Was ist Systembiologie? Wie wir uns gesund rechnen

Die Wissenschaft von der mathematischen Modellierung biologischer Prozesse entwirft derzeit die Vision der Präzisionsgesundheit. Digitale Zwillinge werden unsere Gesundheit begleiten, Krankheiten werden selten, die Medizin wird ganzheitlich und menschlicher.

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Ein weißer Roboterfinger ist kurz davor, einen menschlichen Finger zu berühren, der sich ihm vor dunklem Hintergrund entgegenstreckt.

Ende März erschien das neue Buch von Peter Spork: „Die Vermessung des Lebens“ beschreibt anschaulich die hochkomplexe Wissenschaft der Systembiologie. Es erklärt, wie wir mit dieser Wissenschaft erstmals unseren Körper ganzheitlich begreifen – und Krankheiten verhindern, bevor sie entstehen.

Lesen Sie hier einen aktuellen Artikel über die neuesten Entwicklungen in diesem Gebiet: Was ist Systembiologie überhaupt? Was kann sie schon heute? Welche Rolle spielt sie in der Corona-Krise? Und wie wird sie unser Leben in Zukunft verändern?

Die dritte Welle der Corona-Pandemie ist da. Viele verantwortliche Politiker*innen möchten uns glauben machen, niemand hätte das kommen sehen. Aber sie irren. Schon Anfang Januar hatten Wissenschaftler*innen die fatale Entwicklung prognostiziert, und Wissenschaftsjournalist*innen hatten darüber berichtet.

Hinter solchen Prognosen steckt eine ganze Forschungsrichtung. Es ist eine Wissenschaft, die seit hundert Jahren existiert und seit einigen Jahrzehnten ihren Namen hat. Es ist aber auch eine Wissenschaft, der lange Zeit die Hände gebunden waren, weil sie zu grobe Werkzeuge besaß. Doch dieser Mangel ändert sich seit wenigen Jahren dramatisch. Und genau deshalb gewinnt diese Wissenschaft zunehmend an Bedeutung. Längst ist klar: Sie wird unsere Zukunft verändern. Wir sollten uns schon heute intensiv mit ihr befassen.

Das Forschungsgebiet, das ich meine, ist die Systembiologie. Sie ist der Versuch, das Leben zu berechnen und seine Entwicklung mit Hilfe mathematischer Formeln fortzuschreiben. Nikolaus Rajewsky, Leiter des Berliner Instituts für medizinische Systembiologie definiert sie so: „Das Vermessen und Berechnen des Lebens an einem bestimmten Moment und um diesen Moment herum: Exakt das ist Systembiologie.“

Atemberaubende Fortschritte

Dass dieser Bereich, der verschiedenste Forschungsrichtungen miteinander verbindet, seinem hoch gesteckten Ziel derzeit rasch näherkommt, liegt an mehreren Trends: Computer werden immer leistungsstärker. Programmiertechniken wie die Künstliche Intelligenz (KI) werden ausgefeilter. Die moderne Biologie gewinnt in faszinierendem Tempo neue Erkenntnisse. Und auch beim Sammeln von Daten aus sämtlichen Bereichen unseres Körpers und unserer Psyche gibt es atemberaubende Fortschritte.

Die Vision moderner Systembiologie ist, mit Hilfe großer Datenmengen, verbesserten Algorithmen und einem fundierten Verständnis der Biologie einen wissenschaftlichen und ganzheitlichen Blick auf das hochkomplexe System zu erhalten, das unser Leben ist. Dann würden wir möglicherweise besser verstehen, was in unserem Körper passiert, so lange wir gesund sind und was schief läuft, wenn sich eine Krankheit anbahnt. Und dann könnte sich die heutige Medizin, die vor allem Krankheiten behandelt, wandeln zu einer sprechenden und menschlicheren Medizin, die unsere Gesundheit steuert.

