Gegen die Egomanie: Eine Freiheit, die auch die Zukunft meint

Wofür wird nicht alles das hohe Wort der „Freiheit“ strapaziert: Rasen auf der Autobahn, unbekümmertes Schnitzelessen, trotz Klima- und Naturkrise einfach so weiterleben. Doch das läuft der tieferen Bedeutung von Freiheit zuwider. Ein Essay über Vulgärliberalismus und die Alternativen dazu

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Symbolfoto SUV: Ein SUV steht auf der Straße in einer Wüste.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 29. April 2021 in einem weitreichenden Urteil festgestellt, dass die Klimakrise die Freiheit der jungen Generation gefährdet und der Staat deshalb dazu verpflichtet ist, sie innerhalb seiner Möglichkeiten mit klar definierten Schritten abzuwenden. Freiheit wurde bisher oft gegen den Klimaschutz ins Feld geführt – für freie Fahrt auf Autobahnen und unlimitierten Konsum. Das Bundesverfassungsgericht definiert Freiheit nun ganz anders. Aber auch auf anderen Gebieten wird Freiheit rein egoistisch benutzt. Die Initiative „Floskelwolke“ hat den Begriff „Freiheit“ deshalb zur Floskel des Jahres 2022 gewählt. Der Freiheitsbegriff werde „entwürdigt von Egoman*innen, die rücksichtslos demokratische Gesellschaftsstrukturen unterwandern“.

Was hinter einem tieferen Verständnis von Freiheit steckt, das die Zukunft mit einschließt, beleuchtet dieser Essay, der auf dem Buch „Menschenzeit“ beruht.

Am Ursprung der Moderne lebte ein deutsch-französischer Gelehrter, der den Aufstieg des Menschen zur Kraft, die die Erde verändert, kommen sah. Er hat für die Herrschaft des Menschen über das Klima und die Artenvielfalt gedanklich vorgebaut und er hätte jenen einiges zu sagen, die heute schrill „Freiheit!“ rufen, wenn ihre Gewohnheiten infrage gestellt werden, übergroße Autos zu fahren, Flugreisen als Selbstverständlichkeit zu sehen oder weiter ohne Rücksicht auf Verluste zu konsumieren.

Dieser Mann war kein Religionsgründer, der autoritär Regeln aufstellte. Kein Anführer nordamerikanischer Ureinwohner, der gegen die Geldsucht des weißen Mannes wetterte, nur um dann von Esoterikern vereinnahmt zu werden. Kein Asket, der den Alltag der Menschen gar nicht verstehen konnte.

Der Mann, von dem hier die Rede sein soll, wurde am 8. Dezember 1723 mit dem Namen Paul Thiry in Edesheim bei Landau in der Pfalz als Sohn eines Winzers geboren. Ein reicher Onkel, der sein intellektuelles Talent erkannt hatte, machte ihn zum „Baron d’Holbach“. Als solcher starb er am 21. Januar 1789 in Paris – also kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, die er so sehr herbeigesehnt hatte.

In die angespannte Welt des vorrevolutionären Frankreich hinein schrieb Holbach eine Schrift, die uns Heutigen sehr viel mitteilen und uns helfen kann, das Anthropozän zu meistern. Sie heißt wie das Buch, das Carl von Linné 1735 veröffentlicht hat, um die Vielfalt der Tiere und Pflanzen zu ordnen: „System der Natur“. Doch was Holbach 1770 veröffentlichte – anonym, aus Furcht vor Verfolgung und Bestrafung durch die Kirche – war kein Naturatlas.

Holbach gehörte zum Kreis der Enzyklopädisten um den Pariser Verleger André-François Le Breton, die das Weltwissen versammeln und damit ein Fundament für Aufklärung und Fortschritt schaffen wollten. Doch sein „System der Natur“ ging über eine Enzyklopädie weit hinaus. Aus heutiger Sicht betrachtet, hat dieser Mann eine Anleitung für das Zusammenleben im Anthropozän geschaffen, in dem wir Menschen lernen müssen, symbiotische Lebensweisen einzuüben – mit den Mitmenschen und mit der Natur.

