Wenn die Klimakrise zuschlägt, verschanzen sich die Superreichen in „Powerdomes“

In diesem Zukunftsszenario geht es um eine Welt, in der die meisten Länder im Chaos versunken sind. Doch die Superreichen haben vorgesorgt. Sie leben in abgeschirmten Luxusanlagen. Ein Vertreter des Internationalen Gerichtshofs lässt aber nicht locker und will Gerechtigkeit

27 Minuten
Symbolbild eines Taifuns in Südostasien. Ein Taifun von oben.

Extreme Brände, schmelzendes Eis, ausbleichende Korallenriffe: Rund um den Globus häufen sich die Anzeichen eines tiefgreifenden Klimawandels. Wissenschaftler sagen: Wenn wir unseren Ausstoß an Kohlendioxid und Methan nicht drastisch senken, ist das alles erst ein Vorgeschmack.

Taifun Thomas Tyrell

»Wie ist dir deine letzte Stammzellinfusion bekommen?«

Die sanfte Stimme von Julia, seiner weißrussischen Assistentin, dieses Engels mit goldenen Locken, riss Thomas Tyrell aus dem Mittagsschlaf.

Das war ihr Ritual. Jeden Tag um drei Uhr nachmittags weckte sie ihn auf, streichelte zuerst seine Stirn, dann massierte sie ihn.

Heute war Tyrell aber nicht nach einer Massage. Ihn hatte ein Albtraum geplagt, wie so oft: Er saß in den weißen Ledersesseln seines Dienstjets, flog hoch über den Wolken zu einem G20-Gipfel. Es sollte gleich Essen geben. Doch als sich die Tür öffnete, aus der sonst seine Stewardessen kamen, fegte ein eiskalter Wind durch das Flugzeug, der ihn von seinem Sessel riss, hinaus ins Freie. Aus dem Lautsprecher erklang die Stimme von Julia: »Gute Reise, Liebling.«

Er wollte seiner Dienerin davon nicht erzählen. Tyrell schob die Seidenbettdecke beiseite, setzte sich senkrecht auf, betrachtete sein glattes, geschmeidiges Gesicht im Spiegel an der Wand und nahm einen Schluck von dem Ingwertee, den Julia ihm zubereitet hatte. Er stand auf und zog die schweren Brokatvorhänge auf, die seine Freundin Tina aus Versailles für ihn abgezweigt hatte, eine grün schimmernde Landschaft kam zum Vorschein, in der Pferde grasten und reinweiße Wolkenhaufen über den Himmel zogen. »Du mit deinen Pferden«, sagte Tyrell zu Julia, »können wir nicht etwas anderes sehen, die alte Wall Street oder so etwas?«

Julia gehorchte und wechselte das Programm. Es ging ihm gut, dachte Tyrell, er konnte zusammen mit seinen Freunden das Leben genießen, ihr Weinkeller war noch nicht einmal zu einem Viertel aufgebraucht, und es war ihm gelungen, diese grausame, hässliche Welt jenseits von Flinders Island zu vergessen. Das milde Klima im Powerdome, Julias liebevolle Pflege und vor allem dieses wunderbare Fluid, das Dr. Matipoliv aus ihren weißrussischen Eizellen gewann, ließen ihn das Leben auch mit 107 Jahren noch genießen. Vergangene Woche hatte der Arzt ihm seine vierteljährliche Dosis verabreicht, ein Pieksen, und er fühlte sich wieder etwas jünger. Er liebte den Gedanken, dass Julias unbändige Energie im Inneren seines Körpers wirkte. Wenn nicht dieser Albtraum wäre.

Tyrell ließ Michael Rogers holen, den Sicherheitschef von Flinders Island. Der hatte ihm am Vorabend von merkwürdigen Truppenbewegungen östlich der Insel erzählt, von seinem Verdacht, es könnte Pläne für eine Invasion geben. »Sie haben mir einen veritablen Albtraum beschert, Rogers, und ich sage es Ihnen zum letzten Mal, dass Sie mich mit solchen Spinnereien in Ruhe lassen sollen, zumindest so lange Sie mir garantieren können, dass unser Schild funktioniert.«

»Ja, Sir«, sagte Rogers in der merkwürdig hohen Tonlage, derentwegen er von seinen Jahrgangskameraden bei der NSA immer gehänselt worden war. Die Kameraden von einst, die sich über ihn lustig gemacht hatten, waren jetzt alle tot, gestorben im Chimerikanischen Krieg oder in der großen Dürre. Er aber hatte sich nicht nur von einem einfachen Drohnenflieger an die Spitze der NSA vorgearbeitet, er hatte auch die großen Angriffe auf die Datenzentren in Utah überlebt. Er lebte, die anderen waren tot, das zählte.

Jetzt war es seine Aufgabe, die 85 reichsten Menschen der Welt und ihren langjährigen Beschützer Thomas Tyrell vor dem Chaos zu bewahren, das in der Welt um sie herum tobte, keine schlechte Aufgabe im Pensionsalter. Ein riesiges Gebiet stand unter seinem Kommando. Zu Flinders Island, wo die 86 mit ihrem Personal im Powerdome lebten, gehörte als abhängige Kolonie Tasmanien, wo eine kleine Crew von Servicearbeitern die automatisierten Gewächshäuser und Tierfabriken am Laufen hielten und über ein ausgeklügeltes System von Förderbändern und Schleusen dafür sorgte, dass im Powerdome kein Wunsch unerfüllt blieb.

Das Dach eines Gewächshauses von unten.
Werden die Reichen und Mächtigen vor der Klimakrise in abgeschirmte Siedlungen fliehen?

Was sonst im Inneren der Inseln vor sich ging, beschäftigte Rogers nur selten

Sein Aktionsfeld waren die Küstenlinien, die es gegen Eindringlinge zu schützen galt, die 40 Meilen Meeresgebiet in alle Richtungen, in denen er seine Waffensysteme stationiert hatte – und der Rest der ins Chaos abgerutschten Welt, den er mit seinen Leuten im Blick behalten musste.

