Begegnung mit dem Demogorgon

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten
Standbild aus Stranger Things, Nancy Wheeler versteckt sich vor dem Demogorgon

Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,

falls Sie Netflix schauen, sind Sie dort vielleicht auf eine sehr populäre Serie namens Stranger Things gestoßen. Dort geht es um vier dem Rollenspiel Dungeons&Dragons verfallene Jungen in einer amerikanischen Kleinstadt in den 80ern, von denen einer, Will Byers mit Namen, plötzlich in eine widerwärtige Spiegel- und Gegenwelt versetzt wird, in der alles vorhanden ist, was es in der echten Welt auch gibt, aber überzogen von schwärzlichem Spinnwebschleim und aller Menschen, allen Lichtes, aller Farben und aller Hoffnung beraubt.

Die Serie ist größtenteils ein entsetzlicher Schmarren und nicht besonders gut, aber diese Spiegel- und Gegenwelt mitsamt dem Schrecken, den ihre schiere Existenz evoziert, scheint mir eine Metapher zu sein für eine ganze Menge Phänomene unserer politischen Gegenwart. Die Realität einer heil- und sinnlosen Spottversion der Realität ist so schrecklich, weil sie beides ununterscheidbar macht: was echte und was Gegenwelt ist, was real und was Illusion, was Wachzustand und was Alptraum.

In der Tat, ist nicht die Spottversion des US-Präsidenten im Weißen Haus ebenso real wie der irrlichternde Wahnsinn, den Michael Wolff in seinem neuen Buch beschreibt? Das Versprechen der US-Verfassung und der Präsidialdemokratie, ein heroisches Staatsoberhaupt mit quasi-königlicher Macht unter Ausschluss der (in einer anderen höchst erfolgreichen US-Serie imaginierten) Möglichkeit eines verrückten Verbrechers auf dem Thron zu gewährleisten, hat schon unter Nixon und Bush junior Risse bekommen. Mit Trump, so scheint es, ist es auseinandergebrochen. Wird es aus diesem Alptraum ein Erwachen geben? Was, wenn nicht?

Dass die Institutionen des liberalen demokratischen Verfassungsstaates zu Spottversionen ihrer selbst werden, zu Konstitutionalismus-Zombies, die fressen, was sie selbst hervorgebracht hat, dieses Kennzeichen unserer Zeit lässt sich auf der ganzen Welt beobachten: in Lateinamerika, in Indien, in Polen, in Ungarn, in der Türkei und in Russland. In UK sehen die pragmatischen, vernünftigen Brit_innen ihr Land in einen Zustand trüber, schwacher Isolation hinein marschieren, eine Spottversion des Traums von stolzer Souveränität, der den Marsch erst in Gang gesetzt hatte. In Spanien finden sich die lebensfrohen, weltoffenen Katalan_innen, wie der kleine Will Byers aus Stranger Things, in einem Real-Alptraum ganz besonderer Art wieder: Sie hatten von Republik und Selbstbestimmung geträumt, von Dänemark am Mittelmeer, liberal, tüchtig, europäisch, endlich frei von den finsteren Guardia-Civil-Schnurrbärten in Madrid und ihrer klerikalfaschistischen Vergangenheit (bzw., wiederum geträumt: Gegenwart). Aufgewacht sind sie in einer unwirklich-wirklichen Spottversion davon, in einem Land, das seine Unabhängigkeit weder erklärt noch nicht erklärt, das seine sezessionistische Regierung weder bestätigt noch abgewählt hat, das von den Schnurrbärten in Madrid weder ganz frei noch ganz unterdrückt ist, dessen Anwärter auf das Präsidentenamt in Brüssel bzw. im Gefängnis sitzen.

Wirklichkeit und Spott

In Deutschland können wir uns glücklich schätzen, einstweilen nichts Schlimmerem als der Spottversion eines CSU-Landesgruppenchefs ausgesetzt zu sein, der sich eine „konservative Revolution“ herimaginiert und auf die Nachfrage, welches Regime er nach jahrzehntelanger CSU-Mitregierung im Bund denn genau gestürzt sehen will, schlechthin keine Antwort weiß. Und doch: die Imagination eines „echten Volks“ hinter dem Staatsvolk, einer „echten Demokratie“ hinter der parlamentarischen Demokratie, einer „echten öffentlichen Meinung“ hinter dem, was man in den Medien zu lesen, zu hören und zu schauen bekommt, eines „echten Rechts“ hinter dem, was die dazu bestimmten Parlamente und Gerichte dazu erklären bzw. als solches erkennen, ist längst auch in furchterregend vielen deutschen Köpfen zu Hause. Identitäre Studenten und neu-rechte Intellektuelle praktizieren ihre Spottversion links-subversiver Konsensstörung mit wachsendem Erfolg. Und wenn man dem Verfassungsschutz glaubt, dann gibt es in Deutschland nicht weniger als 15.000 Personen, die ihrerseits den realen deutschen Verfassungsstaat für eine Spottversion dessen halten, was eigentlich gilt.

