Tunesien: Überwachungstechnologie gegen Corona

Die schwierige Balance zwischen öffentlicher Gesundheit und Persönlichkeitsrechten

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
5 Minuten
Fotomontage:Polizeiroboter kontrolliert Bürger / Anwältin Wafa Ben Hassine

Tunesien setzt im Kampf gegen Corona auf strenge Massnahmen und Überwachungstechnologie. Polizeiroboter patrouillieren durch die Straßen der Hauptstadt, kontrollieren Ausgangsgenehmigungen und maßregeln jene, die sich zu lange auf der Straße aufhalten. Bald sollen auch Drohnen mit Thermokameras eingesetzt werden, um in Menschenmassen aus der Ferne Fieber zu messen. Bis jetzt kann das Land die Krankheit einigermassen in Schach halten. Doch Kritiker fühlen sich in die Zeit der Diktatur zurückversetzt.

Wafa Ben Hassine ist Menschenrechtsanwältin und Vizevorsitzende des Global Future Council für Menschenrechte und Technologie des Weltwirtschaftsforums. Sie fürchtet, dass der Kampf gegen Covid-19 zum Einfallstor für den Einsatz hochmoderner Überwachungstechnik wird, die auch nach der Pandemie im Einsatz bleibt.

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie den Polizeiroboter gesehen haben?

Ganz ehrlich, ich fand das ziemlich dystopisch. Wir kennen das aus China, Taiwan oder Hongkong, aber ich hätte nie gedacht, dass wir so etwas auch bei uns sehen würden, obwohl diese Technologien natürlich existieren. Nach dieser unmittelbaren Reaktion habe ich mir gedacht: Da sitzt ganz offensichtlich ein Polizist hinter einem Bildschirm, der mit dem Gegenüber der Maschine kommunizieren kann. Außerdem kann sie offenbar Ausweisdokumente lesen. Das wirft Fragen auf: Wie werden diese Dokumente eingelesen? Werden sie irgendwo gespeichert? Werden die Daten ans Gericht weitergeleitet, und werden sie später weiterverarbeitet?

Welche Gefahren sehen Sie?

Diese Technologien werden so schnell und unkontrolliert auf den Markt gebracht, dass die Zivilgesellschaft, Experten oder Wissenschaftler gar nicht so schnell antworten oder sich organisieren können, um darauf einen Einfluss zu haben. Natürlich ist es sehr wichtig, dass diese Gesundheitskrise angegangen wird. Die Situation ist sehr dringend und ernst. Dies betrifft ein Land wie Tunesien im Besonderen, das kein besonders starkes öffentliches Gesundheitssystem hat, das in der Lage wäre, mit einer Welle von Fällen umzugehen. Ich verstehe schon den Gedanken hinter dem Einsatz der Technik. Aber die größte Frage ist: Was passiert später mit dieser Technik?

Könnten sie für andere Zwecke eingesetzt werden?

In Momenten wie diesen werden oft Tür und Tor geöffnet: Jetzt ist die beste Möglichkeit, Technologien zu etablieren, die später für ganz andere, düstere Zwecke genutzt werden können. Der Moment ist Gold wert, um sie auf den Markt zu bringen, wenn ein Staat sie einführen möchte. Da habe ich Bedenken.

Sehen Sie in der aktuellen Krise und dem Einsatz von Überwachungstechnik, dass Reflexe aus der Zeit der Diktatur wieder hochkommen, wie einige Tunesierïnnen kritisieren?