An den Küsten patrouillierten robotische Kaninchen, Hunde, Tiger und Stiere, Wesen aus elastischen Materialien, die ihren natürlichen Vorbildern täuschend ähnlich sahen und in ihrem Inneren das Neueste vereinten, was Genforscher, Materialingenieure, Neurobiologen und Waffentechniker vor Beginn des Chimerikanischen Kriegs aufzubieten hatten. Mit ihren alles durchdringenden Sinnen hatten sie schon Tausende bei dem Versuch aufgespürt, an Land zu gehen und in den Powerdome zu gelangen. Diese Roboter konnten ihre Farbe der Umgebung anpassen und sich selbstständig ernähren, von Pflanzen, fossilen Treibstoffen und auch von Tieren. Sie konnten sich selbst heilen, wenn sie beschädigt worden waren, sie konnten sich sogar fortpflanzen.

Einen kleinen Vorteil hatten die Versuche von Klimaflüchtlingen, auf Flinders Island zu gelangen: Sie lieferten Biotreibstoffe für das Abwehrsystem. Schließlich war in einer Welt knapper Ressourcen jedes Gramm Fett und Eiweiß wertvoll. Im Meer hatte Rogers alles verbaut, was er während des Chimerikanischen Kriegs auf Geheiß von Tyrell aus den Waffenbeständen der atlantischen Armeen abzweigen konnte. Sie waren nun allzeit verteidigungsbereit. Jeder Versuch, sie vom australischen Festland her unter Beschuss zu nehmen, war zum Scheitern verurteilt. Zumal es dort kaum noch Menschen gab, die überhaupt noch ein Gewehr hätten halten können.

Dreißig Jahre Dürre und Hitzestürme, dreißig Jahre Kampf um die tägliche Ration Brot und Wasser, das war auch für die Härtesten und Zähsten zu viel. Die australische Armee hatte sich längst aufgelöst, die einzige Überlebenschance für seine früheren Kameraden hatte darin bestanden, sich einer der Milizen anzuschließen, die regionale Bergbauoligarchen zu ihrem Schutz aufbauten. Er hatte zweifelsohne den Topjob gelandet.

Unter den fünfzig Powerdomes, die weltweit durch die Reste des früheren Internets verbunden waren, war seiner, soweit er das einschätzen konnte, mit Abstand am luxuriösesten ausgestattet und am besten bewaffnet. Viele der anderen Hightech-Bunker, in die sich die Reichen und Mächtigen von früher zurückgezogen hatten, waren bereits erobert worden, erst letzte Woche war einer in den Rocky Mountains gefallen. Auf Flinders Island hatte sich Rogers bisher rundum sicher gefühlt. Bis gestern hatte ihn nur der Verfolgungswahn seines Chefs belastet.

»Die 86 erwarten von Ihnen, dass Sie lautlos für die Sicherheit dieser Insel sorgen«, herrschte Tyrell ihn an. »Wir haben alle in unserer aktiven Zeit fürwahr genug Ärger gehabt, genug beschissene Nachrichten gehört und genug Angst davor durchlitten, wegen unserer Intelligenz, unserer Verdienste und unseres Reichtums entführt oder von Terroristen aufgeschlitzt zu werden.«

Rogers hatte seinem Chef am Vorabend von den merkwürdigen Mustern erzählt, die seine Rechner seit einigen Tagen in den elektronischen Überwachungssystemen registrierten. Über mögliche Ursachen hatte er nichts gesagt, er hatte keinen Schimmer. Es konnten atmosphärische Störungen sein, wie sie öfter auftauchten, seit es auf der Erde kein ruhiges Wetter, keinen Lauf der Jahreszeiten und kein gemäßigtes Klima mehr gab, nur noch superheiß oder superkalt, supernass oder supertrocken.

Ausgetrockneter Boden mit Rissen.
Wissenschaftler warnen vor massiven Dürren im Fall eines ungebremsten Klimawandels.

Wenn da ein Thema war, auf das er seinen Chef nicht ansprechen durfte, dann war es alles, was mit Wetter und Klima zu tun hatte

Als er noch Premierminister von Australien war, hatte Tyrell Mitarbeiter, die das Wort »Klimawandel« in den Mund nahmen, fristlos gefeuert. Als sich die Lage wendete und er Vorsorge für sich und seine Freunde treffen musste, hatte er den Powerdome mit einer geschlossenen Klimaanlage ausstatten und gegen Licht von außen abschirmen lassen. An den Fenstern und Decken liefen Simulationen von Wolken und blauem Himmel und Dr. Matipoliv sorgte mit künstlichen Lichtquellen, Vitaminen und Hormonen dafür, dass niemand vom Sonnenmangel krank wurde. Sein Chef hasste Wetter – und Rogers hasste es, von seinem Chef angebrüllt zu werden. Das war unter der Würde eines früheren Direktors des mächtigsten Geheimdienstes der Welt.

Außerdem wollte Rogers bestimmt nicht wegen eines falschen Wortes gefeuert werden, er wollte jedes Risiko vermeiden, die Insel je wieder verlassen zu müssen. Der Internetanschluss auf Flinders Island befand sich in seinem Büro, und er wusste, dass er lieber für immer hier war, als auch nur einen Schritt in diese schreckliche Welt zu tun, die sich auf dem australischen Festland und rund um den Globus erstreckte. Zu seinem Job gehörte es, die Serie von Katastrophen zu verfolgen, von denen die Menschheit seit dreißig Jahren geplagt wurde – für den Fall, dass etwas passierte, was die Insel betraf. Nur in einer lebensgefährlichen Lage, lautete seine Mission, sollte er die Bewohner mit Informationen behelligen.

Während die 86 in ihrem Luxus schwelgten, fein dinierten, ihre Körper verjüngen ließen, sich mit ihren wollüstigen Assistentinnen und Assistenten vergnügten und den Weinkeller leerten, in dem es nur feine Tropfen gab, keine einzige Flasche Fusel aus dem 3D-Drucker, musste er sich jeden Tag für ein paar Stunden abgemagerte Menschen anschauen, die um eine Handvoll Reis oder Weizen kämpften, überschwemmte Städte, in deren Ruinen Anarchie herrschte, und Lynchmobs, die nach Schuldigen an ihrer Misere suchten.

Es gab da draußen neue Wilde, deren Schamanen Regentänze aufführten und Menschenopfer erbringen ließen. Es gab Technobanden, die mit zusammengeklauten Waffen Raubzüge veranstalteten. Es gab Biohacker, die Landstriche mit ethnischen Genwaffen entvölkerten, um an Agrarflächen zu kommen.