Buchcover: Die Vermessung des Lebens. Wie wir mit Systembiologie erstmals unseren Körper ganzheitlich begreifen – und Krankheiten verhindern, bevor sie entstehen.
„Die Vermessung des Lebens“, das neue Buch von Peter Spork, ist seit März 2021 im Handel. Es erscheint bei der Deutschen Verlags-Anstalt, DVA.

Noch befinde man sich am Anfang dieser Entwicklung, sagt Ernst Hafen, ehemaliger Präsident der ETH Zürich und Genetiker am dortigen Institut für molekulare Systembiologie: „Unser Verständnis der Biologie ist derzeit auf dem Level der Computertechnik, als der Commodore 64 der letzte Schrei war.“ Niemand hätte damals – vor fast vierzig Jahren – geahnt, was für leistungsfähige Computer inzwischen fast jeder von uns als schlaues Telefon in der Tasche hat.

„In zehn Jahren sieht die Welt ganz anders aus – und vor allem auch die Medizin.“ (Ernst Hafen)

Bisher verfolgten Biologie und Medizin eher „reduktionistische Ansätze“, sagt Hafen. Die Medizin sei deshalb zu sehr auf einzelne Beschwerden und Symptome fixiert. Dabei habe das „überhaupt nichts mit Biologie zu tun“. Schon bald sei man aber „nicht mehr so eingeschränkt durch die mangelhaften technischen Fähigkeiten“. Das bedeute aber auch, die Medizin werde ihren krankheitsfixierten Weg hinter sich lassen. Dank des technischen Fortschritts werde sich die herkömmliche Biologie zwangsläufig zur modernen Systembiologie weiterentwickeln, glauben ihre Protagonisten.

Schon heute funktioniert das recht gut, allerdings nur auf der Ebene der Zelle und „bei der Beschreibung des Istzustands“, sagt Hafen. In Zukunft werde man die Beziehungen der zahllosen bestimmenden Bestandteile eines Lebens zueinander „und über die Zeit hinweg“ aber viel besser messen und verstehen. Deshalb sehe schon in zehn Jahren „die Welt ganz anders aus – und vor allem auch die Medizin.“

Die Rückkehr der sprechenden Medizin

Der US-amerikanische Wissenschaftsautor Michael Specter hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass die neuen technischen Möglichkeiten, sich selbst via Gesundheits-App und Fitnesstracker mit relevantem Wissen zu versorgen, für uns viele Vorteile bringen: „Die Ära der paternalistischen Medizin, in der die Ärzte alles besser wissen und die Patienten froh darüber sind, sie zu haben, ist beendet.”

Doch nicht nur das: „Die neue Technik wird uns die Persönlichkeit in der Medizin zurückschenken“, sagt Systembiologe Hafen, „der Arzt wird wieder den Patienten anschauen und nicht mehr den Computer“. Für den technischen Teil dieser Gesundheitsbegleitung wird die Systembiologie sorgen, die Ärzt*innen können sich endlich wieder dem Menschen zuwenden. Das wäre die vielfach geforderte Rückkehr zur sprechenden Medizin.

Systembiologe Hafen kann sich beispielsweise Algorithmen vorstellen, die wir mit unseren Daten speisen, und die uns eines Tages in Form von Gesundheits-Navigatoren oder als so genannte digitale Zwillinge bei einfachen Gesundheitsentscheidungen unterstützen: „Ein digitaler Zwilling ist etwas, mit dem ich wirklich simulieren kann, was passieren wird. Wie sich zum Beispiel mein Körper verändert, wenn ich die Magnesiumkonzentration in eine bestimmte Richtung verändere. Ist das dann gut, oder ist es schlecht für mich?“

Digitale Zwillinge im Kampf gegen Covid-19

Gerade erst hat der Mathematiker und Systemmediziner Reinhard Laubenbacher von der University of Florida, USA, mit Kollegen in einem Perspektiv-Artikel für das Fachblatt Science vorgeschlagen, solche digitalen Zwillinge in Zukunft auch im Kampf gegen Virus-Infektionen wie Covid-19 einzusetzen. Man müsse dazu so viele individuelle Daten wie möglich aus dem Körper der Patient*innen sammeln, damit Computer füttern und verschiedene Modelle über den Krankheitsverlauf durchrechnen.