Diese so genannten „Reichsbürger“ sind insofern atypisch, als sie einer sehr deutschen, weit ins Groteske überspannten Idee des Primats des Rechts über die Politik anhängen (mein Dank geht hier an Sophie und Christoph Schönberger, mit denen ich mich diese Woche sehr anregend über dieses Thema unterhalten habe). Sie argumentieren und operieren meist – wenn sie nicht gerade auf Polizisten schießen – geradezu rührend quasi-juristisch und bürokratisch; sie sind sozusagen Spottversionen des braven deutschen Legalismus, sie sind Geltungs-Extremisten.

Das sondert sie im rechten Spektrum bis zu einem gewissen Grad ab. Dort schlägt man sich zumeist entschlossen auf die Seite der Faktizität und wünscht sich die Frage nach der Legitimation der Macht ausschließlich anhand der faktischen Dicke des Knüppels in der Hand des Bewerbers zu beantworten. Im Reich der nackten Faktizität, wo sich das Leben in seinem Widerspruch gegen die schwächliche Geltungs-Geste der Vernünftler und Aufklärer ohne Erbarmen durchsetzt just because it can – das ist das Habitat, in dem sich die Rechten wohl fühlen, die Steve Bannons und Götz Kubitscheks, und von wo sie aufbrechen, um unsere wohl geordnete Welt der Verfassungsstaatlichkeit ins Alptraumhafte zu wenden.

Die Ununterscheidbarkeit zwischen echt und falsch, zwischen real und illusionär, die uns so namenlos erschreckt, die kommt ihnen gerade recht. Sie sind, anders als wir, im Widerspruch zu Hause. Sie wähnen sich – wölfisch-einsame echte Männer, die so gern wären – gewappnet, in finsterster Kälte zu überleben, zumal wenn es dort noch den einen oder anderen schwächlichen kleinen Will Byers zum Verspeisen gibt. Ob sie das wirklich wären oder nur geträumt, das sei dahingestellt. Einstweilen jedoch fühlen sie sich mit jeder real gewordenen Spottversion der Wirklichkeit wieder ein Stückchen mehr gestärkt und bestätigt.

In Stranger Things wird übrigens – Spoileralarm! – Will Byers, einstweilen unversehrt, von seinen drei tapferen Spielgefährten sowie einem mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Mädchen aus der Unterwelt gerettet. Aber, wie gesagt: Die Serie taugt nicht viel.

Erinnerung und Recht

Auf dem Verfassungsblog ist in dieser Woche ein Online-Symposium gestartet, das in Kooperation mit dem T.M.C.-Asser-Institut in Den Haag entstanden ist und sich um die Pflege des Kollektivgedächtnisses durch Recht dreht – Regulierungen also, wer woran in welcher Weise erinnern darf. ULADISLAU BELAVUSAU gibt als Organisator den Anstoß zur Debatte, ALEKSANDRA GLISZCZYŃSKA-GRABIAS und ANNA WÓJCIK zeigen die Breite dieses Phänomens, und weitere Beiträge erwarten wir von GRAZYNA BARANOWSKA, ERIC HEINZE, NIKOLAY KOPOSOV, MARIA MÄLKSÖÖ, GÁBOR HALMAI, MARINA BÁN, TOMASZ KONCEWICZ, JIRI PRIBAN und IOANNA TOURKOCHORITI.