Erst gestern hatte es wieder einen der letzten Wetteransager erwischt. Das Wetter zu präsentieren war ein wirklich gefährlicher Beruf geworden. Eine Bande vermummter Verrückter, die sich die »Rächer von der Wall Street« nannten, war in das Studio eingedrungen, hatte dem Ansager vor laufender Kamera eine Pistole an den Kopf gehalten und gleiche Lebensmittellieferungen für alle Stadtteile New Yorks gefordert, auch für den früheren Finanzdistrikt. Es gab wegen solcher Übergriffe kaum noch Menschen vor der Kamera. Die Nachrichten bestanden hauptsächlich aus Wetterberichten mit Computerstimmen.

Was in der Sendung geschah, hatte Rogers seit gestern zu verdrängen versucht, er hatte sich nachts immer wieder mit seinem Waffenarsenal getröstet, er hatte sich wieder und wieder vorgesagt, dass sein Chef ihm befohlen hatte, in seiner Gegenwart Wetter und Klima nicht einmal auszusprechen. Kurz bevor der Mob in das Studio gestürmt war, hatte der Ansager vor einem neuen Taifun gewarnt, der mit 300 Stundenkilometern auf Südostasien zuraste. Das 400 Kilometer breite Monstrum war nach seinem Chef benannt – »Taifun Thomas Tyrell«.

Eine Kohlegrube in Südaustralien.
Australien trägt als einer der wichtigsten Kohleproduzenten und -exporteure massiv zum Anstieg der CO2-Emissionen bei. Im Bild: Eine Kohlegrube in Südaustralien.

Es war die Zeit, in der Wetter, wie es früher war, aufgehört hat zu existieren

Es war nicht mehr eine natürliche Kraft, die über die Menschen kam, sich in Form von Jahreszeiten zeigte und gelegentlich in Unwettern oder Trockenzeiten austobte.

Wetter war zu einem sozialen Phänomen geworden, in dem Menschen mit den Handlungen anderer Menschen konfrontiert sind, zu einer Art bösartigem sozialem Netzwerk, das nicht auf digitalen Bildschirmen existierte, sondern in der analogen Welt.

In den ausgetrockneten Landstrichen, den versinkenden Küstenstädten und den überschwemmten Flusstälern lebten Milliarden Menschen in Armut, weil ihnen extremes Wetter alles genommen hatte. Vier Billionen Tonnen zusätzlicher Kohlenstoff, die seit dem Beginn der Industrialisierung in der Atmosphäre gelandet waren, fingen unerbittlich zusätzliche Sonnenwärme ein und bildeten im Meer die ätzende Kohlensäure. Die Folgen waren weitaus schlimmer als Klimaforscher erwartet hatten.

Das Abschmelzen der Arktis führte dazu, dass natürliche Reflektoren für das Sonnenlicht entfielen und es noch heißer wurde; auf dem Meeresboden tauten riesige Mengen gefrorenen Methangases auf; und die zunehmende Hitze führte dazu, dass weltweit riesige Moor- und Waldflächen abbrannten und zusätzlichen Kohlenstoff freisetzten.

Seit dreißig Jahren waren weltweit die Jahreszeiten durcheinander geraten. Zwischen Hitzewellen entluden sich sporadisch Schneestürme und Kälteeinbrüche, weil das Klimasystem viel schlechter als früher Unterschiede über längere Zeiträume auszugleichen vermochte. Binnen weniger Jahre kollabierten die Ernten von Weizen, Reis, Mais und anderen Grundnahrungsmitteln. Flüsse trockneten aus. Und nachdem an eine Tierhaltung an Land kaum noch zu denken war, weil die Menschen das Getreide selbst essen wollten, kollabierten auch die Fischbestände: Die Kohlensäure hatte die Organismen angegriffen, von denen Fische sich ernährten. Die Nahrungskette im Meer war abgerissen.

Wetter war zu Extremwetter geworden, und das stürzte viele Erdregionen ins Chaos. Zuerst hatte es Australien und Afrika getroffen, dann Asien und Nordamerika, zuletzt Europa und Südamerika. In vielen Ländern gab es Notstandsregierungen, die sich darum mühten, Aufstände niederzuschlagen und das wenige Essen zu verteilen.

Der Wohlstand früherer Jahrzehnte erschien wie ein fernes, für immer verlorenes Paradies

Wenn eine neue Dürre oder ein neuer Sturm kam, sahen Menschen darin nun den Überfluss, die verschwendete Energie, die Orgien an Fleisch, Metall und Plastik, die Leuchtreklamen, die unnötigen Produkte, die überflüssigen Autofahrten ihrer Vorfahren und der noch lebenden Alten. Als wären sie die animistischen Geister, die in den Wolken, Wassermassen oder Hitzestrahlen weiterlebten.

Das fachte eine weltweite Suche nach Schuldigen an, und bei den Menschenopfern erwischte es hauptsächlich Ältere, denen die Jungen vorwarfen, zu wenig gegen den Klimawandel getan zu haben. Mit jedem Monstersturm und jeder Nachricht über eine neue Todeszone im Meer stieg der Hass auf jene, die in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts effektive globale Maßnahmen gegen den Ausstoß der Treibhausgase Kohlendioxid und Methan verzögert oder verhindert hatten – vor allem auf Menschen wie Thomas Tyrell.

Er war in einem entscheidenden Moment Premierminister von Australien geworden. Eine Mitte-links-Regierung hatte den Kontinent auf drastische Kürzungen der CO2-Emissionen eingeschworen und darauf, den Abbau von Kohle und anderen Ressourcen durch neue Umweltabgaben zu erschweren. Tyrells Vorgänger waren bei den internationalen Klimaschutzkonferenzen der Vereinten Nationen mit dem Versprechen aufgetreten, Australien würde zum Vorreiter bei erneuerbaren Energien und beim Klimaschutz.

Dieser Kurs gefährdete die Interessen der mächtigen Bergbauindustrie des zweitgrößten Kohleexporteurs der Welt, vor allem eines kleinen Kreises von Multimilliardären, die ihren Reichtum mit Kohle, Erzen und einer Vielzahl von staatlichen Zuwendungen erwirtschaftet hatten.