Mit Hilfe der digitalen Zwillinge ließen sich dann mögliche Zukunftsszenarien in Echtzeit und vollständig individualisiert entwerfen. Das helfe bei der Diagnose, Prognose und Behandlung der Krankheit und könne im großen Maßstab angewendet „die Widerstandskraft des gesamten Gesundheitssystems stärken“, schreiben die US-Forscher.

Laubenbacher und Kollegen weisen darauf hin, dass Ingenieure die gleiche Methode längst erfolgreich für die Entwicklung und Verbesserung von Maschinen anwenden. „Auch wenn medizinische digitale Zwillinge viel schwerer zu entwickeln sind, existieren bereits erste Applikationen, die die Gesundheit von Menschen unterstützen“, berichten die Systembiologen. Als Beispiel nennen sie die künstliche Bauchspeicheldrüse für Menschen mit Typ-1-Diabetes. Diese erfasst permanent den Blutzuckerspiegel der Patient*innen und passt automatisch die abzugebende Insulinmenge daran an.

„Wir sind gerade dabei, die Gesetze hinter dem Differenzial zu verstehen.“ (Nikolaus Rajewsky)

Bis unsere digitalen Ebenbilder allerdings komplexere systemische Zusammenhänge der Gesundheit simulieren werden, muss die Grundlagenforschung erst noch viele neue Erkenntnisse sammeln. Der Berliner Nikolaus Rajewsky versucht deshalb mit den Mitarbeiter*innen seines neuen, im Jahr 2019 von Kanzlerin Merkel persönlich eröffneten Instituts das Leben auf der kleinsten Ebene zu ergründen. Die Berliner betreiben so genannte Einzelzellbiologie. Sie erforschen isolierte Körperzellen, lesen deren DNA-Code, erfassen die Genaktivität, die Proteine, die die Zellen gerade erzeugen, und sie analysieren, wie sich all das durch Einflüsse von außen mit der Zeit verändert.

Eine eiförmige kleine Gewebekugel vor dunklem Hintergrund. Die Zellen sind grün und violett angefärbt.
Dem Team um die Zellbiologin Mina Gouti vom Max-Delbrück-Zentrum in Berlin gelang die Züchtung eines neuromuskulären Organoids. Es besteht aus Nervengewebe (violett) und Muskeln (grün). Es ist aufgebaut wie eine neuromuskuläre Endplatte, die dazu dient, Informationen aus dem Nervensystem auf die Muskulatur zu übertragen. Das Organoid wurde bereits hundert Tage im Labor kultiviert.

Außerdem versuchen Rajewsky und Co. mit Hilfe von Algorithmen, aber auch durch das Züchten künstlicher Mini-Organe, so genannter Organoide, das Leben schon heute ein Stück weit aus den Zellen heraus neu zusammenzusetzen. Die Berliner Forscher*innen möchten – wie viele andere Gruppen überall auf der Welt – das „mechanistische Verständnis“ der Biologie erhöhen. Denn erst wenn die Systembiologie die Beziehungen zwischen Zellen und Organen sowie die Prozesse in den Zellen grundsätzlich verstanden habe, könne sie digitale Zwillinge so programmieren, dass diese sinnvolle Prognosen lieferten.

Eines seiner wichtigsten Werkzeuge seien die Künstliche Intelligenz und dabei vor allem eine Rechenmethode, die Deep Learning genannt wird, sagt Rajewsky. Ohne moderne und immer schneller arbeitende Rechenzentren käme die Systembiologie deshalb nicht voran. Die Zeiten, in denen es genügte, das Leben mit vergleichsweise einfachen Differenzialgleichungen auszurechnen, seien weitgehend vorbei: „Wir sind gerade dabei, die Gesetze hinter dem Differenzial zu verstehen.“

Systembiologie in der Corona-Krise

Die Systembiologie ist heute also keine rein theoretische Disziplin mehr, die Prozesse des Lebens mathematisch nachbilden und möglichst gut fortschreiben möchte. Sie verändert sich zu einer experimentellen, beobachtenden und eingreifenden Wissenschaft.

