Der Tonfall der Diskussionen verändert sich

Die akademische Filterblase in den USA, Missinformation, Covid 19 und die Privatsphäre: Eva Wolfangel berichtet aus Cambridge und Boston

5 Minuten
Skyline von Boston

Cambridge ist ein Dorf. Das ist uns nur nicht aufgefallen, als all die Studenten noch hier waren. In der letzten Volkszählung 2010 wurden 105.000 Einwohner gezählt. Die großen Universitäten (Harvard University, Hult International Business School, Lesley University, Massachusetts Institute of Technology) haben zusammen etwa 36.000 Studenten – also gut ein Drittel aller Einwohner. Und die sind im März von einem auf den anderen Tag verschwunden. Am 10. März – wenige Tage vor der einwöchigen sogenannten Springbreak – haben die Präsidenten von Harvard und MIT angekündigt, dass Studenten innerhalb der nächsten fünf Tage aus den Wohnheimen ausziehen sollten und „heim“ gehen sollten. „Bitte packt so, als würdet ihr nicht ans MIT zurückkehren“, stand in einer der Mails an die Studenten, die ihr Studium im Sommer abschließen. Alle Vorlesungen würden virtuell abgehalten werden.

Dass dabei weder bedacht wurde, dass „Zuhause“ für viele Studenten eben Cambridge ist, noch dass es sich viele schlicht nicht leisten können, kurzfristig einen Flug nach beispielsweise Indien zu buchen – und schon gar nicht, dass virtuelle Seminare zu US-Tageszeit für Studenten „Zuhause“ in Indien schlicht nicht funktionieren. Das hat für Unmut gesorgt.

Ich bin derzeit in einem Fellowship am MIT, dem Knight Science Journalism Fellowship, und für uns Fellows gab es zunächst überhaupt keine Ansagen. Dafür gab es umso mehr Gerüchte: Bald gebe es keine Flüge mehr nach Europa. Massachusetts plane einen Lockdown – keiner dürfe den Bundesstaat verlassen. Dazu kamen die unzähligen E-Mails vom MIT, die teils nachts um 23.45 Uhr alle Vorlesungen für den nächsten Tag absagten, persönliche Treffen generell verboten oder Studenten drängten, besser noch zwei Tage früher auszuziehen.

Das alles hat eine seltsame Katastrophenstimmung verursacht, die zumindest in unserer Fellowsgruppe dazu geführt hat, dass die Mehrheit von einem auf den anderen Tag in Panik abgereist ist. Unser Gruppenchat war eine Zeitlang dominiert von Fotos überfüllter Flughäfen, Tafeln mit gecancelten Flügen und schließlich Fotos von Menschen in Quarantäne in Indien, Brasilien, Kanada oder Rumänien.

Wir haben uns entschlossen vorerst zu bleiben, auch weil es uns nicht ratsam erschien, sich in dieser Situation mit der ganzen Familie in Menschenmassen an Flughäfen aufzuhalten und womöglich angesichts gecancelter Flüge irgendwo hängen zu bleiben. Zudem fühlen wir uns hier recht sicher.

Und immer wieder merken die Professoren an, dass sie ja gerade in ihrer Ferienwohnung auf Cape Cod oder anderswo sind und dass sie durchaus wissen, was das für ein Privileg ist. Insgesamt verschärft die Pandemie hier in den USA die Spaltung einer Gesellschaft massiv, die ohnehin schon deutlich gespalten war. Viele reiche New Yorker beispielsweise sind in ihre Ferienhäuser am Meer gezogen, während in den ärmeren Stadtteilen teils viele Menschen auf wenigen Quadratmetern zusammenleben.

Während die Gemeinden am Strand Alarm schlagen, dass ihre Infrastruktur nicht auf einen Ansturm aus New York ausgerichtet ist, kämpfen die weniger privilegierten BewohnerInnen damit, social distancing in einer engen, überfüllten Stadt überhaupt möglich zu machen. Und erste Studien zeigen, dass African-Americans deutlich stärker von der Pandemie betroffen sind als Weiße, auch die Sterblichkeit ist deutlich höher.

Was sich auch verändert hat, ist der Tonfall in den vielen Diskussionsrunden auf Zoom. Amerikanische JournalistInnen beklagen, dass die Hetze von Präsident Trump gegenüber den Medien massiv zugenommen hat, und insgesamt ist es schwierig mit einem Präsidenten, der mehr Fehlinformationen tweetet als man richtigstellen kann. Während Anfang März alle Events am MIT und in Harvard abgesagt wurden und die Menschen damit beschäftigt waren, ihr Leben zu organisieren, spürt man nun einen massiven Diskussionsbedarf: so finden von verschiedenen Harvard Schools derzeit unzählige Zoom-Diskussionsrunden über Missinformation statt, über die Frage, wie umzugehen ist mit wissenschaftlichen Studien ohne Peer-Review und inwiefern beispielsweise russische Trollfabriken die Pandemie ausnutzen, um erneut das Vertrauen in die Demokratie zu erschüttern (wovor die Sorge vor der Präsidentschaftswahl hier sehr groß ist).

Am MIT wird viel darüber gesprochen, wie Technologie helfen kann, der Pandemie zu begegnen. Von besseren virtuellen Konferenzsystemen…

… bis hin zum Tracking von Bewegungsdaten. Hier fällt mir ein deutlicher Unterschied zur Diskussion in Deutschland auf: Privacy ist nach wir vor ein unterschätztes Thema in den USA. Einige meiner Kollegen aus unserem „AI for impact“-Seminar am MIT Media Lab haben die App Safe Paths mitentwickelt, die zwar Privacy betont, aber aus meiner Sicht übersieht, dass eine zentrale Datenbank von Bewegungsdaten eine große Gefahr für die Privatsphäre darstellt. Wir haben uns darüber ziemlich gestritten, und ich habe meine deutsche Datenschutz-Filterblase vermisst. Und die New York Times, die vor zwei Jahren noch in einer großartigen Recherche ihre LeserInnen darüber aufgeklärt hat, wie leicht sich scheinbar anonyme Bewegungsdaten de-anonymisieren lassen, nutzt nun genau diese Daten genau dieser damals kritisierten Unternehmen für große Visualisierungen über Bewegungen der Bevölkerung in Zeiten von Covid 19.