Die Milliardäre verbündeten sich gegen die Regierung und holten zum Doppelschlag aus: Sie fütterten das größte australische Medienimperium mit so viel Geld, dass dessen Eigentümer einen aggressiven Kurs gegen jede Art von Umweltpolitik einschlugen. Sie ließen die Erkenntnisse von Klimaforschern lächerlich machen und die Regierung bei jeder Gelegenheit wegen der geplanten CO2– und Bergbausteuern attackieren. Und sie kauften sich Tyrell, einen schneidig auftretenden Rechtsanwalt, der sich seit einer Weile an die Bergbau-Oligarchen herangeschmissen hatte, um in der liberal-konservativen Partei Karriere zu machen und seinen Wahlkampf bezahlen zu können.

Die Investitionen erwiesen sich als goldrichtig. Die Stimmung in der Bevölkerung wendete sich bald gegen die Klimaschutzpolitik der Regierung, und Tyrell gewann die Wahl. Als Premierminister hielt er sich an die Absprachen: Er leugnete den Klimawandel nicht vollständig, um mehrheitsfähig zu bleiben, stoppte aber alle Projekte, die eine Gefahr für Bergbauinteressen dargestellt hätten. Einen Beirat von Wissenschaftlern, die für seine Vorgänger Analysen des wissenschaftlichen Wissensstandes verfasst hatten, löste er auf.

Den Ausbau eines Kohlehafens, der Teile des Great Barrier Reefs gefährdete, machte er zu seinem Lieblingsprojekt. Während er in der Öffentlichkeit Verständnis für die Anliegen von Umweltschützern äußerte, klang es bei den regelmäßigen Abendessen mit seinen Geldgebern, für die Rindfleisch und Fische aus Japan sowie Muscheln und Champagner aus Frankreich eingeflogen wurden, anders: »Wir bauen das beschissene Great Barrier Reef zu einer unterseeischen Shopping Mall um, wenn es unserem Bruttosozialprodukt dient.«

Den Weltklimakonferenzen der Vereinten Nationen blieb Tyrell fern, er schickte, als Zeichen seiner Verachtung, einen Referatsleiter aus der Wetterbehörde. Nur einmal ließ er sich hinreißen, für einen Nachmittag teilzunehmen; er war gerade ohnehin in der Konferenzstadt gewesen. Die Stimmung im Saal war vor Tyrells Rede traurig gewesen. Anschließend war sie depressiv.

Aufnahme von Wolkenbergen.
Wenn die Klimakrise zuschlägt, werden sich die verschwenderischen Handlungen der Vergangenheit im Wetter niederschlagen.

Neun Jahre blieb Tyrell an der Macht

In dieser Zeit schaffte er es, im Bündnis mit den Staats- und Regierungschefs der USA, Chinas, Indonesiens und Russlands und den CEOs der größten Bergbau- und Energiekonzerne der Welt, den Klimawandel von der internationalen politischen Agenda zu drücken. Die Anzeichen mehrten sich, dass die Klimaforscher mit ihren Prognosen eher unter- als übertrieben hatten. Der australische Wetterdienst musste in seinen Diagrammen zwei neue Farben einführen, um Rekordtemperaturen darzustellen.

Doch die Menschheit ließ sich von den Beschwichtigungen der Mächtigen, von immer neuen Wirtschaftskrisen und von anderen Angstthemen wie dem internationalen Terrorismus ablenken. In den nördlichen Breiten sorgten milde Winter und heiße Sommer für gute Laune. Unterdessen änderte sich der Planet Schritt für Schritt – und so grundlegend, dass Menschen aus dem frühen 21. Jahrhundert ihn im späten 21. Jahrhundert erst nach einer Weile als ihren Heimatplaneten wiedererkennen würden.

Die Stimmung änderte sich an dem Tag, an dem aus dem Meer nördlich von Sibirien eine gewaltige Blase an die Oberfläche stieg und einen kleinen Tsunami in Gang setzte, dem an Land zwanzig Hafenarbeiter zum Opfer fielen. Ohne diese Todesfälle wäre das Ereignis vielleicht gar nicht bemerkt worden. Nun suchten Wissenschaftler nach der Ursache. Ihre Antwort machte weltweit Schlagzeilen: Der polare Meeresboden war so warm geworden, dass gefrorenes Methan in riesigen Mengen auftaute und als Gas in die Atmosphäre aufstieg.

Die Blase und der Tsunami waren entstanden, weil sich das aufgetaute Erdgas in einer Kaverne angesammelt hatte, die sich auf einen Schlag leerte. Das eigentliche Problem war den Analysen zufolge viel größer. Der Erwärmungseffekt allein aus dem russischen Polarmeer entsprach dem gesamten CO2-Ausstoß der USA. Solche Phänomene häuften sich.

Der Übergang von einem natürlichen Wetter, das die Menschen als gegeben wahrnahmen, zu einem sozialen Wetter, das als etwas von Menschen Gemachtes in Erscheinung trat, dauerte zehn Jahre. In dieser Zeit verstummten die Klimawandelskeptiker. Unauffällig verschwanden in Washington und anderen westlichen Hauptstädten die Türschilder von »Thinktanks« und »Instituten«, die in Wahrheit Frontshops der Fossilwirtschaft gewesen waren und nur das Ziel verfolgt hatten, die Klimapolitik zu behindern und ihren Auftraggebern Zeit zu kaufen, ihr altes Geschäft fortzusetzen.

Viele der alten, weißhaarigen Männer, die sich besonders aggressiv als Kämpfer gegen die Klimapolitik hervorgetan hatten, starben noch in dem Glauben, für die richtige Sache gestritten zu haben. Wer die Große Australische Dürre miterlebte, hörte auf, seine eigenen Lügen zu glauben.

Nun ging es für die früheren Leugner darum, in der neuen Weltunordnung klarzukommen

Thomas Tyrell hatte schon immer einen guten Riecher gehabt für die Dinge, die ihm gefährlich werden konnten. So hatte er innerparteiliche Widersacher frühzeitig ausgeschaltet, Spendenaffären überstanden und Geliebte stillgestellt, die plappern wollten. Ihm war es immer egal gewesen, was anderen Menschen gefährlich werden konnte, aber was ihn selbst betraf, da besaß er einen Spürsinn wie ein Terrier. Er hatte frühzeitig darüber nachgedacht, wie er sich in Sicherheit bringen würde, sollten sich die Umstände gegen ihn wenden.