Welche konkreten Folgen das auch für unseren Alltag hat, führt uns aktuell die Corona-Pandemie vor Augen. Es sind nämlich Systembiolog*innen wie die studierte Physikerin Viola Priesemann vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation oder Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, die mit clever eingesetzter Mathematik der Pandemie seit Monaten immer wieder ein Stück voraus sind. Sie füttern ihre Modelle mit aktuellen Daten zum Infektionsgeschehen und passen akribisch die zahlreichen Einflussfaktoren an, die wie kleine Stellschräubchen in die Algorithmen eingebaut sind.

Zwei kreisförmige Scheiben mit zahlreichen violetten Punkten. Jeder Punkt gibt die Lage einer Zelle in der Scheibe an. Beide Bilder sind nahezu identisch.
Künstliche Intelligenz hilft der Systembiologie: Diese Längsschnitte zeigen, wo im Kleinhirn ein bestimmtes Gen (Neurod1) abgelesen wird. Links sind die Resultate herkömmlicher Experimente dargestellt, rechts das virtuelle Ergebnis. Berechnet haben es Computer, die das Team von Nikolaus Rajewsky programmiert hatte. Sie nutzten molekularbiologische Analysen einzelner Zellen ohne Informationen zu deren räumlicher Lage.

„Wenn in Ländern die Intensivstationen überlastet sind, steigt die Todesrate“, benennt Meyer-Hermann Anfang März auf einer Tagung einen solchen Faktor. Doch das sei nicht der einzige: So würden sich ältere Menschen in Italien, in denen traditionell mehrere Generationen in einem Haushalt zusammenleben, sehr viel leichter anstecken als hierzulande. Solche Dinge müssen die Algorithmen berücksichtigen, sonst wären die systembiologischen Prognosen ziemlich unzulänglich.

Tatsächlich aber waren die Modellierer*innen bislang mit ihrer Vision einer möglichen Corona-Zukunft erstaunlich treffsicher. Dass wir dennoch eine so hohe zweite und nun sogar eine dritte Welle erleben, liegt daran, dass Entscheidungsträger viel zu wenig auf die Systembiologie gehört haben. „Viele gute Maßnahmen haben die erste Welle gebremst“, sagt Meyer-Hermann, aber auf die beginnende zweite Welle sei leider zu spät und nicht intensiv genug reagiert worden: „Wir hatten das den Politikern schon Mitte Oktober gesagt.“

Die Dritte Corona-Welle könnte die höchste werden

Auch in diesen Tagen gibt es Modellrechnungen, die uns helfen würden, der Pandemie voraus zu sein. Ein Team um Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin schreibt in seinem Bericht an das Bundesministerium für Bildung und Forschung vom 19. März: Sollten keine weiteren Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ergriffen werden, dann führe das „nach unseren Simulationen in fast allen Szenarien zu höheren Inzidenzen und einer höheren Krankenhausbelastung als im Dezember 2020“.

Die Forscher*innen haben mehrere Handlungsoptionen durchgerechnet und kommen zu zwei wichtigen Erkenntnissen: Zum einen solle man viel mehr testen: „Nach unserem Modell ist eine Teststrategie, die die Bereiche Bildung, Arbeit und Freizeit im großen Umfang abdeckt, sehr effektiv.“ Zum anderen könne man mit einer „Strategie mit sehr starken Einschränkungen“ – mit einem drastischen Shutdown also – die Fallzahlen rasch und nachhaltig auf sehr geringe Werte senken.

