Peru: Die Luft geht aus

Sauerstoff-Flaschen können Leben retten. Doch in Peru haben sich mit Unterstützung des Staats zwei Riesen den Markt aufgeteilt. Das rächt sich in der Corona-Krise. Die Leidtragenden sind die Kranken.

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Grüne mannshohe Sauerstoff-Flaschen stehen in einer Reihe auf einer Strasse. Dahinter sieht man einige Menschen, zum Teil in Schutzkleidung.

Es ist noch dunkel, als Carlos Pardo die mannshohe Zehn-Kubikmeter-Flasche aus grün angestrichenem Stahl vor einem unscheinbaren mehrstöckigem Reihenhaus abstellt. Er ist nicht alleine. Rund hundert Stahlflaschen in allen Grüntönen stehen da schon. Ihre Besitzer vertreten sich die Beine und warten darauf, dass sich eine Stahltür öffnet. Es ist Winter in der peruanischen Hauptstadt Lima. Die neblig-feuchte Kälte kriecht den Wartenden in die Knochen.

Straßenverkäufer gehen umher und bieten ihnen heißen Kaffee und Brötchen an – obwohl das in der Quarantäne verboten ist. Pardo ist seit vier Uhr morgens auf den Beinen und hat bis auf einen Kaffee nichts im Magen. Um 11 Uhr ist er endlich an der Reihe. Der Mann an der inzwischen geöffneten Stahltür gibt ihm seine Flasche zurück, gefüllt mit lebensrettendem Sauerstoff.

Seit zwei Wochen fährt Carlos Pardo täglich in seinem Auto vom rund 30 Kilometer entfernten Stadtteil San Juan de Lurigancho bis in die der Hauptstadt vorgelagerte Hafenstadt Callao. Dort verkauft eine Firma medizinischen Sauerstoff. „Ich brauche den Sauerstoff für meine Schwägerin“, erzählt Carlos Pardo „Sie hat Covid." Wie alle Wartenden trägt er einen Mundschutz, darüber funkeln die Augen unter den grauen, buschigen Brauen. Carlos Pardo war 45 Jahre lang Polizist. Heute ist der 65-jährige dafür zuständig, dass seiner Schwägerin die Luft nicht ausgeht.

Im Vordergrund eine mannshohe grüne Sauerstoff-Flasche. Dahinter ein Mann mit grauen Haaren und buschigen grauen Augenbrauen. Der Mund ist mit einem blauen Mundschutz bedeckt.
Der pensionierte Polizist Carlos Pardo kann seine gefüllte Sauerstoff-Flasche in Empfang nehmen.

Wenn das Atmen zu teuer wird

Eigentlich herrscht in ganz Peru staatlich verordnete Quarantäne. Das sonst so quirlige Callao ist wie ausgestorben. Nur beim Sauerstofflieferanten stehen Menschen Schlange und missachten dabei so manche Abstandsregel. Denn hier in Callao können sie den lebensrettenden Sauerstoff zu einem halbwegs günstigen Preis erstehen. Für 150 Soles, das sind rund 42 Euro pro Flasche. Zwei solcher Zehn-Kubikmeter-Flaschen brauchen schwer an Covid-19 Erkrankte wie Pardos Schwägerin jeden Tag.

Das macht rund 560 Euro pro Woche – das Doppelte des monatlichen Mindestlohns in Peru. Rund um die Uhr muss die Schwägerin mit Sauerstoff versorgt werden, weil ihre Lunge vom Virus stark angegriffen ist. „Wir sind keine reiche Familie“, sagt Carlos Pardo. „Wir können das nur stemmen, weil wir alle zusammenlegen und sogar ein Darlehen aufgenommen haben.“

Das Coronavirus hat Peru besonders stark getroffen – und das, obwohl die Regierung sehr schnell einen drastischen Lockdown erlassen hatte. Doch die jahrzehntelange Vernachlässigung des peruanischen Gesundheitssystems präsentiert nun die Rechnung. Nirgends wird der marode Zustand des Gesundheitssystems deutlicher als beim Sauerstoff.