Nach dem russischen Tsunami rief er in seiner entlegenen Ranch einige seiner früheren Geldgeber zusammen und unterbreitete ihnen ein Angebot: Er wolle als Elder Statesman eine Stiftung gründen mit dem Ziel, auf Flinders Island ein Memorial für die letzten 160 tasmanischen Aborigines zu errichten, die dort im frühen 19. Jahrhundert nach dem Genozid an den Aborigines bei der „Black-Line"-Kampagne zusammengepfercht worden waren. Er habe sich während seiner Amtszeit für die Belange der Aborigines eingesetzt, um sein Image aufzupolieren, und nun wolle er dafür die Ernte einfahren.

Ein solches ehrenhaftes Projekt könne der Stiftung exklusive Rechte über die Insel sichern, und diese könnten genutzt werden, um im Untergrund noch etwas ganz anderes zu bauen: einen luxuriösen Schutzbunker für einige der reichsten Menschen der Welt – für den Fall, dass die Weltlage sich ungünstig entwickle. Innerhalb von vier Wochen hatte Tyrell 12 Milliarden Dollar zusammen, und seine Warteliste umfasste 200 Multimilliardäre, darunter Besitzer von Bergbau- und Energiekonzernen, Chefs von Investmentbanken, Rüstungshersteller, Medien- und Internet-Mogule. Es handelte sich um das erste Powerdome-Projekt weltweit, entsprechend groß war die Nachfrage.

Die Warteliste hatte erstaunliche Ähnlichkeiten mit einer Liste, die in dieser Zeit in Straßburg kursierte

Dorthin war der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen umgesiedelt worden, kurz bevor eine Sturmflut Den Haag in der Nordsee verschwinden ließ. Schon 2009, als die internationale Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Kopenhagen spektakulär scheiterte, hatte an diesem Gerichtshof Mats Vogel, ein frisch promovierter Jurist mit roten Haaren, blassem Teint, schmalen Lippen und einer ebenso schmalen Brille, damit begonnen, Material über den Klimawandel zu sammeln. Er war kurz vor dem, was man früher »Pensionsalter« genannt hatte, aber so etwas spielte nun keine Rolle mehr. Jeder, der in der Festung des Gerichtshofs lebte, war froh, dort zu sein und über unterirdische Gänge von außen von den Blauhelmen versorgt zu werden.

Mats Vogel war sich schon als junger Referendar sicher gewesen, dass es eines Tages ein Internationales Tribunal über die Menschen geben würde, die zum Klimawandel nicht nur durch überflüssige Autofahrten und exzessiven Fleischkonsum, sondern durch weitreichende politische Entscheidungen beigetragen hatten. »Wer wissentlich dafür sorgt, dass sich die Lebensbedingungen von Milliarden Menschen verschlechtern, wer durch sein Handeln tödliche Stürme und Dürren heraufbeschwört, wer das Wetter in ein soziales Phänomen verwandelt, begeht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und macht sich letztlich an Genozid schuldig, da ganze Volksgruppen in ihrer Existenz bedroht werden«, hatte er in seiner ersten Vorlage für das Präsidium des Gerichts geschrieben.

Seine ganze Arbeit zielte seither auf die kleine Gruppe von Menschen, deren strategische Entscheidungen die Welt auf einen falschen Kurs brächten, und die es den Normalbürgern schwer bis unmöglich machten, ohne Emissionen zu leben. »Es gibt bei Erdöl, Kohle und Gas die Drogenabhängigen, und es gibt die Dealer, die von der Abhängigkeit profitieren«, schrieb er später in einem Papier.

Am Anfang hatte Vogel es nur dem Wohlwollen eines einzelnen Gerichtspräsidenten zu verdanken gehabt, dass sein Projekt gefördert wurde und er fortan in seinem Büro unbehelligt Namen und Beweise sammeln durfte. Dann wurde er schlichtweg vergessen. Er war einfach da und gehörte wie ein altes Möbelstück dazu.

Vogel hatte nicht aufgehört, an seine Sache zu glauben, er hatte Jahr um Jahr Statistiken, Geschäftsberichte, Presseartikel und Regierungsdokumente gesammelt und ausgewertet. In seinem Büro hing eine Rangliste der Menschen, die deutlich größere Mengen Treibhausgase zu verantworten hatten als normale Durchschnittsverbraucher. Es ging ihm um Millionen, um Milliarden Tonnen Kohlendioxid und Methangas, deren Ausstoß planvoll toleriert worden war und die sich nun zu einer gigantischen Revolution des Erdgeschehens summierten. Mehrere Regierungschefs der USA, Chinas und europäischer Länder prangten an seiner Wand, CEOs von Unternehmen der Energie- und Bergbaubranche und Medienunternehmer, die über Jahre hinweg wissentlich die Unwahrheit verbreiten ließen.

Nach dem russischen Tsunami wusste er, dass seine Stunde bald kommen würde, der Moment, in dem er seine gesammelten Beweise dem UNO-Chefankläger vorlegen würde

Vogel begann zu überlegen, wer sein erster Kandidat sein würde. Sollte er ganz oben anfangen? Die weiteren Angeklagten würden wie kleine Fische erscheinen. Ganz unten? Das würde aussehen, als ob die Großen laufen gelassen würden. Sein Blick fiel auf einen Mann in der Mitte, auf ein scharf geschnittenes Gesicht mit einer souveränen Ausstrahlung, einem Blick, der zum Ausdruck brachte, wie sicher sich dieser Mann seiner Sache war. Wenig später stand der Name Thomas Tyrell im Formular für einen Anklageantrag, der Mann, der dafür gesorgt hatte, dass die australischen Kohlevorkommen in der Atmosphäre landeten, um die Taschen seiner Geldgeber zu füllen.

Er wusste, dass Patricia Fernandez, die neue Chefanklägerin, ein offenes Ohr für ihn haben würde. Zwei ihrer Enkelkinder waren bei der Sturmflut von Den Haag ums Leben gekommen. Er wusste auch, dass diese Frau brutal sein konnte. Bei ihrem ersten Angeklagten, einem Kriegsverbrecher, hatte sie dafür gesorgt, dass er zurück aufs Schlachtfeld geschickt wurde, von wo man nie wieder etwas von ihm gehört hat. Sie forderte Strafen, die noch wenige Jahre zuvor als sadistisch gegolten hätten, als Rückfall ins Mittelalter gebrandmarkt worden wären.