Es bleibt zu hoffen, dass die Politik dazugelernt hat, und dieses Mal auf die Systembiologie hört – auch wenn es in diesen Tagen kaum danach aussieht. Es ist dennoch ein großes Glück, dass die Medizin Infektionskrankheiten bereits so gut versteht und mit Impfungen oft effektiv bekämpfen kann. Der Verlauf einer Pandemie ist deshalb vergleichsweise leicht auszurechnen. Bei den allermeisten anderen Leiden – vor allem bei den vielen komplexen Volks- und Alterskrankheiten – ist das noch nicht einmal im Ansatz der Fall. Doch auch dieses Dilemma beginnt die Systembiologie bereits zu lösen.

„Präzisionsgesundheit und -medizin erreichen derzeit eine neue Ära“ (Michael Snyder et al.)

„Präzisionsgesundheit und -medizin erreichen derzeit eine neue Ära“, schreiben die Autor*innen um den US-amerikanischen Genetiker Michael Snyder in einer viel beachteten Studie aus dem Jahr 2019. Über acht Jahre hinweg hatten die Mediziner*innen aus Kalifornien eine Gruppe von 109 Menschen mit einem erhöhten Risiko für Typ-2-Diabetes regelmäßig untersucht. Viermal jährlich erfassten sie den Lebensstil und die Verfassung der Proband*innen. Zudem wendeten sie die neuesten biomedizinischen Analyse-Techniken an.

Das mag zwar noch nicht die ausgereifteste systemorientierte Variante der Medizin sein, aber es ist ein ambitionierter Versuch, mit Hilfe von Netzwerkanalysen das heute bereits Machbare bei der systemischen Erfassung der Biologie von Menschen umzusetzen. Die Forscher*innen bezeichnen ihren Ansatz als Präzisionsmedizin. Damit betonen sie, dass ihre Analysen und potenziellen Therapien so genau wie möglich auf die Menschen abgestimmt sind.

Unterstützung der Gesundheit statt Bekämpfung der Krankheit

Die Testpersonen trugen tragbare Sensoren, die deren Herzfrequenz, Aktivität und Schlafverhalten überwachten. Sie gaben regelmäßig Blut-, Stuhl- und Urinproben ab, machten Belastungstests und wurden am Herzen untersucht. Auch die gängigen Früherkennungstests für Krankheiten absolvierten sie immer wieder. Dabei wurden die Proben mit so genannten Omik-Techniken untersucht. Es wurde also erfasst, welche Genvarianten vorlagen (Genomik), welche Gene besonders aktiv waren (Transkriptomik), wie das Immunsystem arbeitete (Immunomik), welche Proteine die Gewebe erzeugten (Proteomik), wie die Zusammensetzung der Mikroben im Darm war (Mikrobiomik) und in welchem Zustand sich der Stoffwechsel der Menschen befand (Metabolomik). Gleichzeitig setzten sie Computerprogramme zur Auswertung der Daten ein.

Und wozu das Ganze? Snyder und Kolleg*innen sind überzeugt, ihr Ansatz habe „das Potenzial zur Unterstützung der Gesundheit“. Wohl gemerkt: Hier geht es um die „Unterstützung der Gesundheit“, nicht mehr um die Bekämpfung von Krankheit. Das ist natürlich ein hoch gestecktes Ziel. Es ist anders als es klingt aber nicht esoterisch, sondern wissenschaftlich fundiert. Die bislang erreichten Ergebnisse sind daran gemessen zwar eher gering. Aber darum geht es in dieser und in einigen bisher veröffentlichten vergleichbaren Studien nur zum Teil. Man möchte vor allem zeigen, wie eine systembiologische Gesundheitsbegleitung aussehen könnte.

Dass durchaus schon eine Menge möglich ist, zeigt eine Studie von Forscher*innen um Eran Segal vom Weizmann Institute of Science in Rehovot, Israel. 800 Personen trugen eine Woche lang Messgeräte, die ununterbrochen den Blutzuckerspiegel erfassten. Die Forscher*innen werteten schließlich die individuelle Reaktion des menschlichen Stoffwechsels auf 46 998 Mahlzeiten und Snacks aus.

