Die unmögliche Revolution 1

Bericht aus Barcelona

von Maximilian Steinbeis
8 Minuten
Eine überklebte Werbetafel

„Ich habe ETA erlebt, ich habe Terrorismus erlebt“, sagt Carmina, eine ältere Dame mit schwarzem Pelzkragen, mit der ich morgens auf der verregneten Plaça Reial ins Gespräch komme. „Heute geht das wieder los.“ Vor zehn Jahren hat sie einen Freund beim Terroranschlag in Madrid verloren; ihr steigen die Tränen in die Augen, als sie davon erzählt. Sie wird mit Nein stimmen.

Am Kolumbusdenkmal begegne ich Marién, einer Anwältin aus Murcia, die mit drei Freunden eigens nach angereist ist für diesen Tag. „Democracia!“, schnaubt sie. Was sei denn daran demokratisch, wenn das ganze übrige Spanien überhaupt nicht gefragt werde. Die Zentralregierung hätte schon längst Artikel 155 der Verfassung aktivieren sollen, um das Referendum zu verhindern. Den Notstandsartikel, der die Suspension des katalanischen Autonomiestatuts erlaubt.

Einige Schritte weiter: Xavier, auf dem Weg zur Arbeit. „Das Referendum, das ist ein Fest“, sagt er. „Der erste Tag unseres Lebens!“ Er wird mit Ja stimmen, am Nachmittag, wenn er Feierabend hat.

Laura, eine junge Lehrerin, ist bereits auf dem Weg zum Wahllokal und nimmt mich mit. „Unsere Familien haben gegen die Franco-Diktatur gekämpft“, erzählt sie unterwegs. Das heutige Spanien sei auch nichts anderes als das. „Das gleiche Gefühl. Wie in einer Diktatur ist das wieder.“ Franco-Diktatur? Da wurden Oppositionelle gefoltert und mit der Garrote stranguliert… im Ernst jetzt? Ja, ja. Eine Diktatur. „Spanien will nicht, dass wir wählen.“

An der Grundschule am Strand in Barceloneta stehen sie bereits Schlange, hunderte Meter die Straße entlang, und drinnen im Gebäude noch einmal so viele, die Treppe hinunter, wo im Keller die Wahlurnen stehen. Draußen wachen zwei verlegen lächelnde katalanische Polizisten; niemand beachtet sie. Zwei Stunden früher war die Guardia Civil hier, die nationale Polizei. Da hat es gekracht. Die Bilder von Menschen mit blutigen Gesichtern laufen längst über die sozialen Medien und werden in der Schlange herumgereicht. Was immer die Polizei damit bezweckte, sie hat es nicht erreicht. Die Stimmung ist prächtig, die Leute lachen und schwatzen und haben es überhaupt nicht eilig, obwohl die Polizei theoretisch jeden Moment wiederkommen kann. Ab und zu ruft jemand „Votarem!“ (Wir werden wählen), den Schlachtruf der Independistas. Dann wird gejohlt und geklatscht. Und die Schlange draußen wird immer länger.

Als ich unten ankomme, hat Manuel gerade unter dem Applaus der ganzen Menge seine Stimme in die Urne geworfen. Er hält sich ein Kühlpack ans zugeschwollene Auge, auf seiner Nase klebt ein Pflaster. Er war am Morgen schon einmal hier gewesen. Er habe einer Frau aufhelfen wollen, die unter dem Ansturm der Polizei zu Boden gefallen war. Ein Polizist habe ihn daraufhin bei der Jacke gepackt und zu vier anderen gestoßen, von denen einer mit der Faust in sein Gesicht geschlagen habe.

Ich komme noch an vielen solcher Menschenschlangen vorbei an diesem Tag. Überall das gleiche Bild: Geduldig warten sie, ihre Stimme abzugeben, Junge, Alte, Studentinnen, Rentner, dicke Männer und elegante Frauen, gepflegtes und wohl erzogenes Bürgertum. Sympathische Leute. Normale Leute.

Von der Gewalt, von der in ganz Europa die Medien berichten, bekomme ich – bis auf Manuel mit seinem blauen Auge – nichts mit. Gelegentlich sieht man Anti-Riot-Polizei in den Straßen oder hört Hubschraubergeknatter in der Luft. Demonstrationen habe ich weder gesucht noch gemieden, jedenfalls keine gesehen. Nur Menschenschlangen. Dies ist keine Stadt in Aufruhr, ganz im Gegenteil. Niemand, mit dem ich rede, hat Angst. Von der Zukunft, wie das tatsächlich werden wird ohne Madrid und so ganz auf sich gestellt, davon ist kaum die Rede. Die EU-Mitgliedschaft, die rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen, das wird dann schon werden. Es sind die gut Ausgebildeten, die sich einreihen in die Schlange, die Bessergestellten, die Alteingesessenen, die sich nicht zu fürchten brauchen (glauben). Sie freuen sich. Und vor allem: sie wollen wählen.

Menschenschlange, die darauf warten in einer Schule in der Carrer de Casp in Barcelona ihre Stimme zum Referendum für die Unabhängigkeit Kataloniens abgeben zu können.
Vor dem Wahllokal in der Carrer de Casp.
Gepanzerte Polizisten warten vor ihren Einsatzwägen in einer Seitengasse der Via Laietana in Barcelona.
Einsatzbereite Polizei in einer Seitengasse der Via Laietana.