenz belegen“, sagt Gura. „Das ist zu bürokratisch und Kontrolle gibt es ohnehin nicht. Saatgut muss Gemeingut bleiben.“

Samen aus der Stadtbibliothek

Wie aber lässt sich ein Weg in eine nachhaltige Züchtung finden, die auf den Schutz durch geistiges Eigentum verzichten kann? Die Lösung sieht Susanne Gura in einer durch öffentliche Geldern unterstützten Züchtung. Forschungsgelder aus öffentlicher Hand müssten auch bei privaten Beteiligungen dem öffentlichen Zweck dienen, damit die Forschungsergebnisse öffentlich zugänglich und nutzbar bleiben.

Doch nur an wenigen Universitäten kümmern sich die landwirtschaftlichen Institute noch um traditionelle Züchtung, die meisten Forscher haben sich in den letzten zwanzig Jahren der Genforschung zugewandt. Der Bonner Nutzgarten etwa gehörte der Universität, die ihn nach der Schließung des Lehrstuhls dem Botanischen Garten übergab. Traditionelle Züchtervereine und -genossenschaften müssten gegenhalten, glaubt Gura.

„Nicht nur das Saatgut muss erhalten werden, sondern auch das Wissen darüber, wie diese Kulturpflanzen gehegt werden“ sagt sie. „Es ist auch wichtig, dass in der Öffentlichkeit ein Grundlagenwissen da ist über die Bedeutung der Vielfalt.“ Der Bonner Nutzpflanzengarten könne das Bewusstsein dafür schärfen. „Wir müssen gemeinsam das pflegen, was wir von den vorherigen Generationen erhalten haben. Dieses Kulturerbe darf nicht hinter Konzernmauern verschwinden.“

Schüler und Schülerinnen der Realschule St. Ursula in Augsburg pflegen seit einigen Jahren Hochbeete außerhalb des Schulgeländes am nahe gelegenen Vogeltor, auf einem kleinen Wiesengrundstück schräg gegenüber der City Galerie. (Juni 2021)
Schüler und Schülerinnen der Realschule St. Ursula in Augsburg pflegen seit einigen Jahren Hochbeete außerhalb des Schulgeländes am nahe gelegenen Vogeltor. (Juni 2021)
Schüler und Schülerinnen der Realschule St. Ursula in Augsburg pflegen seit einigen Jahren Hochbeete außerhalb des Schulgeländes am nahe gelegenen Vogeltor. Dazu haben sie Stangen aus bemalten Dosen gebaut und bepflanzt. (Juni 2021)
Kräuter-Stangen im Schulgarten von St. Ursula in Augsburg. (Juni 2021)
Schüler und Schülerinnen der Realschule St. Ursula in Augsburg pflegen seit einigen Jahren Hochbeete außerhalb des Schulgeländes am nahe gelegenen Vogeltor. Die Gießkannen sind mit einer Kette gesichert. Die Kinder füllen sie mit Wasser aus dem angrenzenden Stadtgraben. (Juni 2021)
Die Gießkannen füllen die Kinder mit Wasser aus dem angrenzenden Stadtgraben, um ihren Schulgarten zu bewässern. (Juni 2021)

Mit gutem Beispiel voran geht die Stadt Neuss in Nordrhein-Westfalen. Dort ist Saatgut sprichwörtlich zum Kulturgut geworden: Eine Regionalgruppe des VEN-Vereins überlässt der Stadtbibliothek Neuss ausgesuchte Samensorten zur Ausleihe an ihre Nutzerïnnen. Bestimmt ist das Saatgut ausschließlich für den nicht-gewerblichen Anbau. Jede Person darf eine Tüte mitnehmen und die Samen im eigenen Garten oder auf dem Balkon aussäen. Die Bibliothek bittet darum, aus einem kleinen Teil der Ernte erneut Saatgut zu gewinnen. Die Samen füllen die Hobbygärtnerïnnen nach der Ernte in bereits von der Bibliothek vorbereitete Tüten und geben sie in der Stadtbibliothek ab.

Auch die Bücherzentrale in Schleswig-Holstein hat seit geraumer Zeit eine „mobile Saatgut-Bibliothek“ in ihren Fahrbibliotheken an Bord: anfängertaugliche Bohnen, Erbsen, Radieschen und Tomaten. Da diese Pflanzen Selbstbefruchter sind, drohen keine Verkreuzungen. Der Fahrer des Bibliotheksbusses, der auf dem Land seine feste Tour über die Dörfer fährt, ist nun gleichzeitig Bibliothekar und Saatgut-Verleiher.

Aus diesem Kräuterbeet dürfen Besucher des Botanischen Gartens Augsburg mit der Schere Kostproben entnehmen. Das Bild zeigt eine Schere, die zwischen Küchenkräutern in die Erde gesteckt wurde. (August 2020)
Aus diesem Kräuterbeet dürfen Besucher des Botanischen Gartens Augsburg mit der Schere Kostproben entnehmen. (August 2020)

Literatur

Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.

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