Ein Fanal, Freiheit als Rücksicht zu begreifen

Das „System der Natur“ ist der Versuch eines viel größeren Systems: einer ethischen Ordnung, die nicht vom Himmel herab gilt, sondern aus dem Menschen heraus kommt. Holbachs Mehrwert liegt darin, den Anti-Machiavelli, die Kunst des guten Herrschens zu formulieren. Er schreibt:

„Die Rechte des Menschen über seine Mitgeschöpfe können sich nur auf die Glückseligkeit gründen, die er ihnen gewährt. Auf jede andere Weise würde die Macht, die er über sie ausübt, Gewalttätigkeit, Usurpation und offenbare Tyrannei sein. Denn jede rechtmäßige Oberherrschaft kann sich nur auf die Aussicht gründen, andere glücklich zu machen.“

Und wie definiert er Glückseligkeit? Diese, schreibt Holbach, könne für den Menschen grundsätzlich nur aus der „Zusammenstimmung seiner Begierden mit seinen Umständen“ entstehen. Also, um es zeitgemäß auszudrücken, daraus, seine Bedürfnisse auf die Möglichkeiten des Planeten Erde auszurichten.

Das „System der Natur“ ist weit mehr als ein Rat an die französische Aristokratie. Holbach geht fest davon aus, dass die Aufklärung ein Erfolg sein und ganze Länder in ihren Bann ziehen wird. Er hat zu Diderots „Encyclopédie“ 414 Beiträge, vor allem über Naturwissenschaft und Bergbau, beigesteuert. Er erkannte die stromartige Kraft von Wissenschaft und Technik, mit der die ganze Gattung Mensch zum milliardenfachen König der Welt wird. Daher richtete er an jeden aufgeklärten Menschen der Zukunft eine Erwartung.

Dem „rechtschaffenen und aufgeklärtesten Manne“ könne man allen Reichtum dieser Welt zu Füßen legen, schreibt er.

„Er wird dadurch nicht in Verlegenheit gesetzt. Seine große und edle Seele wird sich nur aufgefordert fühlen, den Kreis ihrer Wohltaten zu erweitern…Er wird in seinen Vergnügungen mäßig sein, um dieselben besser genießen zu können; weil er weiß, dass das Geld keineswegs eine Seele wiederherstellen kann, die durch übermäßigen Genuss erschlafft, Organe, die durch Übermaß geschwächt, und einen Körper, der in Zukunft unfähig geworden ist, sich ohne eine Menge Versagungen zu erhalten; weil er weiß, dass der Missbrauch des Genusses das Vergnügen in seiner Quelle erstickt und alle Schätze der Welt dem Menschen keine neuen Sinne erkaufen können.“

Schon zu Holbachs Zeiten war das ein flammender Appell. Heute ist es ein Fanal, aufgestellt als Warnfeuer an der Stelle, wo die drei großen Ströme der Agrarrevolution, der Wissenschaftsrevolution und der Gleichheitsrevolution zum Anthropozän zusammenfließen.

Ein Kreuzfahrtschiff fährt auf dem Meer.
Kreuzfahrtreisen gehören zu den umweltschädlichsten Urlaubsformen – und dennoch boomen sie. Wo liegt die Freiheit, im Reisen selbst oder in der Rücksicht auf die Rechte anderer?

In einem kleinen Teil der Erde liegen alle Verbrauchswerte, ob für Energie oder Agrarfläche, um Faktoren über dem Verbrauch anderer Erdregionen: Der zur globalen, westlich orientierten Mittel- und Oberschicht verwandelte Adel prasst, das Landvolk hungert. Wenn aber viele Milliarden Menschen in Asien, Afrika und Südamerika so leben wollen wie die eine Milliarde Amerikaner und Europäer, wo liegt dann das Maß? Wo liegen die Grenzen, sollen wir die Erde nicht von einem Schutthaufen herab regieren? Es bedeutet auf jeden Fall, dass jeder Mensch ein gleiches Recht auch auf die Ressourcen dieser Erde hat.

Mentale Konstruktionen, um Verschwendung zu rechtfertigen

Es wird heute gefährlich und folgenreich, im gemeinsamen Lebensraum Erde so viel zu beanspruchen, dass andere einen Schaden davontragen. Das ist der Ausgangspunkt für eine neue Gleichheitsformel. Weil aber die Unterschiede im materiellen Verbrauch weltweit noch so groß sind, gibt es eine globale vorrevolutionäre Stimmung. Sie kann sich auf verschiedenste Weise entladen: als Ressourcenkrieg oder als Effizienzrevolution, als Weltwirtschaftsimplosion oder als Kreativitätsexplosion.

