Gegen den Baum

Was ein Wald erzählt, wenn man in sich hineinhört

von Gerhard Richter
6 Minuten
Buchen-Blätterdach im Wald von untern

Die Sehnsucht nach einem Blätterdach lässt mich nach einem Wald suchen, der mir Schutz bietet und Maß. Ich fühle mich so ausgewuchert. Mir fehlt eine Begrenzung. Der letzte Feldreport hat mir offenbart, wie maßlos ich mich ausgebreitet habe. Über Kanalisationen, Leitungen und Handelswege reichen meine Gliedmaßen. Mein Einkaufsbeutel – ob nun aus Plastik oder Jute – scheint mir wie ein Körperteil, ein vorgelagerter Schlund, der nach fernen Speisen giert. Mein Appetit späht nach den Genüssen anderer Kontinente. Wenn der Wald am Amazonas brennt, dann habe auch ich ihn angezündet. Mein Hunger ist bis dorthin zu spüren und regt die Viehhalter zum brandroden an. Wie eine Krake, ein gigantisches gieriges Wesen habe ich den Erdball umschleimt. Ich fordere Produktivität ein. Ich verlange und bekomme weit mehr geliefert, als ich essen kann. Ich wähle aus einem riesigen Sortiment, verbrauche, indem ich vergeude und wegwerfe. Ein übergewichtiges Rad in einem weltweiten Getriebe.

ein Baumstamm mit Moos, das darauf wächst [AI]