Die Welt war brutal und sadistisch geworden, sie quälte ihre Bewohner jeden Tags aufs Neue mit Bedingungen, die nur bedingt zum Leben geeignet waren – und die Justiz passte sich dem an. Gefängnisse hatten keinen Sinn mehr. Viele Menschen hätten für die Ruhe und die Sicherheit, die es dort gab, viel geopfert.

Als Vogel aus seiner Versenkung auftauchte und der Anklägerin vortrug, dass es für den Klimawandel Verantwortliche gab, die frei herumliefen, und ihr einen Stapel Akten auf den Tisch legte, schaute ihm Patricia Fernandez tief in die Augen, nickte und dankte ihm für seine wertvolle Tätigkeit über all die Jahre.

Michael Rogers hatte sich große Mühe gegeben, das Powernet vor unberechtigten Zugriffen zu schützen

Anarchistische Hacker hatten es schon unzählige Male versucht, die Roboterfarmen Tasmaniens stillzulegen oder die Klimaanlage der Insel zu sabotieren. Das Powernet nutzte die besten verschlüsselten Kabel des alten Internets, im Rest der Welt gab es nur noch brüchige, ungeschützte Leitungen.

Die elektronischen Vorladungen des Internationalen Gerichtshofs blieben in der Firewall hängen.

Die Chefanklägerin war bekannt für ihre gründliche Recherche, und sie hatte mit der Hilfe von Mats Vogel die gesamte Geschichte der Klimaforschung und der Klimapolitik noch einmal von vorne aufgerollt. Der erste Stapel Akten auf ihrem Tisch beschäftigte sich mit der Geschichte der Meteorologie in Australien. Sie hatte wissen wollen, wie australische Premierminister über das Wetter und das Klima ihres Kontinents informiert wurden, welcher meteorologische und klimatologische Sachverstand den australischen Regierungen über die Jahrzehnte zur Verfügung gestanden hatte und wie Tyrells Vorgänger mit Extremwetterlagen umgegangen waren.

Beim Blättern stieß Fernandez auf Clement Wragge, den Mann, der in Südaustralien das erste meteorologische Messnetz geschaffen und 1886 die Royal Meteorological Society of Australia gegründet hatte. Wragge war bekannt dafür, dass er bei Politikern dafür eintrat, die Ausgaben für Wetter- und Klimaforschung massiv zu erhöhen. Als dies nicht geschah, trat er 1903 von seinem Posten in Queensland zurück. Zuvor hatte er jedoch eine Neuerung eingeführt, die später von Meteorologen weltweit aufgegriffen wurde. Wragge war der Erste, der tropischen Stürmen Namen gab, als wären sie Lebewesen.

Er fing mit dem griechischen Alphabet und polynesischen Mythenfiguren an, dann verlegte er sich aus Ärger über ausbleibende staatliche Fördermittel auf eine neue Methode: Er benannte Stürme nach Politikern, darunter Edmund Barton und Alfred Deakin, die ersten beiden Premierminister des neugegründeten Landes. Es bereitete ihm eine diebische Freude, in seinen Depeschen zu schreiben, dass »›Edmund Barton‹ mit voller Wucht auf die australische Küste treffen« und großen Schaden anrichten werde.

Es war das einzige Mal, dass Vogel die Chefanklägerin lächeln sah. Sie hatte eine perfide Idee, und mit der setzte sie sich vor Gericht durch. Die Richter sprachen Thomas Tyrell »wegen Öko-Terrorismus und Genozid in zahlreichen Fällen« schuldig und beauftragten die Blauhelmtruppe der Vereinten Nationen damit, den Verurteilten dingfest zu machen.

Rückseite des Gemäldes „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch.
Rückseite des Gemäldes „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch.

Michael Rogers saß nach der Standpauke in seinem kleinen Büro und warf Dartpfeile auf eine Landkarte von Tasmanien

Sollte er Tyrell doch noch von den Fernsehnachrichten des Vorabends erzählen? Bevor ihn die Chaoten übermannt hatten, hatte der Wettermann mit einem hämischen Grinsen bekannt gegeben, dass der Internationale Gerichtshof in Straßburg den früheren australischen Premierminister Thomas Tyrell in Abwesenheit als Massenmörder und Terrorist verurteilt hatte und dass das Gericht nun sukzessive diejenigen Politiker und Firmenchefs bestrafen werde, die für den globalen Klimawandel hauptsächlich verantwortlich seien.

»Das neue Taifunsystem, das bereits 4000 Menschenleben gekostet hat, heißt deshalb ›Thomas Tyrell‹, und es rast mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Vereinigten Philippinischen Restinseln zu. Der UN-Unwetterrat fordert alle Bewohner der Union auf, sich vor ›Thomas Tyrell‹ in Sicherheit zu bringen.«

Patricia Fernandez wollte Tyrell an seiner empflindlichsten Stelle erwischen: seiner grenzenlosen Eitelkeit.

Am Abend lief Rogers seine übliche Runde durch den Powerdome, er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, wie eine Art Nachtwächter alle Räume und Sicherheitssysteme selbst zu kontrollieren. Er schritt den Speisesaal ab, wo Serviceroboter gerade das kaiserliche Porzellanservice aus der Mingdynastie abräumten, das Tina, die Bergbaumagnatin, eingebracht hatte. Dutzende leere Weinflaschen standen auf den Tischen, feinste französische und australische Weine aus dem frühen 21. Jahrhundert und einige Flaschen späterer Jahrgänge aus Schweden und Britisch-Kolumbien. Er wurde immer nostalgisch, wenn er das Schmatzen der Roboter hörte, die Essensreste vertilgten – das erinnerte ihn an seine Kinder und daran, wie seine Frau versucht hatte, ihnen das Schmatzen abzugewöhnen.

Seine Frau, seine Kinder, er hatte keine Ahnung, was aus ihnen geworden war. Sie waren verschwunden, als er von seinem Einsatz im Chimerikanischen Krieg zurückkam. Er hatte sie ein Jahr lang vergeblich suchen lassen. Ihre Spur verlor sich in Darwin, wo sie im vierten Jahr der Dürre ein Flüchtlingsboot in Richtung Papua-Neuguinea bestiegen hatten, wo es noch Wasser gab.