Noch ist der Ausgang offen.

Die billige Energie von massenweise Öl, Kohle und Gas hat über die Jahrzehnte wie eine Überdosis Treibmittel gewirkt: Statt perfekter Systeme öffentlicher Mobilität sind ganze Flotten von Individualpanzern entstanden und haben die Städte verformt. Statt eines weltweiten Kraftwerksparks erneuerbarer Energien, den es schon seit Jahrzehnten geben könnte, schießen immer noch Kraftwerke aus dem Boden, die mehr als sechzig Prozent der Energie als Abwärme in den Himmel schicken. Und statt aus Häusern, die Energie erzeugen, bestehen die Städte aus Häusern, die ihre kostbare Wärme ins Freie entlassen.

Immer größere Tiefkühltruhen in den Kellern der Nachkriegsgeneration verwandelten sich in die ständig rollenden Tiefkühltruhen der Just-in-time-Logistik. Kreuzfahrten, die ganze Wirtschaftswunderjahrgänge in sich aufnehmen und Fressorgien wie Armenbesichtigung im Preis einschließen, sind zum Massenphänomen geworden. Auf die Nachkriegsgenerationen wirkte der erste Ölschock nur kurz.

Freiheit braucht heute einen Zeitbezug: Die „freie“ Marktwirtschaft ist nur so frei, wie sie auch den Menschen des Jahres 2030, 2050 oder 2150 die Freiheit lässt, nicht Sklaven einer verarmten, vergifteten und klimatisch gestörten Umwelt zu sein.

Abenteuerliche mentale Konstruktionen sind entstanden, um Verschwendung zu rechtfertigen. Der eigene Wohlstand gilt als überlegen und gottgegeben. Die Wohlstandssehnsucht anderer Menschen gilt als minderwertig und illegitim. Logbuchaufzeichnungen der Frontex-Beamten und Grenzwächter gen Mexiko sprechen davon Bände.

Die westliche Welt ist trotz vierzig Jahren Umweltdebatte, trotz Blauen Engels und Biomärkten ein Gegenuniversum zur „aufgeklärtesten“ Welt geblieben, die Holbach vor sich sah. Weil „der Missbrauch des Genusses das Vergnügen in seiner Quelle erstickt“, wird an der Quelle immer tiefer gegraben, mit realen Baggern und mit den Grabwerkzeugen der Illusionsindustrie.

Mäßigung im Sinne Holbachs ist in unserer Kultur zum Synonym für Langeweile, Naivität und Mittelmaß geworden. Ökonomisch gewendet steht sie für „Kaufzurückhaltung“ und hat so ein beinahe staatsfeindliches Potenzial. Der blinde Wachstumsglaube besteht fort, doch nicht nur Krebszellen wachsen ihren Organismus zu Tode, nicht nur Ferienorte ersticken am Zuviel.

Der Holbach-Code dagegen beschreibt Mäßigung sowohl als Mittel wie als Ziel der Aufklärung.

Das hätte Greenpeace auffallen können: Die Einsicht, dass man Geld nicht essen kann und Bedürfnisse nicht einfach nur wachsen dürfen, entstammt nicht den Indianertipis der amerikanischen Prärie, sondern dem Geburtsort und der Geburtsstunde der europäischen Aufklärung, dem Fortschrittsglauben selbst.

Es geht dabei also nicht um eine Sehnsucht nach einer primitiveren Vergangenheit, sondern um die Sehnsucht nach einer aufgeklärteren Zukunft.

Ein Flugzeug im Start Richtung Sonnenuntergang.
Der Inbegriff modernen Wohlstands – billige Flugreisen an jeden Ort der Welt. Doch was, wenn das die Freiheit anderer einschränkt?
Ein medium gebratenes Steak.
Was, wenn ein Steak die Freiheit jener Menschen beeinträchtigt, die dort gelebt haben, wo der Regenwald stand, aus dem Weidefläche für Rinder oder ein Sojaacker für Tierfutter gemacht wurde?