Grüne Sauerstoff-Flasche, dahinter ein Mechaniker mit Mundschutz.
Mechaniker im Sauerstoff-Handel von Hugo Valdivia in Callao

Kein Krankenhausbett, kein Sauerstoff

Innerhalb weniger Wochen ist die Nachfrage nach medizinischem Sauerstoff in Peru auf das Drei- bis Vierfache des üblichen Bedarfs geschnellt. Die wenigsten Krankenhäuser haben eigene Sauerstoffabfüllanlagen. Weil sie weder Betten noch Sauerstoff haben, müssen sie Patienten nach Hause schicken. Dort sind sie sich selber überlassen – beziehungsweise ihren Familien, die irgendwie schauen müssen, wie sie den Sauerstoff für sie heranschaffen.

So erging es auch der Schwägerin von Carlos Pardo. „Die Ärzte im Krankenhaus haben sie nach Hause geschickt, weil keine Betten frei waren und es keinen Sauerstoff gab“, sagt Pardo. Damit begann für die Familie eine teure Odyssee. Zuerst musste sie für umgerechnet 400 Euro die beiden Flaschen kaufen, dann nach einem Lieferanten für medizinischen Sauerstoff suchen. Und die sind in Peru knapp. Dies liegt nicht nur daran, dass das Gesundheitsministerium schlecht geplant hat, sondern vor allem daran, dass zwei internationale Konzerne den Sauerstoffmarkt in Peru unter sich aufteilen. Einer von ihnen ist die Linde-Gruppe.

Eine Firma beherrscht den Sauerstoffmarkt

In vielen peruanischen Haushalten sind die grünen, meterhohen Stahlflaschen mit dem Linde-Schriftzug seit Ausbruch der Corona-Pandemie überlebenswichtig geworden. Der ursprünglich deutsche Traditionsbetrieb hat seinen Firmensitz heute in Irland und unterhält Filialen in der ganzen Welt. In Peru beliefert er die staatlichen Krankenhäuser mit medizinischem Sauerstoff. 80 Prozent deren Sauerstoffbedarfs wird von einem Linde-Unternehmen abgedeckt. Unter dem Namen „Praxair“ vertreibt die Linde-Gruppe in Peru industriellen und medizinischen Sauerstoff sowie andere Gase. Mit ihrer Monopolstellung ist sie mitverantwortlich für die Sauerstoffknappheit in Peru, urteilt die staatliche Ombudsstelle Defensoria del Pueblo in ihrem Bericht vom 6. Juni.

Das Problem ist hausgemacht. Denn seit 2010 verbietet das peruanische Gesundheitsministerium Sauerstoff mit einem Reinheitsgrad von weniger als 99 Prozent für den medizinischen Gebrauch. Damit steht Peru alleine da: In den Nachbarländern werden Patient*innen auch mit Sauerstoff mit einem Reinheitsgrad ab 93 Prozent versorgt. Die peruanische Norm hatte zur Folge, dass ältere einheimische Anlagen schließen mussten, verknappte somit das Angebot und beförderte die Monopolstellung der beiden ausländischen Anbieter. Der zweite, wesentlich kleinere Anbieter neben Linde/Praxair ist die US-amerikanische Firma AirProducts. In den vergangenen 15 Jahren haben sich diese beiden Firmen kleinere Sauerstoff-Anbieter einverleibt und kontrollieren nun den Markt in Peru.

Wegen Preisabsprachen verurteilt

Ihre Vormachtstellung ist unerschütterlich. Die Geschäfte mit den staatlichen Krankenhäusern gingen sogar weiter, nachdem die peruanische Kartellbehörde INDECOPI vor sieben Jahren ein Bußgeld von umgerechnet gut 5 Millionen Euro gegen die Sauerstofffabrikanten Praxair, Linde und Messer Gases (heute Teil von Airproducts) verhängt hatte. Ihnen wurde vorgeworfen, illegale Preisabsprachen getroffen und damit dem peruanischen Staat geschadet zu haben. Praxair fusionierte inzwischen mit der Linde-Gruppe; Messer Gases wurde vom US-amerikanischen Konzern Airproducts aufgekauft.

Praxair und AirProducts legten wiederholt Widerspruch gegen das Urteil ein. Drei Jahre lang war das Verfahren beim Obersten Gericht anhängig, bis am 16. Juni 2020 die Strafe letztinstanzlich bestätigt wurde. Womöglich kein Zufall, dass die Richter auf dem Höhepunkt der Coronakrise und mitten im Skandal um knappen Sauerstoff endlich ihr Urteil fällten. Damit kann der peruanische Staat das Bussgeld einziehen – und damit zum Beispiel Sauerstoff im Ausland kaufen. Denn in Zeiten der Pandemie wird deutlich, dass die beiden Riesen mit der Nachfrage nicht fertig werden.