Rogers ging weiter in den Gemäldesaal, an dessen Wänden alte Kunstschätze hingen

Er betrachtete die Wand mit den Landschaftsgemälden – eine pastorale Idylle von Rubens, van Goghs Gemüsegärten am Montmartre, Meeresstimmungen von Turner, Cézannes warme Gebirgsporträts, wabernde Nebel von Friedrich. »Was für eine Welt das war, in der solche Bilder entstehen konnten!«, dachte Rogers.

Sein Blick blieb am Garten der Lüste von Hieronymus Bosch hängen, den Larry, der frühere Chef von Google, nach dem spanischen Staatsbankrott vom Prado bekommen hatte. Es war neben seinem Koffer das Einzige, was er mit in den Powerdome genommen hatte. Rogers konnte sich an dem Gemälde nicht sattsehen, am Paradies mit seinen grünen Weiden und märchenhaften Tieren, an der rauschhaften Party im Mittelteil, die von jugendlicher Lust und Freude am Leben nur so strotzte. Fliegende Menschen waren da zu sehen, ausufernde Fress- und Sexorgien, wunderbare Gebäude und endlose Freudentänze. Rogers strich mit der Hand über die weißen und schwarzen Körper, die Bosch vor bald 600 Jahren gemalt hatte, als Vision der künftigen Welt des Wohlstands. Rechts davon war die Hölle. Er ging ganz nahe heran und schaute sich zum x-ten Mal die Maschinentiere an, die die Menschen peinigten, die Roboterhunde, so unfassbar ähnlich denen, wie sie keine fünf Kilometer vom Dome entfernt am Strand patrouillierten. »Cooler Typ, dieser Bosch, wirklich«, murmelte Rogers.

»Ja, cooler Typ«, sagte eine Stimme hinter ihm. Rogers fuhr zusammen. Um diese Zeit war sonst niemand mehr wach. Larry kam aus der dunklen Hälfte des Raums, er hatte wohl die ganze Zeit da gesessen und sein Lieblingsbild angeschaut. »Aber wissen Sie, was das Verrückteste ist, General?« Er sprach ihn mit dem Spitznamen an, den er sich als einziger Militär unter den Milliardären erworben hatte. »Das Verrückteste ist, dass dieser Typ nicht nur unsere Gegenwart vorhergesagt hat, sondern auch unsere Zukunft. Den hätte ich wirklich gerne in meinem Vorstand gehabt, vielleicht würden wir dann an der ganzen Scheiße da draußen irgendwie Geld verdienen.«

Larry ging mit schnellen Schritten auf das Gemälde zu und klappte die beiden Flügel so heftig zu, dass es einen Knall gab. Rogers hatte nicht gewusst, dass Bosch auch die Rückseite bemalt hatte. Er sah, in einem schwarzen Rahmen, eine schwebende Kugel, von einer durchsichtigen Hülle überspannt. Unter düsteren Wolken erstreckte sich eine Insel mit Hügeln und Bäumen und seltsamen Gebilden an der Küste. »Es hieß immer, das sei der dritte Tag der Schöpfung, Gott hat Land und Wasser getrennt und die ersten Pflanzen geschaffen«, sagte Larry. »Aber schauen Sie genau hin, General, diese Dinger am Strand, das sind doch keine Pflanzen. Das sind die Überreste unseres Domes, die es ins Meer spült, wenn wir alle tot sind.«

»Warum so düster, Larry?«, sagte Rogers

»Die Muscheln, Steaks und Weine, die ich gerade im Speisesaal gesehen habe, sahen nicht gerade nach Tod und Niedergang aus; und wenn Sie Ihre Ohren spitzen, hören Sie aus den Apartments Geräusche, die auch nicht gerade ans Sterben denken lassen.«

»Wir sind alt, General, da draußen braut sich etwas zusammen, und auch Dr. Matipoliv kann uns nicht ewig am Leben erhalten«, erwiderte Larry. Er hob die Augenbrauen. Seit sich die Türen des Powerdomes hinter ihm geschlossen hatten, versuchte er, den alten Trieb zu unterdrücken, immer auf dem neuesten Stand zu sein, immer alles über die Welt zu wissen, immer die Geschichten hinter den Geschichten zu kennen.

Doch der Smalltalk bei Tisch, dieses endlose Gerede darüber, wie sie alle zu ihrem Reichtum gekommen waren, wie sagenhaft schlau sie waren, wen sie übertölpelt hatten, welche Politiker sie sich gekauft hatten und wie ungerecht das Ende ihrer Imperien gewesen war, war ihm schnell langweilig geworden. Er hatte sich damit unbeliebt gemacht, dass er die immer gleichen Geschichten, mit denen die 85 anderen bei Tisch prahlten, zu Ende führte, sobald auch nur die ersten Wörter gefallen waren, und das Ganze mit einem »Blablabla« oder einem »Amen« beendete. Er war zum Einzelgänger geworden und zog sich gern in eine der vielen Nischen zurück, die der Powerdome bot.

»Was ist denn los da draußen?«, fragte Larry.

»Ich darf Ihnen ja eigentlich nichts sagen«, antwortete Rogers.

»Schießen Sie schon los, General.«

Rogers zögerte, dann platzte es aus ihm heraus.

»Mister Tyrell wurde als Terrorist verurteilt, man hat einen Taifun nach ihm benannt, und er soll verhaftet werden.«

Larry lachte laut los. »Das ist nicht Ihr Ernst?«, sagte er.

»Doch, mein voller Ernst.«

Rogers wollte ihn noch am Arm festhalten, doch der alte Mann war so schnell losgelaufen, dass seine Hand ins Leere griff.

Larry schnappte sich einen der Champagnerkübel samt Flasche und lief hinüber in den Apartmentflügel. »Thomas, der Terrorist, Thomas, der Terrorist«, schrie er in einer schrillen Stimme, die halb nach Lachen, halb nach Panik klang, und er schlug die Flasche so laut gegen den Kübel, dass es im ganzen Wohnkomplex zu hören war. Rogers rannte ihm hinterher, doch als er ihn eingeholt hatte, war es bereits zu spät. Mindestens die Hälfte der 86 stand vor ihren Türen oder hing über den Balustraden des Innenhofs, die meisten in Bademänteln, einige nackt. Ganz oben stand Thomas Tyrell, auf seiner Schulter lag die Hand Julias, und er deutete auf Rogers. »Sofort zu mir!«, schrie er.

