Verkehr: „Deutschland hat den Anschluss verloren“

Ein Interview mit Stefan Wallmann, Verkehrsexperte und Deutschlandchef von Ramboll, einem dänischen Ingenieurs- und Planungsberatungunternehmen

vom Recherche-Kollektiv Busy Streets:
7 Minuten
Erneuerung von Asphalt in Hamburg

Busy Streets – Auf neuen Wegen in die Stadt der Zukunft

Veraltete Technik und eine schwerfällige Bürokratie kicken Deutschland verkehrstechnisch ins Abseits. Ramboll-Deutschlandchef Stefan Wallmann spricht über die Versäumnisse der Politik und was man von den anderen Ländern lernen kann. Ramboll ist eine der großen Ingenieur- und Planungsberatungen in Europa, die weltweit aktiv sind. Wallmanns Kolleginnen und Kollegen planen unter anderem den 18 Kilometer langen Fehmarnbelttunnel unter der Ostsee, beraten Regierungen und haben in den vergangenen vier Jahrzehnten jeden zweiten Radweg in Kopenhagen geplant.

Busy Streets: Herr Wallmann, Deutschland galt im Ausland lange als fortschrittliche Industrienation. Gilt das noch für die Verkehrsinfrastruktur?

Stefan Wallmann: Nein, Deutschland hat massiv den Anschluss an andere Länder verloren. Viele Brücken sind marode, der Schienenverkehr ist am Limit und in den Ballungsgebieten droht der Verkehrskollaps. Wenn man die vergangenen 30 Jahre betrachtet, habe ich das Gefühl, uns ist nach dem Aufschwung Ost die Luft ausgegangen.

Welche Länder sind fortschrittlicher, wenn wir nur den Aspekt nachhaltige Mobilität betrachten?

Die skandinavischen Länder sind deutlich weiter als wir. Sie wollen den Menschen den Umstieg leicht machen. Die Regierungen fördern den Umweltverbund, die E-Mobilität mit Fahrrad und Auto, bauen massiv ihr Radwegenetz aus und sind mit der Digitalisierung viel weiter als wir.

In Finnlands Hauptstadt Helsinki wurde mit „Whim“ die zurzeit modernste Mobilitäts-App der Welt entwickelt. Whim heißt so viel wie „nach Lust und Laune“ und vereint das gesamte Mobilitätangebot der Stadt – Busse und Bahnen, Fähren, Mietwagen alles bis hin zu Taxis und Leihräder. Über die App lassen sich verschiedene Abos buchen, man kann aber auch einzelne Fahrten darüber abrechnen.

Die Politik unterstützt diese Entwicklung. Mit dem neuen Transportgesetz haben sie dieses umfassende Angebot überhaupt erst möglich gemacht. Seit es 2018 eingeführt wurde, sind alle Verkehrsunternehmen dazu verpflichtet, ihre Daten offenzulegen. Sie stellen ihre Fahrpläne, die Echtzeitdaten und ihre API-Schnittstellen zur Verfügung, damit tatsächlich alle Angebote in einer App gebündelt werden können.

In Städten wie München oder Hamburg geht zur Hauptverkehrszeit oft nichts mehr. Busse und Bahnen sind überfüllt und ebenso die Straßen. Wie konnte es soweit kommen?

Die Politik hat das Zeitfenster verstreichen lassen, um das Angebot dem Bedarf anzupassen. Die Urbanisierung wie wir sie gerade in den Innenstädten erleben, ist im Wesentlichen so eingetroffen wie man sie bereits Ende der 90er Jahre prognostiziert hat. Der heutige Bedarf war absehbar.

Also hat die Politik ihre Aufgabe der Grundversorgung nicht erfüllt?

Richtig und sie hat zu sehr auf den Privatwagen gesetzt. Die Menschen organisieren ihre Mobilität fast nur noch mit dem eigenen Wagen, weil der öffentliche Verkehr mit Bus, Bahn und S-Bahn zunehmend ausgedünnt oder den Bedürfnissen nicht mehr angepasst wurde.

Weißes Hemd, schwarzes Sakko, schwarze Brille, weißer Drei-Tage-Bart, Deutschlandchef Stefan Ramboll im Interview mit Busy Streets.
„Schneller werden“ ist das Mantra von Stefan Wallmann für Deutschlands Verkehrspolitik. Planungs- und Genehmigungsprozesse müssen seiner Ansicht nach drastisch verkürzt werden, damit Deutschland die Verkehrswende schafft

Im Rahmen des Klimapakets hat die Bundesregierung nun beschlossen, das Bahnfahren günstiger wird. Ist das ein gutes Signal?

Ich habe geschluckt als ich das gehört habe. Nur weil die Preise sinken, fahren nicht automatisch mehr Züge. Das System ist bereits am Anschlag. Hier wird mit einer guten Idee ein akutes Problem noch verschärft.

Das Schienennetz wurde von 44.600 km im Jahr 1994 auf 38.500 km, in 2017 reduziert. Sollte jetzt ein Teil der Strecken reaktiviert werden, um den Ausbau des Netzes zu beschleunigen?

Das funktioniert nicht. Die Bahn hat einige Streckenabschnitte verkauft. Wo früher Züge fuhren, stehen heute Häuser. Natürlich brauchen wir einen Ausbau des Netzes. Aber der kostet Zeit, die wir nicht haben. Wir müssen schnell mehr Kapazität ins Netz bekommen. Das geht mit mehr und längeren Zügen auf den Strecken.

Wie kann das funktionieren, wenn das System bereits am Anschlag ist?

Im ersten Schritt sollte bundesweit ein einheitlicher moderner digitaler Signalstandard etabliert werden. Momentan haben wir einen bunten Flickenteppich aus alter Technik. Ein Großteil der Stellwerke arbeitet noch mit Relaistechnik aus der Kaiserzeit. Andere Regionen verwenden mechanische Stellwerke, elektromechanische, elektronische oder digitale. Wer regelmäßig Bahn fährt weiß, dass Stellwerksprobleme häufig zu Verspätungen führen. Diese Störungen breiten sich dann im gesamten Netz aus.