Was ihr diesen Sommer getan habt

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten

Dies war eine wieder mal eine derart unfassbare Woche, dass mir immer noch ganz schwirr im Kopf ist. Wahrhaftig, über eins kann sich niemand beschweren, nämlich dass wir in langweiligen Zeiten leben. Was sich gerade in Polen in Sachen Justizreform abspielt, sprengt jede Vorstellung, ebenso wie der Verlauf, den der deutsche Konflikt zwischen CDU/Merkel und CSU/Seehofer um die Flüchtlingspolitik in Europa nimmt. Unterdessen entscheidet sich in Luxemburg, ob die Europäische Union und der Grundsatz der wechselseitigen Anerkennung das potenteste Gegengift gegen den grenzüberschreitenden Autoritarismus ist – oder im Gegenteil zu seinem Werkzeug degeneriert. Und in Frankreich hat der Verfassungsrat das Prinzip der Brüderlichkeit zu einem veritablen Verfassungsprinzip hochgestuft, an dem sich das migrationspolitische Tun und Lassen des Gesetzgebers zu messen haben wird.

Fürchterlich und lächerlich

Aber der Reihe nach. In Polen hat die PiS-Regierung, allen europäischen Druckmitteln zum Trotz, ihr Gesetz in Kraft gesetzt, wonach die Richter_innen des Obersten Gerichtshofs mit 65 statt wie bisher mit 70 in Rente gehen müssen – es sei denn, sie sagen brav bitte bitte, und Präsident Duda lässt sie bleiben. Das soll auch für die Gerichtspräsidentin Małgorzata Gersdorf gelten, obwohl deren Amtszeit von 6 Jahren direkt in der Verfassung festgeschrieben ist. Nicht nur tritt hier der Grundwiderspruch des PiS-Populismus – nämlich dass sie bei den Wahlen 2015 nur ein Mandat zum Regieren, nicht aber zum Ändern der Verfassung errungen hat – so klar und messerscharf ins Relief wie selten. Sondern Präsident Duda hat sich obendrein bei der Frage, wer nun an Gersdorfs Stelle künftig in welchem Amt und auf welcher Grundlage und in welchem Verfahren zum stellvertretenden, kommissarischen oder tatsächlichen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs befördert werden soll, in ein derart unauflösliches Knäuel juristischer Absurditäten verstrickt, dass man lachen müsste, wenn das ganze nicht so furchtbar schrecklich wäre. WOJCIECH SADURSKI hat die ganze Tragikomödie aufgeschrieben.

Ganz blöd steht auch der Chef der rechtspopulistischen Regierungspartei in Deutschland da zum Ende dieser bemerkenswerten Woche: Horst Seehofer. Sein und seiner Partei blindwütiges Beharren, um jeden Preis Flüchtlinge an der Grenze einseitig nach Österreich zurückzuweisen, wurde von der Kanzlerin kunstreich seiner folgerichtigen Konsequenz zugeführt: nämlich dass Seehofer als Bundesminister des Inneren dann ja wohl der Mann ist, seine österreichischen Alpen- und Achsenfreunde für diese prächtige Idee zu begeistern. Das ist ihm nicht geglückt, und jetzt kann jeder sehen, was auch so nicht allzu großer Vorstellungsgabe bedurft hatte, nämlich dass Markus Söders Ende des Multilateralismus ganz massiv an Attraktivität verliert, wenn man am receiving end unilateraler Maßnahmen zu sitzen kommt. Das ist also der Spielstand im „Endspiel um die Glaubwürdigkeit“ (ein wahrer Zitateschatz, dieser Markus Söder!) der CSU? Hoch verdient, würde ich sagen.

Aber zu Vergnügtheiten selbst grimmiger Art besteht natürlich überhaupt kein Anlass. Der Koalitionsstreit hat eine migrationspolitisch-juristisch-belletristische Innovation hervorgebracht, die für sich genommen dem Horror- und Fantasy-Genre entsprungen zu sein scheint: die „Fiktion der Nichteinreise“. Dass das Recht sagt, wir tun jetzt mal so, als sei, was tatsächlich gar nicht ist, kommt schon mal vor. Aber mit diesem Trick Inhaber von Rechten, simsalabim, ihrer Rechte zu entkleiden, ist ein Vorgang von entschieden eigener Qualität, worauf DANA SCHMALZ mit großem Nachdruck hinweist. MATHIAS HONG zeigt, dass auch das Grundgesetz dem Gesetzgeber bei seinen Fingierübungen Grenzen zieht. Warum diese Fiktion an der Landgrenze mit dem so genannten Flughafenverfahren nicht vergleichbar ist, stellt OLAF KLEIST klar. MAX PICHL sieht das Ziel der ganzen Übung in der Orbánisierung Deutschlands: „Es geht im Kern darum, eine illiberale und anti-europäische Form des Rechtsstaats in Deutschland zu implementieren, die in Ungarn schon weit vorangeschritten ist. Auf lange Sicht ist es das Ziel von nationalistischen Akteuren, dass rechtsstaatliche Garantien nur noch formell auf dem Papier bestehen. Der autoritär transformierte Rechtsstaat ist dann nur noch eine Attrappe, weil Betroffene zu ihm faktisch keinen Zugang mehr haben.“

Warten auf Celmer

Zurück zu Polen: Wenn die polnische Justiz zu einem Tool der Regierung wird, kann man dann von einer irischen Richterin verlangen, einen polnischen EU-Haftbefehl zu vollstrecken und dieser polnischen Justiz den Gesuchten ohne eigene Prüfung auszuliefern? PÉTRA BARD und WOUTER VAN BALLEGOOIJ haben sich die Schlussanträge von Generalanwalt Tanchev im epochalen Celmer-Verfahren genauer angesehen, in dem der EuGH auf diese Frage eine Antwort geben wird. Anders als der Generalanwalt sehen sie das Problem nicht so sehr in Herrn Celmers subjektivem Grundrecht auf ein faires Verfahren, sondern in dem höchst objektiven Zustand der Rechtsstaatlichkeit in der Republik Polen. Mit Tanchev zu erwarten, dass die irische Richterin nicht nur systemische Defizite im polnischen Justizsystem, sondern obendrein auch die individuelle Betroffenheit von Herrn Celmer von denselben nachweist, bevor sie Polen den Vollzug des Haftbefehls verweigert, scheint MICHAL KRAJEWSKI zu viel verlangt. Der Gerichtshof sollte sich stattdessen an den Kolleg_innen in Straßburg orientieren und schon auf den bösen Anschein justizieller Abhängigkeit abstellen.