So plakativ würde ich das nicht ausdrücken, dass es sich da um alte Reflexe handelt. Aber man kann sagen, dass die öffentliche Gesundheit oft als Vorwand genutzt wurde, um auf nicht rechtmäßige Weise gegen Menschenrechtler, Minderheiten, auch sexuelle Minderheiten, oder politische Dissidenten vorzugehen. Die Regierung hat heute mit dem Artikel 70 der Verfassung einen Blankoscheck, um zu tun, was sie will (nachdem das Parlament ihr für einen Monat die Möglichkeit gegeben hat, zur Pandemiebekämpfung in verschiedenen Bereichen mit Notstandsdekreten zu regieren; Anm. d. Red.). Sie sind nicht die einzigen, andere Staaten machen das auch. Aber es erlaubt dem Regierungschef, Gesetze zu verabschieden, ohne dass sie einer politischen Kontrolle unterliegen. Der Mangel an Kontrolle ist ein Problem. Daher bin ich besorgt, wenn zeitgleich solche Technologien eingeführt werden. Nehmen wir mal als Beispiel die Nutzung von Drohnen zur Temperaturmessung: So etwas kann später auch bei Protesten genutzt werden. Wir wissen einfach nicht, wie diese Techniken genau entwickelt werden, welche Möglichkeiten sie haben und ob, und wenn ja welche, Informationen und Daten gespeichert werden. Vielleicht sind sie harmlos und speichern gar keine weiteren Informationen, sondern messen wirklich nur Körpertemperaturen. Aber das entspricht nicht der Nutzung, die wir in anderen Ländern beobachten. Ich kann ihnen das Beispiel von China, Hongkong, Israel oder Iran geben: Alle diese Länder nutzen im Moment spezielle Technologien, die auch im Bereich der Terrorabwehr genutzt werden. Und ich fürchte, dass wir diesem Aspekt im Moment nicht genug Aufmerksamkeit schenken, weil wir uns sicher fühlen und gesund bleiben wollen, was ja legitim ist. Aber auch das muss in einem begrenzten Rahmen stattfinden. Wir müssen die Balance halten zwischen öffentlicher Sicherheit und Gesundheit einerseits und Persönlichkeitsrechten andererseits.

Gelingt es Tunesien, die Balance zu halten?

Ich gehe davon aus, dass einzelne Regierungsmitglieder oder Behörden diese Fragen beachten, aber das Problem ist, dass sie das nicht öffentlich kommunizieren. Vielleicht passiert ja hinter den Kulissen viel. Ich will sie nicht einfach so beschuldigen, schlechte Intentionen zu haben. Aber wir als Öffentlichkeit brauchen mehr Informationen, es handelt sich hier nicht um Nebensächlichkeiten. Diese Technik hat eine andere Qualität, als wenn mir das Gesundheitsministerium eine SMS schickt und nach meiner Körpertemperatur fragt. Das ist relativ legitim, denn ich habe am Flughafen der Übermittlung meiner Telefonnummer zugestimmt. Aber jetzt sprechen wir von viel ausgereifterer Überwachungstechnologie, die später problematisch werden könnte. Das muss öffentlich und transparent kommuniziert werden. Vielleicht würde es dann unsere Bedenken mildern.

Tunesien verfügt über ein Datenschutzgesetz. Reicht das Ihrer Ansicht nach aus, um die Nutzung dieser neuen Technologien zu regulieren?

Nein. Das Gesetz stammt aus dem Jahr 2004 und sieht weder wirklich den Schutz von Daten noch ihr Management vor. Es gab mehrere Versuche, ein neues Gesetz zu verabschieden, aber das wurde immer wieder verschoben – auch weil es Berührungspunkte mit dem Informationszugangsgesetz gab, für das die Tunesierïnnen so lange gekämpft haben. Das Gesetz, das derzeit in Kraft ist, reicht nicht aus, um die kritischen Punkte zu regulieren.

Der Leiter der tunesischen Datenschutzbehörde sagt, sie sei auf der Hut und würde einen eventuellen Missbrauch der Technik verhindern. Glauben Sie, die Behörde hätte die Macht, das zu tun?

Rein institutionell gesehen denke ich nicht. Aber wenn der Leiter gewillt ist, einen Aufstand zu machen, würde die Regierung ihm sicher Gehör schenken, vor allem die aktuelle Regierung. Ich gewähre ihr diesen Vertrauensvorschuss. Aber es ist schade, dass es hier letztendlich auf die Initiative von Einzelpersonen ankommt. Die Datenschutzbehörde hat wenig institutionelle Unterstützung, um sich gegen den Einsatz bestimmter Technologien zu wehren. Die Zivilgesellschaft spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Rolle. Sie würde bei Verstößen nicht ihren Mund halten. Das einzige Problem, das ich im Moment sehe, ist dass die Einführung so schnell verläuft und es mit der aktuellen Situation ein so verlockendes Argument für den rapiden Einsatz der Technik gibt, dass die Öffentlichkeit fast zu gelähmt erscheint, um ihn in Frage zu stellen.

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