Ticken Schweine im Fünf-Tages-Takt?

Der Wissenschaftler Timothy Bromage ist einem neuartigen Biorhythmus auf der Spur. Von Andreas von Bubnoff

13 Minuten
Rote Linien

30. März 2017

An einem Sommertag vor zwei Jahren kaute Timothy Bromage, der als Paläoanthropologe an der New York University arbeitet, an einem Lammknochen. Er war gerade in Zypern, um seinen Urlaub zu genießen, aber plötzlich hörte er einen Knacks. Als darauf ein scharfer Schmerz folgte, war ihm klar: Einer seiner Backenzähne war zerbrochen.

Als er zurück in New York war, stellte ihn sein Zahnarzt vor die Wahl: Drei Monate Hölle beim Versuch, den Zahn zu retten. „Oder Sie geben mir fünf Minuten, und ich ziehe den Zahn sofort.“ Bromage entschied sich fürs Ziehen – zumal ihm das die Möglichkeit gab, einen Dünnschnitt seines Zahns zu machen.

Zähne haben es dem Forscher angetan. Er glaubt, sie enthalten die Spuren eines rhythmischen Signals, das mit einem Grundvorgang des Lebens zusammenhängt: wie schnell Lebewesen wachsen und ihre Körper erneuern.

Die Wissenschaft von den Rhythmen des Lebens heißt Chronobiologie. Sie bekommt viel weniger Aufmerksamkeit als andere biologische Teildisziplinen, etwa die Genetik. Doch ohne zeitliche Rhythmen wäre alles Leben nichts. Damit ein Organismus funktioniert und wächst, müssen Milliarden von Prozessen aufeinander abgestimmt werden. Besonders wichtig sind dabei Wachstumsprozesse.

Chronobiologen treibt die Frage um, wie biologische Prozesse getaktet sind. Am besten untersucht ist der „zirkadiane“ Rhythmus, der etwa einen Tag dauert und sich am Tag-Nacht Zyklus orientiert.

Bromage aber ist seit längerem bisher unbekannten Zyklen auf der Spur. Den ersten Hinweis darauf fand er in der Form winziger Streifen im Zahnschmelz. Sie sind, davon ist er überzeugt, die Spuren eines neuartigen Biorhythmus, der erklären könnte, warum größere Säugetiere langsamer wachsen und länger leben als kleinere.

***

Bromage begann, sich für Zähne zu interessieren, als er in den 1980er Jahren an seiner Dissertation arbeitete. Damals wussten Forscher bereits, dass Zähne tägliche Wachstumsstreifen bilden, ähnlich Jahresringen in Bäumen. Japanische Forscher hatten solche Tagesstreifen in den 1930er und 1940er Jahren in den Zähnen von Hunden, Ratten, Schweinen und Rhesusaffen beschrieben.

Säugetierzähne haben jedoch auch sogenannte Retziusstreifen, benannt nach dem schwedischen Anatomen und Anthropologen Anders Adolf Retzius (1796 – 1860). Diese Streifen lagen bei den fossilen frühen Hominiden, die Bromage in seiner Dissertation untersuchte, sieben Tage auseinander. Zwar wusste damals niemand, wie oder warum sich Retziusstreifen bilden. Dies hinderte Bromage aber nicht daran, sie als Markierung zu benutzen, um zu zeigen, dass die ersten bleibenden Zähne früher Hominiden im Alter von drei Jahren durchbrechen, im selben Alter also wie bei Schimpansen, und viel früher als beim modernen Menschen. Er interpretierte dies so, dass frühe Hominiden nicht einfach eine Miniaturversion des modernen Menschen waren, wie man damals annahm, sondern eher Affen ähnelten.

Ein „völlig neues Paradigma“

Im Jahre 1991 konnte Bromage Beobachtungen anderer Wissenschaftler bestätigen, dass Retziusstreifen bei Rhesusaffen nicht sieben, sondern nur vier Tagesstreifen auseinander lagen. Dass auch Knochen periodisch wachsen, erkannte er im Jahr 2000, als er herausfand, dass Lamellenstreifen in Rattenknochen einen Tag brauchen, um sich zu bilden.

Allerdings sind die Lamellen von Ratten- und Menschenknochen gleich dick, obwohl Menschenknochen viel schneller wachsen. Wie konnte das sein, wenn auch Lamellen von Menschenknochen einen Tag brauchen, um zu wachsen? Bromage stand vor einem Rätsel. „Jahrelang nervte mich das“, erinnert er sich.

Erst im Jahre 2008 wurde ihm klar, dass Knochenlamellen eben nicht bei allen Tieren gleich schnell wachsen. In der Dissertation einer seiner Studenten las er, dass die Lamellen von Rhesusaffenknochen vier Tage brauchen, um sich zu bilden – also viermal länger als Lamellen von Rattenknochen.

Das erinnerte ihn an seine Beobachtung aus dem Jahre 1991, dass die Retziusstreifen von Rhesusaffen ebenfalls vier Tage auseinander lagen: Konnte es sein, dass Knochen genau dieselben Wachstumsrhythmen wie Zähne haben? Wenn ja, dann sollte die Bildung menschlicher Knochenlamellen in etwa so lange dauern, wie menschliche Retziusstreifen auseinander liegen, also sieben Tage – wie erwartet deutlich länger als die Bildung von Rattenknochenlamellen.

Ein solch direkter Zusammenhang zwischen Knochen- und Zahnwachstum stellte „ein völlig neues Paradigma“ dar, sagt Bromage. Denn bis dahin hatte man Knochen nie als ein Gewebe verstanden, das wie Bäume oder Zähne in definierten, messbaren Schritten wächst. Die Idee war „so fundamental neu“, erinnert sich Bromage, „dass ich eine Woche lang darüber mit niemandem sprechen konnte, nicht einmal mit meiner Frau. Ich musste zuerst sicher sein, dass es stimmte.“

Und tatsächlich: Als Bromage in seinem Labor histologische Schnitte untersuchte, fand er, dass die Wachstumsrhythmen von Knochen und Zähnen in Rhesusaffen, Schafen und Menschen dieselben waren.

Eine Grafik von einem Zahn und dessen Retziusstreifen
Ein Mann im Portrait
Der Paläoanthropologe Timothy Bromage von der New York University.
Eine Nahaufnahme von Zahnschmelz
Dünnschnitt von Schweinezähnen – man kann den Fünf-Tage-Rhythmus als fünf Tagesstreifen zwischen zwei Retziussteifen erkennen.
Dünnschnitt eines Zahns
Dünnschnitt von Bromages zerbrochenem Zahn, den er zum Bestandteil seiner Veröffentlichung machte. Man kann erkennen, dass Bromages eigener Rhythmus acht Tage beträgt.