Wie wird sich der Gerichtshof entscheiden? Am 25. Juli werden wir die Antwort wissen. Dann wird das Urteil verkündet, und wir werden gemeinsam mit ARMIN VON BOGDANDY und dem Max-Planck-Institut für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht in Heidelberg ein Online-Symposium zu diesem Anlass veranstalten und die Entscheidung aus einer Reihe von verschiedenen Perspektiven einer gründlichen Analyse unterziehen.

Die PiS-Regierung in Polen ist unterdessen ungebrochen fleißig und kreativ beim Finden von Möglichkeiten, ihr Eins-Sein mit dem Willen des souveränen polnischen Volkes mit gesetzgeberischen Mitteln abzustützen. Jetzt ist offenbar das Wahlrecht an der Reihe, wie RYSZARD BALICKI berichtet.

Alle Menschen werden Brüder

In Frankreich hat der Verfassungsrat am Freitag ein Gesetz, das Hilfe für Flüchtlinge kriminalisiert, teilweise für verfassungswidrig erklärt. Die Entscheidung ist insofern eine echt revolutionäre Tat, als sie nach liberté und égalité auch das Prinzip der fraternité mit rechtlichen Folgen ausstattet – und das in diesen Zeiten! Es kann nicht kriminell sein, wenn ein Mensch seinem Mitmensch hilft, nur weil diese Hilfe der vermeintlichen Staatsraison zuwiderläuft. BENJAMIN BOUDOU beschreibt, was es mit dem délit de solidarité auf sich hat.

In Österreich hat der Verfassungsgerichtshof ebenfalls einen Pfosten eingeschlagen, der sich mehr als sehen lassen kann: Das geltende Personenstandsrecht sei so auszulegen, dass intergeschlechtliche Personen nicht länger gezwungen sind, sich als Männer oder Frauen zu identifizieren. ELISABETH GREIF berichtet.

Die Freie und Hansestadt Hamburg will bei der Einstellung von Staatsanwälten der Entwicklung, dass diese Arbeit fast nur noch von Frauen getan wird, mit der Einführung von Männerquoten entgegenwirken. Ist das mit geltendem Verfassungs- und Europarecht vereinbar? MARIA WERSIG analysiert das sehr nüchtern. Fazit: von einer geschlechtsspezifischen strukturellen Benachteiligung von Männern, die eine Bevorzugung nach Geschlecht rechtfertigen könnte, kann keine Rede sein.

Der Europäische Gerichtshof muss eine gutachterliche Stellungnahme über das CETA-Freihandelsabkommen zwischen EU und Kanada abgeben und hat zu diesem Zweck in der vergangenen Woche eine mündliche Verhandlung abgehalten. Über Verlauf und Ertrag der Verhandlung berichtet GESA KÜBECK.

In Pakistan sollen die Stammesgebiete an der Grenze zu Afghanistan der pakistanischen Verfassung unterworfen und in die Verwaltungsstruktur des Landes eingegliedert werden, was ADEEL HUSSAIN zum Anlass für einen Blick auf die Geschichte dieses wilden Landstrichs nimmt.

In FABIAN STEINHAUERs Glosse geht es in dieser Woche um Recht, Kunst, Pech und Maxim Biller.

Anderswo

ANNA LÜBBE untersucht die Ergebnisse des EU-Gipfels zur Asylpolitik.

LUC VON DANWITZ berichtet von einem Urteil des Europäischen Gerichts, das die Pflicht von Marine Le Pen bestätigt, dem Europäischen Parlament 300.000 Euro zurückzuzahlen, ohne dabei in die populistischen Fallstricke der Front-National-Chefin zu tappen.

MANUEL MÜLLER prophezeit der Europäischen Volkspartei einen heißen Sommer anlässlich des sich zuspitzenden Konflikts um die Mitgliedschaft von Viktor Orbáns Fidesz-Partei.

ALEKS SZCZERBIAK überlegt, welche Auswirkungen der Konflikt zwischen Polen und der EU um Rechtstaatlichkeit und unabhängige Justiz auf die nationale Politik in Polen haben könnte.

MURRAY HUNT sieht die Angriffe in Polen auf die Unabhängigkeit der Justiz als Teil eines weltweiten Trends.

STEPHEN TIERNEY beschreibt, wie sich die konstitutionellen Gewichte in Großbritannien immer mehr zu Lasten des Parlaments und zu Gunsten der Regierung verschieben.

GAUTAM BHATIA berichtet von einer Entscheidung des indischen Obersten Gerichtshofs zum speziellen Status der Hauptstadt Delhi.

So viel für diese Woche. Falls Sie doch lieber erst dieses Editorial zu Ende lesen wollten, freut mich das natürlich auch, und damit Sie nicht wieder hochscrollen müssen, um den Link zu unserer Unterstützungs-Seite zu finden, klicken Sie einfach HIER.

Ihnen alles Gute und eine erfolgreiche Woche!

Ihr Max Steinbeis

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