„Ein kostenloses ÖPNV-Ticket für alle ist überflüssig“

Die Mobilitätsforscherin Dr. Sophia Becker über die richtigen Anreize zur Verkehrswende, die nötigen Voraussetzungen für den Wandel und die Rolle der Kommunen.

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Die Mobilitätsforscherin Sophia Becker steht mit einem Lastenrad auf einer zweispurigen Straße. Das Lastenrad hat einen türkisfahrbenenn Rahmen und vor dem Lenker eine weiße Box. In türkisfarbener Schrift  steht „Berliner Wanne“ auf der Lastenradbox.

Busy Streets – Auf neuen Wegen in die Stadt der Zukunft

Bei wenigen Themen sind sich die Deutschen so einig wie beim Klimaschutz. Trotzdem erledigen täglich Millionen Menschen ihre Wege lieber mit dem Auto als mit Bus, Bahn oder Fahrrad. Was bringt Menschen dazu, ihre Werte im Alltag umzusetzen und welche Rolle spielen dabei Städte und Unternehmen? Darüber sprach Andrea Reidl mit der Mobilitätsforscherin und Psychologin Dr. Sophia Becker. Sie leitet an der Technischen Universität Berlin die interdisziplinäre Forschungsgruppe EXPERI. In dem gemeinsamen Projekt „Die Verkehrswende als sozial-ökologisches Realexperiment“ forschen außerdem Wissenschaftler von der TU Berlin, dem Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) Potsdam und dem DLR Institut für Verkehrsforschung Berlin.

Busy Streets: Mehr Klimaschutz finden die meisten Menschen gut. Trotzdem bleibt das Auto das Verkehrsmittel der Wahl. Warum klaffen Wertvorstellung und ihre praktische Umsetzung im Alltag so weit auseinander?

Dr. Sophia Becker: Vom Auto aufs Rad oder den öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) umzusteigen, ist eine Verhaltensänderung. Bevor Menschen überhaupt ernsthaft darüber nachdenken, ihr bewährtes Mobilitätsmuster zu durchbrechen, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein. Das sind die Fähigkeit, die Motivation und die Gelegenheit für eine neues Verhalten. Ein Beispiel: Nur wer Radfahren kann, ist überhaupt in der Lage, sich ein Lastenrad auszuleihen, um seinen Wocheneinkauf oder kleine Möbel damit zu transportieren.

Busy Streets: Was kann einen Autofahrer dazu motivieren, auf Bus oder Bahn umzusteigen?

Dr. Sophia Becker: Für Menschen, die es stressig finden, mit ihrem Wagen durch den Berufsverkehr zu fahren, kann Bahnfahren attraktiv sein. Dort haben sie Zeit für sich und können lesen oder Musik hören. Das wäre eine ausreichend hohe Motivation. In Berlin sind die Gegebenheiten für den Umstieg bereits vorhanden. Das ÖPNV-Netz ist gut ausgebaut und eine Monatskarte relativ günstig. Außerdem gibt es viele weitere Angebote, um ohne eigenen Pkw mobil zu sein wie Sharing-Angebote für Fahrräder, Scooter und Lastenräder oder Ride-Sharing. Entsprechend niedrig ist dort das Bedürfnis, einen eigenen Wagen zu besitzen. Das spiegeln bereits heute die Daten wider. Die Stadt hat den niedrigsten Autobesitz Deutschlands.

Busy Streets: Kann einer der drei Faktoren durch andere Anreize ersetzt werden?

Dr. Sophia Becker: Nein. Fähigkeit, Motivation und Gelegenheit sind immer die Grundlage für eine Verhaltensänderung. Das lässt sich ebenfalls gut am Beispiel Berlin erklären. Dort haben sich in den vergangenen Jahren viele Menschen für eine bessere Radinfrastruktur engagiert. Sie sind also motiviert und fähig Rad zu fahren, es mangelt ihnen aber an sicheren Wegen und ausreichend Abstellanlagen – also an den Gelegenheiten. Im Sommer 2018 hat der Senat das Mobilitätsgesetz verabschiedet, das verspricht, das zu ändern. Bislang ist aber noch nicht allzu viel passiert. Den Faktor „Gelegenheit“ kann die Stadt nun nicht einfach durch eine Imagekampagne fürs Radfahren ersetzen. Im Gegenteil. So eine Kampagne würde die Radfahrer wahrscheinlich auf die Palme bringen. Die Stadt muss liefern und Wege und Abstellanlagen bauen.

Busy Streets: Aber selbst wenn die drei Faktoren gegeben sind, bleibt es trotzdem schwierig sein Verhalten zu ändern. Man kennt das. An Neujahr fasst man gute Vorsätze und will mehr Sport treiben, verfällt aber nach kurzer Zeit in alte Muster und bleibt lieber auf dem Sofa sitzen. Wie klappt die Umsetzung im Alltag?

Dr. Sophia Becker: Gute Gelegenheiten dafür sind Lebensumbrüche – also ein Umzug, der Wechsel des Arbeitsplatzes, die Geburt von Kindern, der Eintritt in die Rente. Das sind einschneidende Situationen, in denen sich die Menschen umorientieren. Die Bereitschaft, etwas Neues auszuprobieren ist dann besonders groß.

Busy Streets: Ist das ein Selbstläufer oder muss dieser Prozess gefördert werden? Die Städte ziehen hier die Strippen. Sie können mit gezielten Angeboten Zugezogene zum Bus- und Bahnfahren motivieren – etwa über ein kostenloses ÖPNV-Ticket für Neubürger. Hamburg bietet ihnen eine Woche lang freie Fahrt durch die Stadt an, in Bonn gilt das Angebot sogar für einen Monat. Bonn macht es hier besser, denn man braucht mindestens 14 Tage um das neue Verhalten als Gewohnheit im Alltag zu verankern.

Busy Streets: Funktioniert nicht auch der gegenläufige Trend in diesen Situationen? Ich erlebe immer wieder, dass junge Familien sich spätestens zur Geburt des zweiten Kindes, ein Auto kaufen.

Dr. Sophia Becker: Das ist tatsächlich häufig der Fall. Aber auch hier können Städte gegensteuern, in dem sie den jungen Eltern zeigen, wie sie weiterhin ohne eigenen Pkw mit Säugling mobil sein können. Das geht per Car-Sharing oder per Cargobike. Wichtig ist, dass die werdenden Eltern die Angebote in ihrem direkten Umfeld kennenlernen und testen können. Die notwendigen Infos könnten den Begrüßungspaketen für Babys beiliegen, ebenso wie Gutscheine für kostenlose Lastenrad-Ausleihen oder Car-Sharing-Freifahrten.

Auf dem Porträt blickt die Forscherin lachend in die Kamera. Sie steht vor einem Gebäude, das nur unscharf zu erkennen ist. Sie  trägt ihr Haar streichholzkurz und es ist grau gefärbt. Das Gestell ihrer leicht runden Brille ist ebenfalls hellgrau.
Mit pauschalen Anreizen allein lässt sich das Verhalten der Menschen nicht ändern. Dr. Sophia Becker erforscht, was sie tatsächlich dazu bringt, das Auto gegen nachhaltige Alternativen zu tauschen.