Zukunft der Erde: Wir sitzen am längsten Hebel, den Menschen je in der Hand hatten
Zwei neue Bücher zum Anthropozän erkunden unsere erdgeschichtliche Verantwortung für Klima und Natur
Unsere Zeit sucht nach einer Idee. Seit dem Ende des Kommunismus vor 30 Jahren erscheint nur der Kapitalismus als alternativlose Grundidee unseres Zusammenlebens übrig zu bleiben. Doch der Preis für den Siegestaumel und die ins Unermeßliche gewachsene Selbstgewissheit dieser Wirtschaftsdoktrin ist hoch: Die Fehlerkorrektur versagt. Zur Unfähigkeit, aus der letzten großen Finanzkrise zu lernen und einer Wiederholung vorzubeugen, kommt das noch viel größere Versagen in der Klima- und Naturkrise hinzu, das die Erde für geologische Zeiträume prägen wird.
Über Jahrzehnte hinweg hat sich der Kapitalismus sowohl in seiner westlichen wie in seiner chinesischen Ausprägung als unfähig erwiesen, diese Schicksalsfragen unseres Überlebens zu lösen. Das liegt vor allem daran, dass unser Wirtschaftssystem noch immer wie blind ist für die Erde, auf der es existiert, und für die Lebensgrundlagen, von denen es sich ernährt. In den Bilanzen tauchen Natur, Klima und Ökosysteme erst dann als Werte auf, wenn sie in Produkte verwandelt, also heillos gestört oder restlos zerstört sind.
Alternative Grundideen für unser Zusammenleben sind bisher nicht in ausreichendem Maß entstanden, von ihrer Durchsetzung ganz zu schweigen. Das Konzept der Nachhaltigkeit versucht sich an einer Zähmung der Exzesse. Echten Wandel hat es noch nicht gebracht. Und alles, was mit Post- beginnt, ob Post-Wachstum, Post-Materialismus oder Post-Moderne, hat einen entscheidenden Konstruktionsfehler: Vom „Prä“, also dem, was kommen soll, fehlt meist jede Spur.
Unser täglicher Konsum produziert Unmengen neues Material
In diese theorie- und alternativenarme Zeit stößt seit einer Weile etwas Neues, und zwar aus einer unwahrscheinlichen Richtung, der Geologie. Die Rede ist vom Anthropozän, dem sich in diesem Herbst zwei neue, lesenswerte Bücher widmen.
Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers Paul Crutzen „für das neue Erdzeitalter“ verspricht der erste der beiden Bände, herausgegeben von dem seit Jahrzehnten in Umweltpolitik und Umweltbewegung aktiven Michael Müller. Der Titel ist zwar nicht ganz korrekt, denn es geht beim Anthropozän um eine Erdepoche und nicht gleich um ein Erdzeitalter, das Anthropozoikum heißen müsste. Aber dass es in jeder Hinsicht um riesige Dimensionen geht, stimmt.
Bereits im Jahr 2000 schlug Paul Crutzen, Atmosphärenforscher und früher Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie, vor, das seit dem Ende der letzten Eiszeit währende Holozän durch etwas Neues zu ersetzen, die Erdepoche des Menschen, das Anthropozän. Klimawandel, Artenverluste, neue Chemikalien und vieles mehr, was wir Menschen erzeugen, ist Crutzen zufolge von derartig globaler und langfristiger Wucht, dass wir Menschen zum Akteur der Erdgeschichte werden. Seine Worte gelten in der Wissenschaft viel. Schließlich hat Crutzen den Nobelpreis dafür bekommen, dass er mit zwei weiteren Forschern die Gefahr des Ozonlochs rechtzeitig erkannte. Zeitweise war er einer der meistzitierten Wissenschaftler weltweit.
Der Band mit dem schlichten Titel „das anthropozän“ besticht, bevor der dokumentarische Teil beginnt, durch kluge einführende Texte, die schnell klarmachen, wie sehr die These einer Erdepoche des Menschen jeden betrifft: Unser tagtäglicher Konsum produziert erst die Millionen und Milliarden Tonnen Beton, Erze, Kohlendioxid und Plastik, die zusammen eine neuartige geologische Realität schaffen, messbar an Rückständen, Klimaänderungen und veränderter Evolution noch in ferner Zukunft. Denn wenn Menschheitsgeschichte plötzlich zur Erdgeschichte wird, ist die Verantwortung der heute Lebenden gigantisch. Was wir heute tun, hat im Fall der Klimakrise direkte Wirkungen für Zehntausende Jahre, im Fall des Artensterbens für Millionen Jahre.
In der Deutung dieser epochalen Ereignisse sieht Müller Paul Crutzen in der Nachfolge von Alexander von Humboldt, dem es darum ging, „in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen.“ Während Humboldt hauptsächlich natürliche Prozesse erforschte, leiste Crutzens Anthropozän-Idee dies für die vom Menschen überformte Welt. Der neue Betrachtungshorizont, schreibt Müller, „muss von den industriellen Eingriffen in das Erdsystem ausgehen, ihre längerfristigen Wirkungen verstehen und die Grenzen der Belastbarkeit unseres Planeten beachten.“
Wann wird aus Wissenschaft praktische Politik?
Das bedeutet, dass das Anthropozän die Grundlage einer wahren Welt-Wirtschaft zu liefern verspricht, also eines so ökonomischen wie ökologischen Denkrahmens, der statt im luftleeren Raum kapitalistischer Dogmatik in der Empirie von Klimaphysik, Geologie und Biologie verwurzelt ist. Müller umschreibt Crutzens Botschaft so: „Es muss dringend zu einer sozial-ökologischen Transformation kommen, die auf Dauer die planetarischen Grenzen einhält und die Tragfähigkeit der Erde für das menschliche Leben bewahrt.“
Auch andere Essays, die der verdienstvollen Sammlung von Schlüsseltexten aus Crutzens Wirken vorangestellt sind, bieten Nachdenkenswertes. So beschreibt etwa der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer das Anthropozän als Antwort auf die Krise von Demokratie und internationaler Kooperation. Denn das neue Konzept lasse die Erde als „gemeinsames Haus“ erscheinen, für das alle Bewohner auch gemeinsam verantwortlich sind. Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt beschreibt die Anthropozän-Idee wegen ihres naturwissenschaftlich-empirischen und eben nicht primär religiösen, philosophischen oder rein ökonomischen Ursprungs als „normative Wende“.
Unter den wissenschaftlichen Schriften Crutzens, die der Band meist erstmals in deutscher Übersetzung versammelt, ragt neben einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gaia-Hypothese jene hervor, in der er die „Geologie der Menschheit“ beschwört: Fast zwanzig Jahre vor dem Entstehen von „Scientists for Future“ schreibt Crutzen darin Ingenieuren und Wissenschaftlern die Aufgabe zu, „der Gesellschaft den Weg in Richtung eines ökologisch nachhaltigen Managements des Planeten“ zu weisen. Wissenschaftliche Erkenntnis, postulierte der Nobelpreisträger, muss sich in praktische Politik verwandeln.
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