Politik im zweiten Rang, Erdgas im flachen Grund und ein großer Schreiber auf dem Dorf

In Niedersachsens Provinz werden deutsche Eigenheiten greifbarer als in den Metropolen. Radreport Deutschland Kapitel 4.

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Radweg-Ausschilderung in Tiste, Kreis Rotenburg an der Wümme: Hamburg 60 Kilometer, Bremen 91 Kilometer.

Zwischen Hamburg und Bremen

In Handeloh habe ich die vogel- und waldreiche Gegend hinter mir gelassen. ›Niedersächsisch normal‹ würde ich sagen, fragte mich jemand, wie ich die Gegend empfinde. Eben erstreckt sich das Land, Platt steht auf einigen Schildern. Das Dorf Welle zum Beispiel heißt niederdeutsch Will. Platt bin ich einige Kilometer weiter angesichts eines Straßenschilds. Es gehört zum Landkreis Rotenburg und benennt die Patenschaften, hübsch mit Wappen: ›Angerburg, Ostpreußen‹ und ›Stuhm, Westpreußen‹.

Auf weißem Schild am Straßenschild ist zu lesen: „Patenkreise: Angerburg (Ostpreußen), Stuhm (Westpreußen)“, jeweils mit Wappen.
Warum wird Preußen hier noch hochgehalten? Der Landkreis Rotenburg an der Wümme benennt lediglich die alten deutschen Namen.

Im ersten Rotenburger Dorf, Tiste, frage ich an seinem alten Fachwerkgehöft den Bauer, wie die revanchistischen Namen zu verstehen seien. Hartmut Löhmann misst den preußischen Bezeichnungen keine Bedeutung zu, schiebt alle Schilderschuld auf die Kreisverwaltung. Nein, meint er auf meine Nachfrage, Parteien am rechten Rand seien in der Gegend unbedeutend, allen damaligen Trends im Osten zum Trotz.

A1 statt AfD: Lokales Staubarometer wichtiger als politische Großwetterlage

Was politisch in den Neuen Ländern passiert, interessiere hier kaum. »Die Leute sind fixiert auf ihre Arbeit und die Verkehrsanbindung« sagt Löhmann. »Viele pendeln nach Bremen oder Hamburg und brauchen manchmal zwei Stunden, einfache Strecke.« A1 statt AfD. Das lokale Staubarometer ist in Tiste wichtiger als die politische Großwetterlage.

Nach dem Gesprächsmitschnitt will ich das Smartphone neu laden. Dem geht im Strudel von Navigation, Nachschlagen und Notizen meist schon nach zwei Stunden der Saft aus. Doch hier, in Tiste, endet jäh das Gemächliche dieses glücklichen Morgens. Der Schreck fährt mir doppelt in die Glieder. Ladestecker und -kabel fehlen, sind wohl in Thelstorf geblieben – meinem letzten Etappen-Stützpunkt nahe Jesteburg.

Deutschlandkarte mit 24 markierten Übernachtungsstätten.
24 Etappen für 2451 Kilometer: Beginnend in Holstein durchmaß ich als RadelnderReporter alle 16 Bundesländer, im kleinen Gepäck die große Recherche-Frage: Wie geht's Deutschland? – Antworten gibt mein Buch „Zwei Räder, ein Land“, ISBN 978–3–7497–9757–8.
Schwarz-Weiß-Aufnahme der Bäuerin, vor dem Melkhus-Symbol im Hintergrund im Hofgiebel.
Das Flachland zwischen Wümme und Oste ist Hochburg deutscher Milchproduktion, sagt Martina Eckhof vom Melkhus in Ehestorf.
Eingerahmt von verwittertem Holzrahmen hat die Stiftung hinter Glas biografische Details von Walter Kempowski zusammengestellt; zu erkennen sind unter anderem 2 Schwar-Weiß-Aufnahmen, auf denen der Schriftsteller zu sehen ist.
Die Kempowski Stiftung hat ihren Sitz in der ehemaligen Villa des Großschriftstellers, dem „Haus Kreienhoop“.

Ich fahre über Deutschlands größtem Erdgas-Förderfeld

15.30 Uhr, zurück auf der Route. Bis zum Ziel im nördlichen Bremen fehlen noch vierzig Kilometer. Hinter Nartum ödet mich die Gegend an, viele Großfelder, immergleiche Gehöfte. Vielleicht wären Wolfsafaris ein belebender Wirtschaftszweig? Obwohl die Gegend so arm nicht sein kann: Großkonzerne zahlen hier Tribut, um in den Eingeweiden der Erdkruste zu bohren. Nach Erdgas. Gefördert wird es seit Jahrzehnten in Deutschland: zu 97 Prozent in Niedersachsen, dabei größtenteils in Kempowski-Land.

Auch wenn die gesamte deutsche Erdgasförderung nur 7 Prozent des Deutschlandbedarfs deckt, sind hier die ganz Großen vertreten, wie Exxon-Mobil und RWE Dea. Rund elf Milliarden Kubikmeter Erdgas fördern sie jährlich. Es ist genug, um umgerechnet 55000 Einfamilienhäuser ein Jahr lang zu beheizen. Das reichte fürs komplette Rotenburg. Die Stadt an der Wümme ist ungekrönte Hauptstadt des größten Erdgas-Fördergebiets, um die ich mit dem Rad radial meinen Bogen ziehe. Aber von Industrieanlagen oder Fördertürmen keine Spur.

Rohrleitungen treten aus dem Boden und sind hinter einem Zaun, auf dem technische Infos bereitgehalten werden, abgeschirmt
Nördlich von Rotenburg/Wümme konzentriert sich die deutsche Erdgasförderung.
Vor dem Klubhaus schmausen in Horstedt Angehörige eines Schützenvereins, wie das Emblem an der Hauswand bezeugt.
Dörfer und Land wirken auf mich zugleich harmlos und bedrohlich.

Hinter Narthausen lasse ich den Rotenburger ›Erdgas-Felderkomplex‹ vollends hinter mir. Nicht nur deswegen fühle ich mich erleichtert. Bis zur Landesgrenze von Bremen trennen mich nur fünfzehn Kilometer. Bei Fischerhude begebe ich mich in die Niederungen der Wümme, die mich ins fünfte Bundesland geleitet.

Bremen – mein fünftes Land und Endpunkt von Rad-Etappe 3

Mein Plan besteht darin, in den Kern traditionellen Kommerzes einzudringen, eine alte Kaffeerösterei zu besuchen und einen Kolonialwarenladen. Doch als ich die Wümmewiesen Bremens erreiche, ist es viel zu spät dafür. Der Ladekabel halber und wegen des langen Halts in Nartum bin ich seit fast zehn Stunden unterwegs. Bis zur heutigen Unterkunft im Norden fehlen auf direkter Route nur 14 Kilometer. Ein Umweg über Stadtzentrum und Holzhafen bedeutete fast das Doppelte.

Ich zögere, lehne das Rad an einen bemoosten Holzrahmen am Straßenrand. Im Rahmen hängt ein Schild, ›Binneboom-Museum‹. Das reizt meine Neugier mehr als Kaffee und Koloniales. Ich biege zum Museum ab und lerne Klaus Krentzel kennen.