24-Stunden-Pflege

Ein Urteil entlarvt das Mogelpaket

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
7 Minuten
24-Stunden-Pflege: Eine ausländiche Pflegekraft hilft beim Spazierengehen. Hier führt eine Pflegerin eine alte Dame.

Agenturen und Selbstständige werben mit 24-Stunden-Pflege gemeint ist „die Polin, die bei Oma wohnt“ und sie rund um die Uhr versorgt, Familien wollen das Versprechen glauben, die Politik guckt seit Jahren weg – dabei müsste allen klar sein, dass hier etwas gewaltig nicht stimmt. Ein aktuelles Urteil könnte ein Umdenken einleiten. Aber was dann?

Die großspurige Ankündigung und die Kosten passen nicht zueinander: „24-Stunden-Pflege“ und „Betreuung rund um die Uhr“ zu Preisen unter 2.000 Euro. Hinter dem Slogan „Pflege daheim statt im Heim“ versteckt sich ein Konzept, das nicht funktionieren kann: EINE Betreuerin – meist aus Polen, Rumänien oder Bulgarien – zieht bei einer pflegebedürftigen Person ein und kümmert sich den ganzen Tag um sie. Sechs, sieben Tage die Woche. Mehrere Monate lang. Wie soll das ohne Ausbeutung gehen? Trotzdem hat das Modell seit vielen Jahren Bestand. Denn die Not in den Familien der Pflegebedürftigen ist groß, der Politik fehlen Antworten. Ein neuer DIN-Standard und ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg könnten aber Bewegung in das Thema bringen.

In Deutschland wohnen schätzungsweise 300.000 Frauen aus Mittel- und Osteuropa für mehrere Monate bei pflegebedürftigen Menschen zu Hause und übernehmen deren Versorgung. Damit setzt rund jeder achte Pflegehaushalt auf dieses Modell. Die Frauen werden meist dann engagiert, wenn eine umfassende Pflege oder Betreuung notwendig ist – etwa bei Demenzkranken, die ständig beaufsichtigt werden müssen. Die Familien stehen oft vor einem Dilemma: einerseits wollen sie ihren Angehörigen ermöglichen, zu Hause wohnen zu bleiben, andererseits können sie die zeitlich aufwändige Betreuung nicht selbst übernehmen. Es fehlt an Unterstützung, da Pflege hierzulande immer noch vorrangig als Aufgabe der Familien gesehen wird. Die 24-Stunden-Pflege durch eine Frau aus Osteuropa scheint oftmals die einzige (finanzierbare) Lösung zu sein.

Schwierige Beschäftigungsmodelle

Doch dieses Konstrukt steht auf wackeligen Beinen. Das fängt bei der Beschäftigungsform an. Viele der Frauen arbeiten als Selbstständige, was nach deutschem Recht bedeutet: Sie dürfen nicht weisungsgebunden sein und müssen Ort, Zeit und Ausführung der Arbeit selbst bestimmen, andernfalls handelt es sich um eine Scheinselbstständigkeit. Wer im Haushalt einer pflegebedürftigen Person lebt und sie rund um die Uhr versorgt, ist in der freien Ausgestaltung seiner Arbeit aber sehr eingeschränkt.

Das andere weit verbreitete Modell ist die Entsendung. Vertragspartner ist hier ein Unternehmen im Ausland, das seine Mitarbeiterinnen im Wechsel nach Deutschland schickt. Drei Monate lang arbeitet Pflegerin A im Haushalt, dann kommt Pflegerin B und löst sie ab. Der Arbeitgeber im Ausland legt die Arbeitszeiten, den Urlaub und die Art der Tätigkeit fest – und nur er ist weisungsbefugt. Rechtlich gesehen, darf der Kunde in Deutschland den Betreuerinnen keine Aufgaben übertragen, was faktisch aber tagtäglich passiert.

Arbeitszeit auf acht Stunden begrenzt

Neben diesen rechtlichen Feinheiten stellt sich ein grundsätzliches Problem: Die Arbeitszeit. Auch für entsandte Arbeitnehmerinnen gelten in aller Regel die im Arbeitszeitgesetz vorgesehenen Höchstarbeitszeiten von acht Stunden am Tag. Die Ruhezeit muss mindestens elf Stunden betragen. Der Europäische Gerichtshof hat außerdem klar gestellt, dass Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit zu werten und zu vergüten ist. Für eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung bräuchte es also mindestens drei Betreuungskräfte – nicht eine.

Trotzdem werben Vermittlungsagenturen mit der 24-Stunden-Pflege. Sie argumentieren, dass sich dieser Begriff durchgesetzt habe und zu Marketingzwecken verwendet werde, die Arbeitszeitbestimmungen aber natürlich eingehalten werden müssten. „In seriösen Verträgen steht, dass keine 24-Stunden-Pflege möglich ist und Bereitschaftszeit Arbeitszeit ist“, sagt Frederic Seebohm, Geschäftsführer des Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) .

Kontrolliert werden diese Regeln nicht und so sieht der Arbeitsalltag der Frauen in den Familien oft anders aus. Eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung kam zu dem Schluss: „Eine klare Abgrenzung zwischen „Arbeitszeit“ und „Freizeit“ für diese Kräfte findet häufig kaum statt und es wird eine mehr oder minder permanente Arbeitsbereitschaft erwartet“. Es gibt Familien, die sich bemühen, die ausländische Betreuerin zu entlasten, aber auch andere, die die Belastungen wenig anerkennen. „Das ganze Modell beruht darauf, dass die Vorgaben im Vertrag und die Umsetzung im Alltag nicht übereinstimmen. Das wird bewusst in Kauf genommen“, sagt Simone Leiber, die am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen zum Thema forscht.