Bergbau gegen Krankenhaus

Medizinischer Sauerstoff ist nicht nur wegen des Coronavirus’ knapp in Peru. Kranke waren schon immer unattraktive Abnehmer für die Sauerstoff-Fabrikanten. Dazu muss man wissen: Der Herstellungsprozess für industriellen und medizinischen Sauerstoff ist weitgehend derselbe – nur dass der medizinische Sauerstoff konzentrierter und reiner ist und dafür zusätzliche Verfahren durchläuft. Mit industriellem Sauerstoff für metallverarbeitende Unternehmen, vor allem aber für die Bergbau-Industrie, lassen sich viel bessere Geschäfte machen als mit medizinischem Sauerstoff für Spitäler, heißt es im Bericht der staatlichen Ombudsstelle.

Verschärfend kommt hinzu, dass Peru ausgerechnet den Bergbau für systemrelevant erklärt hat: Viele Bergbauunternehmen haben auch während des Lockdowns durchgearbeitet. Das nach 108 Tagen Beschränkungen wirtschaftlich ausgeblutete Peru hat mittlerweile fast alle Wirtschaftszweige wieder geöffnet. Mit anderen Worten: Die Herstellung medizinischen Sauerstoffs konkurriert mit der Nachfrage nach industriellem Sauerstoff. Und wen werden die beiden Monopolbetriebe beliefern?

Die peruanische Regierung hat zwar am 4. Juni ein Notdekret erlassen, nach dem die Herstellung medizinischen Sauerstoffs Vorrang haben muss vor der Herstellung industriellen Sauerstoffs. Aber wie die Ombudsstelle zurecht vermerkt, ist das bisher nicht viel mehr als eine Bitte: Es fehlen die entsprechenden Verträge mit den Sauerstofflieferanten. Auf unsere Anfrage an Praxair (Linde-Gruppe), wieviel Sauerstoff das Unternehmen momentan für die Industrie und wieviel für den medizinischen Gebrauch produziere, kam auch nach fünf Tagen keine Antwort.

Rund 60-jähriger Mann mit Brille, verschränkten Armen, steht umgeben von grünen Sauerstoff-Flaschen aus Stahl.
Sauerstoff-Händler Hugo Valdivia in seinem Lager

Kleinunternehmer füllen die Lücke

Für Hugo Valdivia steht fest: „Das sind die Spielchen einer Mafia.“ Der 57-Jährige verkauft in seinem Kleinbetrieb seit 20 Jahren Sauerstoff. Bis zur Covid19-Krise hat er ihn von AirProducts geliefert bekommen, dem Konkurrenzunternehmen der Linde-Gruppe. Doch Anfang April diesen Jahres hat Airproducts zuerst den Preis um 80 Prozent angehoben und schließlich die Lieferung an den Zwischenhändler ganz eingestellt, berichtet Valdivia..

Den Sauerstoff, den Valdivia für Menschen wie Carlos Pardo abfüllt, bekommt er seitdem aus dem Nachbarland Ecuador geliefert. In den peruanischen Medien wurde berichtet, dass manche Händler umgerechnet bis zu 1500 Euro für eine Zehn-Kubikmeter-Flasche bezahlt hätten. Da mache er nicht mit, beteuert Valdivia: „Zwischenhändler und Spekulanten bekommen bei mir nichts.“ Mit seinen umgerechnet rund 42 Euro Verkaufspreis pro zehn Kubikmeter Sauerstoff sei er "fast am Selbstkostenpreis“, sagt der Unternehmer.

Carlos Pardo ist am Samstag zum letzten Mal nach Callao gefahren, um Sauerstoff zu kaufen. Seine Schwägerin ist am Tag darauf gestorben. Einen Tag später wurde sie beerdigt. Nur fünf Angehörige durften bei der Beisetzung dabei sein. Carlos Pardo versucht, seine Trauer nicht zu zeigen. In seinem langen Polizistenleben hat er schon manche harte Zeiten erlebt und bewältigt. Er erwähnt den Bürgerkrieg. Unfälle. Die Cholera. „Covid19 ist eine weitere Tragödie in unserem Land“, meint Carlos Pardo. „Wir werden auch sie überwinden."

Die Recherche für diesen Artikel wurde gefördert vom WPK-Recherchefonds Covid-19.

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