Während der Sicherheitschef Bericht erstattete, verfärbte sich das Gesicht Tyrells tiefrot. Julia rief Dr. Matipoliv.

»Diese verdammten Ökoschweine, diese Walpriester, diese Schlammschlucker, diese Kommunistensäcke, diese Anthropozän-Arschlöcher«, schrie Tyrell.

»Die glauben wohl, sie könnten einem Thomas Tyrell Angst einjagen, ein Taifun, was soll ich denn mit einem Scheißtaifun zu tun haben! Keiner von diesen Typen hat so viel für die Menschen getan wie ich, und jetzt soll ich Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben?«

Erst am nächsten Morgen hatte sich Tyrell wieder beruhigt. Er berief eine Versammlung der 86 ein. Sie kamen an einem riesigen, von hohen Ledersesseln umringten Tisch zusammen, der sie an ihre Zeiten als Chefs erinnern sollte. Mit seinen 107 Jahren lief Tyrell nochmals zu Höchstform auf und hielt eine flammende Rede, wie in seinen besten Zeiten als australischer Premierminister. Es sei wohl jedem klar gewesen, dass es auch einmal schwierig werden könnte, und nun sei der Moment gekommen, zusammenzustehen. Das Sicherheitssystem der Insel sei gegen jeden Angriff gewappnet, und deshalb könne man es sich erlauben, ein einziges Mal ein kleines elektronisches Tor zur Welt aufzumachen, um eine Botschaft an den Internationalen Gerichtshof zu schicken.

»Ich werde es so diplomatisch wie möglich formulieren, aber wenn sie es lesen, wird ihnen ein riesiger Mittelfinger an ihrem verdammten Himmel erscheinen, und sie werden sehen, wie ich das Wetter beeinflusst habe«, rief er. »Und außerdem ist es Zeit, ein paar von Mikes Leuten auszusenden und die anderen Powerdomes in Stellung zu bringen, oder?«

Die Milliardäre klatschten sich auf die Schenkel und applaudierten.

Eine Woche feilte Tyrell an dem Statement, mit dem er der Welt erklären wollte, warum er weder ein Terrorist noch ein Massenmörder war

»Flinders Island ist kein Schlupfloch, hier leben friedfertige, ehrbare Menschen, die zeitlebens ihren Heimatländern gedient haben; und wir werden uns nicht dem Urteil eines Gerichts beugen, das wie im Mittelalter willkürlich Menschen an den Pranger stellt«, lautete der letzte Satz. Mike Rogers bereitete unterdessen vor, den elektronischen Schutzschild der Insel kurz zu öffnen, um die Botschaft an die wichtigsten verbliebenen Nachrichtensender und an das Gericht schicken zu können. »Operation Mittelfinger« nannten sie es.

Als Tyrell auf den Knopf drückte, grinste er selig.

Nachdem Tyrell auf den Knopf gedrückt hatte, lächelte die Chefanklägerin selig.

Es war der Moment, von dem Patricia Fernandez lange geträumt hatte

Die Blauhelme hatten in dieser Zeit ganze Arbeit geleistet. Sie hatten ein Team von Kryptologen und Cyberkriegern zusammengestellt, hatten die Festplatten des australischen Verteidigungsministeriums ausgegraben und forensisch untersucht, sie hatten die Codes des abgeblasenen Roboterprojekts entschlüsselt und ein Ding gebaut, wie es zuletzt im Chimerikanischen Krieg eingesetzt worden war: ein kleines Stück Code nur, aber so wirksam wie eines der neuen Viren, die in den Mündungsgebieten der Plastikflüsse entstanden waren.

Sie hatte den Plan wieder und wieder vor ihrem inneren Auge ablaufen lassen: Einen Monat wartete das Ding in einem kleinen Schaltelement, das in den tasmanischen Gewächshäusern für die Regulation der Phosphorzufuhr zuständig war. Dann schlug es los, und wenig später legten sich die robotischen Hunde, Tiger und Stiere rücklings auf den Strand und strampelten mit den Beinen, als wollten sie sich streicheln lassen. Aus dem Meer, wo die scharfen Waffensysteme stationiert waren, stiegen weiße Blasen und dunkle Ölschwaden auf.

Der Zugriff der Blauhelme dauerte nicht lange. Stockwerk für Stockwerk durchkämmten die Soldaten den Powerdome, bis sie Tyrell fanden. Seine Assistentin stellte sich ihnen mit einem Gewehr in den Weg, was dazu führte, dass Tyrell mit Blut bespritzt war, als er nach draußen in den wartenden Helikopter abgeführt wurde. Das Sonnenlicht blendete ihn.

Am nächsten Morgen saß er in einem Flugzeug, das er aus früheren Zeiten kannte. Es hatte weiße Ledersessel, und er durfte dort sitzen, wo er als australischer Premierminister gesessen und feixend befohlen hatte, ein neues Kohleabbaugebiet nach dem anderen anzustechen, nur dass er nun gefesselt war und seine Augen verbunden waren. Zehn Stunden flogen sie, in denen er vorgelesen bekam, was in der Welt passiert war, seit er sich in den Powerdome auf Flinders Island zurückgezogen hatte. Als der Bericht beim Taifun Thomas Tyrell angekommen war und den 50.000 Menschen, die er allein auf den Vereinigten Philippinischen Restinseln getötet hatte, riss der Bericht ab.

»Wir sind nun über unserem Zielgebiet über Mindanao und werden das Urteil vollstrecken«, sagte die Frauenstimme, während ihm Helfer einen Fallschirm anlegten. Eiskalter Wind durchströmte das Flugzeug. »Gute Reise, Mr. Tyrell.«

Wenige Tage später wachte Patricia Fernandez nachts durch ein Geräusch auf

Ein maskierter Mann hatte sich über sie gebeugt. Er schob ihr einen Pistolenlauf in den Mund. »Schöne Grüße von den Konföderierten Powerdomes«, sagte er und drückte ab.

Es war der Beginn des Powerdome-Krieges.

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