Seit dem letzten Editorial vor Weihnachten hat sich nicht zuletzt in Polen eine Menge zugetragen: ANNA RAKOWSKA-TRELA beschreibt, wie sich die PiS-Mehrheit als nächstes Projekt das Wahlrecht vor die Flinte nimmt. DIMITRI KOCHENOV, LAURENT PECH und KIM LANE SCHEPPELE kommentieren die Entscheidung der EU-Kommission, nun doch endlich ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages gegen Polen einzuleiten, und fragen sich, warum die Kommission nur eine drohende, nicht eine ganz reale Gefahr für die Grundwerte der Union erkennen will. MACIEJ TABOROWSKI spürt auch im parallelen Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Polen vor dem EuGH wegen der aktuellen „Justizreform“ einiges an Ungereimtheiten auf. TOMASZ KONCEWICZ grübelt anhand des Schicksals der Verfassungsstaatlichkeit in Polen darüber nach, wie wenig auch die beste Verfassung ausrichten kann, wenn es nicht gelingt, sie in den Herzen der Bürger_innen zu verankern. MARCIN MATCZAK stellt die Vorgänge in Polen in einen vergleichenden Zusammenhang zu denen in anderen Regionen der Welt. Und JAKUB JARACZEWSKI berichtet von einer furcht- und respektlosen Facebook-Seite, die mit viel Sachverstand und Katzen-Memes den jungen Polinnen und Polen die verworrenen Vorgänge der aktuellen polnischen Gesetzgebung aufschließt.

In welch bedrückender Lage sich Katalonien nach der Wahl am 21. Dezember befindet, beschreibt JOSÉ LUIS MARTÍ und fordert die EU auf, sich endlich für zuständig zu erklären, in dieses Debakel einzugreifen – in Form eines weiteren Artikel-7-Verfahrens.

Die neue Regierung in Österreich hat vor Weihnachten mit der Ankündigung, deutsch- und ladinisch-sprachigen Südtiroler_innen die österreichische Staatsbürgerschaft anzutragen, für eine Menge Aufregung gesorgt. FRANCESCO PALERMO, der in Bozen über Föderalismus forscht und auf dem Ticket der Südtiroler Volkspartei die letzten Jahre im Senat in Rom saß, hält es aus einer Reihe von rechtlichen und praktischen Gründen für ziemlich unwahrscheinlich, dass daraus wirklich etwas wird.

Mazedonien verhungert seit Jahren am ausgestreckten Arm der EU und der NATO, weil Griechenland ihm das Recht auf seinen Namen streitig macht. TONI DESKOSKI und JULIJA BRSAKOSKA beschreiben die Geschichte aus mazedonischer Perspektive und fordern, den griechischen Widerstand mit Rücksicht auf die bedrohte Rückkehr zur Demokratie in Mazedonien endlich zu brechen.

In Chile kommt die von der scheidenden Präsidentin Bachelet angestoßene Verfassungsreform unter Beteiligung der Bürger_innen nach der Präsidentschaftswahl ins Stocken, wie SVENJA BONNECKE berichtet.

Der EU-Türkei-Deal zur Flüchtlingspolitik ist der Kontrolle des EuGH entzogen, da formell ein Akt der Mitgliedsstaaten, aber es ist die Frage, ob der EuGH sich das gefallen lässt, so NARIN IDRIZ.

Die Diskussion in Deutschland, Flüchtlingen den Entschluss zur Rückkehr finanziell zu erleichtern, nimmt DAVID WERDERMANN unter die verfassungsrechtliche Lupe.

Anderswo

In Norwegen kann auch ohne Einwilligung der Eltern ein Kind zur Adoption freigegeben werden, was der Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg kürzlich nicht als Verletzung der Menschenrechtskonvention werten wollte. AMY MCEWAN STRAND und MARIT SKIVENES kommentieren.

In Frankreich hat der Conseil d’État der Wiedereinführung von Grenzkontrollen den rechtlichen Segen gebeben, wie ROSELINE LETTERON berichtet.

In Spanien sieht EMMA CORVIÑO die Kontrahenden im Konflikt um Katalonien in einem Gefangenendilemma feststecken.

RUXANDRA SERBAN hat verglichen, wie in 32 parlamentarischen Demokratien das Recht des Parlaments, die Regierung zu befragen, gehandhabt wird.

ILYA SOMIN kritisiert die Ankündigung des US-Justizministers Sessions, Kiffer auch in Bundesstaaten mit Cannabis-Legalisierung strafrechtlich wieder zu verfolgen, als politisch gefährlich und rechtlich fragwürdig.

AANKHI GHOSH fordert eine Abkehr von der berühmten Basic Structures Doctrine des indischen Supreme Court, die das indische Verfassungsrecht in Teilen auch vor verfassungsändernden Mehrheiten schützt.

So viel für diese Holiday Season. Ihnen allen ein frohes neues Jahr, bleiben Sie sicher und gesund und hüten Sie sich vor dem Demogorgon!

Max Steinbeis

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