Die erste Überraschung: Die Reaktion war hochindividuell. Jeder Mensch spricht auf jede Art von Speise oder Getränk anders an. „Universelle Ernährungsempfehlungen haben womöglich einen begrenzten Nutzen“, schreibt das Team.

Die KI ist genauso gut wie eine menschliche Ernährungsberatung

Die zweite Überraschung: Die Israelis sammelten neben den Blutzuckerwerten auch noch Angaben zum Ernährungsverhalten, der körperlichen Aktivität, der allgemeinen Verfassung sowie dem Mikrobiom der Testpersonen. Mit all diesen Daten fütterten sie eine KI. Diese fand verborgene Muster in den großen, diffusen Datenmengen und spuckte einen Algorithmus aus, der erstaunlich gut abschätzen konnte, wie die Proband*innen auf eine bestimmte Art der Ernährung reagieren würden.

Verließen sich die Proband*innen wie früher nur auf die Angaben zu Kalorien oder Kohlenhydraten auf der Lebensmittelpackung, war die Vorhersagekraft für den späteren Blutzuckeranstieg nur etwa halb so gut wie bei dem neuen Algorithmus. Die Beziehung der Daten zueinander stieg von etwa 0,35 auf rund 0,7.

Zur Bestätigung des Modells zeigte das Forscherteam, dass der neue Algorithmus bei hundert weiteren Testpersonen, deren Biologie, Lebensstil und Ernährung dem Team unbekannt war, genauso gut rechnete. Und schließlich belegten Segal und Kolleg*innen auch noch, dass Menschen, die sich nach den Vorgaben des Computers ernährten, genauso deutlich von den Empfehlungen profitierten, wie eine Vergleichsgruppe, die ihre Ratschläge von menschlichen Ernährungsberater*innen erhielten.

Die Blutzuckerschwankungen verringerten sich um das Zweieinhalbfache. Dabei wusste übrigens niemand, wer die Ratschläge des Computers und wer jene eines Menschen erhielt. Zu Guter Letzt veränderte sich allmählich sogar die Zusammensetzung der Darmflora der Testpersonen in eine gewünschte Richtung.

Die Umwelt verändern – für unsere Gesundheit

Eine weitere Erfolgsgeschichte der Systembiologie ist die so genannte AIR Louisville Studie. In der Stadt im US-amerikanischen Bundesstaat Kentucky besitzen 1147 Testpersonen, die an Asthma oder der Lungenkrankheit COPD leiden, einen speziellen Notfallspray-Inhalator. Dieses Gerät misst per GPS-Empfänger seine Position und sendet sobald es wegen einer Atemnot-Attacke benutzt wurde, Angaben über die Uhrzeit und den Ort an einen Großrechner.

Dank der so ermittelten 1,2 Millionen Datenpunkten konnten Systembiolog*innen kalkulieren, wann und wo das Asthma-Risiko in Louisville am höchsten ist und welche äußeren Faktoren dazu beitragen. Daraus leiteten sie verschiedene Maßnahmen ab, um die Umwelt der Menschen für deren Gesundheit zu verändern. So sperrten sie einzelne Durchgangsstraßen für den LKW-Verkehr und pflanzten zahlreiche neue Bäume, damit sich die Luftqualität verbesserte. Das überzeugende Resultat: Die Inhalatoren kamen 78 Prozent seltener zum Einsatz, und die Patient*innen erlebten fast doppelt so viele Tage ohne Asthma-Symptome wie früher.

Eine futuristische Grafik zeigt einen Mann mit ausgestreckten Armen vor einem Hintergrund voller kreisförmig angeordneter technischer Zeichnungen.
„Die Medizin, die Krankheiten behandelt, wird abgelöst werden von einer Medizin, die unsere Gesundheit steuert.“ (Peter Spork über das Thema seines neues Buchs: Die Systembiologie)

Trotz derart positiver Ergebnisse, bleibt die berechtigte Skepsis vieler Menschen vor dem Datenhunger der Systembiologie. Was geschieht mit der steigenden Zahl von irgendwo im riesigen Internet oder auf unbekannten Datenservern gespeicherten Gesundheitsdaten? Zu leicht könnten die sensiblen Informationen missbraucht werden.

Außerdem lässt sich wohl kaum jemand gerne vom Computer vorschreiben, was er oder sie tun oder lassen soll? Damit die Systembiologie wirklich eine Erfolgsgeschichte werden kann, sollte die Gesellschaft schon heute damit beginnen, solche Fragen zu diskutieren und nach Lösungen zu suchen.

Daten schützen und gezielt einsetzen

Erste positive Ansätze existieren bereits, wie etwa die Schweizer Genossenschaft MIDATA. Die Nonprofit-Organisation betreibt seit 2015 eine möglichst sichere Datenplattform und verwaltet die Gesundheitsinformationen treuhänderisch für ihre Datenspender.

Die Nutzer*innen stellen dieser Plattform ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung und haben immer das letzte Wort, was mit den Informationen geschehen soll. Denn MIDATA garantiert laut Satzung „die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger über die Verwendung ihrer Daten“. Eines Tages sollen die Datenspender*innen sogar mitentscheiden dürfen, welche Fragestellungen die Wissenschaft mit Hilfe ihrer Informationen beantwortet.

Längst ist klar: Der technische und der wissenschaftliche Fortschritt werden nicht aufzuhalten sein. Die entscheidende Frage, die sich angesichts der Systembiologie also stellt, ist nicht etwa, ob sie unser Leben eines Tages verändert, sondern: Was können wir schon heute dafür tun, dass es für uns alle eine Erfolgsgeschichte wird?

Hintergrund

Die Vermessung des Lebens: Das neue Buch von Peter Spork

Nicht auszudenken, wie viele Krankheiten gar nicht erst entstünden, gäbe es für jeden von uns eine personalisierte Gesundheitsmedizin, die uns auf dem individuellen Weg durchs Leben begleitet und mit steten unterschwelligen Veränderungen dafür sorgt, dass wir kaum noch krank werden und langsamer altern. Das klingt utopisch, und wird dennoch in den kommenden Jahren ein Stück weit Realität. Die Wissenschaft der Systembiologie vermisst das Leben und berechnet Prognosen für eine mögliche Zukunft. Kennen wir diese Prognosen, können wir sie auch durch unser Handeln in der Gegenwart verändern. Wir werden freier sein und unsere Gesundheit aktiv steuern.

Weltweit forschen Wissenschaftler*innen mit Hochdruck daran, den menschlichen Körper ganzheitlich zu verstehen, von der kleinsten Zelle bis zum gesamten Organismus, von der Psyche bis zum Umwelteinfluss. Mit moderner Technik und neuen Algorithmen entschlüsseln Systembiolog*innen die unfassbar vielen Stoffwechselvorgänge und Verhaltensmuster, die unsere Existenz ausmachen. Ihre Erkenntnisse wachsen täglich – und werden die Medizin revolutionieren.

Je besser wir wissen, wie Krankheiten entstehen, desto eher können wir sie verhindern. In seinem neuen Buch zeigt Peter Spork, welche Chancen diese zukunftsweisende Wissenschaft für jeden von uns birgt: Schon bald werden wir in der Lage sein, unsere eigene Gesundheit und Fitness zu steuern, sodass wir besser gegen chronische Krankheiten geschützt sind und das Altern verlangsamen.

Peter Spork: Die Vermessung des Lebens. Wie wir mit Systembiologie erstmals unseren Körper ganzheitlich begreifen – und Krankheiten verhindern, bevor sie entstehen, 328 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2021, 24,00 EUR [D], 24,70 EUR [A], ISBN: 978 3 421 04850 9.

Eine exklusive Leseprobe finden Sie hier.

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